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II.
Adjunkt Quillander doziert, und Adjunkt Möbius ist zerstreut

Das Grand-Hotel Pedersen lag da, wie es fünfunddreißig Jahre gelegen war, an einer grauen Querstraße zum Rathausplatz; mit einer grauen, fensterreichen Fassade, mit einem vergoldeten Namen über dem Tor und mit einer kleinen Weinstube im Keller. Es hatte seit der Zeit des seligen Pedersen oftmals den Besitzer geändert, ohne darum seinen demokratischen Namen aufzugeben. Ursprünglich ein Hotel für bessere Provinzler, war es schon längst dazu übergegangen, von Handelsreisenden und schwedischen Studenten bewohnt zu werden. Vor zehn Jahren war Adjunkt Quillander ein treuer Gast des Hotels gewesen und hatte es mit Gesang erfüllt, als wäre es ein Lerchennest. Die Gewohnheit ist der unabsetzbarste aller Tyrannen, und gerade jetzt verkündete daher die Fremdentafel des Grand-Hotel Pedersen, daß es seit zwei Tagen die Adjunkten T. Quillander, I. Schorn und P. L. Möbius aus Brostad, Schweden, zu seinen Gästen zählte.

Denn natürlich waren sie nach Kopenhagen gefahren. Möbius' seltsame, ewig gesegnete Lust, das Leben zu sehen, konnte nur auf eine Art befriedigt werden: durch eine Reise nach Kopenhagen; das hatte ihm Quillander sofort versichert. Da – das dachte er, aber er sagte es nicht – waren die Damen heiter und freundlich und konnten sich eines Mannes wie Möbius annehmen. Und natürlich drückte der Schuh in diesem Punkte: Eine Dame von etwas größerer Jugend und Freisinn als Tante Lundén; Quillander billigte ein solches Begehren. Er wußte bei sich, daß er alles tat, um es zu befriedigen, wenn er Möbius nach Kopenhagen brachte.

Die Abreise hatte gewisse Schwierigkeiten verursacht. Es galt Tante Lundén zu überlisten. Möbius' Mut bäumte sich vor der Aufgabe. Schließlich log er in einem Briefe eine Geschichte von einem Besuche bei Verwandten zusammen, gab ihn auf der Station auf und reiste ohne Gepäck ab.

Vorher war ein neuer Wechsel mit der Inschrift P. L. Möbius, Adjunkt, ausgestellt worden. Möbius behob ihn selbst, damit die Bank kein Aviso schickte. Aber Quillander übernahm die Kasse.

»Du bist ja nicht gewöhnt, mit Geld umzugehen, lieber Freund. Früher einmal, als wir als Studenten hinüberfuhren, war ich immer Kassier. Aber brauchst du etwas, so sage es mir nur. Knauserig bin ich bei Gott nicht.«

Möbius nickte still. Der neue Wechsel lautete auf elfhundert. Damit glaubte Quillander Möbius' Entree ins Leben finanzieren zu können. Der frühere Wechsel, der des denkwürdigen Abends, war auf achthundertundfünfzig gewesen. Möbius hatte Aussicht, wenn er noch nicht gefährlich lebte, es in drei Monaten zu tun. Aber Möbius dachte nicht an Geld. Er lebte in Visionen all dessen, das dalag und auf ihn wartete. Er sah die Alleen der Boulevards, große Restaurants, Theater. Er sah Menschen im Lichte flammender Bogenlampen; ein Gewühl von fremden Gesichtern, hauptsächlich Frauengesichtern. Solange seine Visionen sich auf andre Dinge beschränkten, fühlte er nur eine große Sehnsucht; als die Frauengesichter auftauchten, bekam er Angst, er fühlte gleichsam eine Hand ums Herz und hatte Lust umzukehren. Sie glitten an ihm vorbei – blasse, undeutliche Gesichter mit großen Augen, die nach Dingen fragten, die er nicht verstand. Es gingen Schwerter durch seine Seele. Er zählte die Stunden. Manchmal war es ihm, als kröchen sie dahin, manchmal stürmten sie davon. Und plötzlich war er in Kopenhagen, mit Quillander und Schorn.

Schorn war mitgekommen, als wäre das ganz selbstverständlich. Möbius hatte ihn nicht eingeladen, aber auch nicht abgelehnt. Gleich nach der Abreise deutete Schorn an, daß er seinen Anteil später begleichen würde, und Möbius nickte still und zerstreut.

Adjunkt Quillander ging in seinem Zimmer im Grand-Hotel herum und machte Toilette. Schorn, der schon angekleidet war, saß da und sah zu, während er gedankenvoll den Hals seiner Morgen-Pilsnerflasche mit dem kleinen Finger reinigte. Es gehörte zu Quillanders Kopenhagener Gewohnheiten, Zuschauer bei seinem Lever zu haben. Er gurgelte mit dem Geknatter eines Repetiergewehrs und stellte dann das Wasserglas weg.

»Ah!« sagte er. »Kopenhagen! Und ein solches Wetter! Hast du gesehen? Heute frühstücken wir auf der Nimbschen Terrasse.«

Adjunkt Schorn leerte zustimmend die Pilsnerflasche.

»Möbius kommt gleich. Er ist nur fortgegangen, um sich rasieren zu lassen.«

Quillander spannte den Kragen um seinen breiten Hals.

»Was hältst du von Möbius?« fragte er plötzlich.

Schorn sah mit philosophischen Froschaugen vor sich hin.

»Er ist ganz nett,« sagte er schließlich.

»Das ist er,« sagte Quillander, »wenn man ihn näher kennenlernt. Ich muß sagen, ich hätte nie im Leben geglaubt, daß er unterschreiben würde. Ich verstehe noch heute nicht, wo ich die Courage hernahm, zu ihm hinaufzugehen. Eigentlich ist er nämlich geizig, verstehst du.«

»Hm,« sagte Adjunkt Schorn.

»Ja! Leute, die nichts mit Geld zu tun haben, sind immer geizig. Sie sind wie verhext, wenn sie Geld sehen. Darum erweise ich ihm einen Gefallen, wenn ich ihn unterschreiben lasse.«

Adjunkt Schorn riß seine melancholischen Froschaugen auf.

»Ja, wenn etwas passieren sollte und er dann eine große Ausgabe auf einmal hat, lernt er dabei gleich, seinen latenten Geiz zu überwinden.«

Adjunkt Schorn sah Quillander an, während er seine Jacke ausbürstete und sie anzog.

»Du bist ein wirklicher Freund für deine Freunde,« sagte er. »Ich wußte nicht, daß ich deine Papiere zu meinem eigenen Besten unterschreibe. Ich glaubte, es sei, um die ökonomische Weltkatastrophe zu beschleunigen.«

»Guten Morgen, lieber Freund, guten Morgen! Hast du so halbwegs geschlafen? Und was sagst du zu diesem Wetter?«

Adjunkt Möbius war hereingekommen, gut gekämmt, schön geputzt, in einem grauen Sakkoanzug, der ihn jünger erscheinen ließ, als er war. Wäre nicht das kleine Spitzbärtchen gewesen, man hätte ihn für einen frischgebackenen Studenten halten können. Er lächelte geistesabwesend zu Quillanders Frage.

»Entschuldige, daß ich gestern abend so früh müde wurde,« sagte er. »Ich bin nicht gewöhnt, so lange aufzubleiben, du weißt ja, jetzt bin ich ganz munter und ausgeruht.«

»Das freut mich,« sagte Quillander, »du siehst übrigens ein bißchen bläßlich aus. Jetzt wollen wir frühstücken. Ich habe mir ausgedacht, daß das auf der Nimbschen Terrasse geschehen soll. Hast du etwas dagegen?«

»Durchaus nicht. Wo liegt die Nimbsche Terrasse?«

»Neben dem Tivoli. Wir können draußen essen. Das ist natürlich teuer, aber das macht doch nichts. Ich bin fertig.«

»Tivoli?« sagte Möbius. »Dort waren wir ja gestern abend. Dieser Garten mit all den Frauen?«

»Ganz richtig. Aber jetzt am Vormittag brauchst du keine Angst zu haben. Jetzt sind nur Kindermädchen da. Wollen wir also gehen?«

Möbius zuckte zusammen. Mit Quillander an der Spitze gingen sie durch den langen muffigen Korridor des Grand-Hotel Pedersen. Während Quillanders Kehle eine Serie von Tönen bei dem Gedanken aussandte, daß sie bald eine andre Aufgabe haben würde, dachte Möbius an den gestrigen Tag.

Am allerersten Tag war er noch zu wirr im Kopfe, um eigentlich zu bemerken, wohin Quillander ihn führte. Während des gestrigen Tages begannen die Konturen der großen Stadt sich zu klären. Er hatte Boulevards, Parks, Plätze, Restaurants gesehen, er hatte sogar auf sein ausdrückliches Verlangen ein Museum zu sehen bekommen; er hatte gegessen und getrunken und Musik gehört; aber am Abend war alles in einem bunten Lichtnebel verschwunden: Tivoli. Die Frauengesichter waren an ihm vorbeigeglitten wie in seinen Träumen, blaß und rosig, das Haar in schweren Wellen, mit Augen, die in seine blickten, voll Fragen nach Dingen, die er nicht verstand. Wie in seinen einsamen Visionen war er erschrocken, hatte eine Hand um sein Herz gespürt, hatte die Flucht ergreifen wollen.

Schließlich führte Quillander ihn in ein Konzertcafé, das voll Frauen war. Da verlor er vollständig das Bewußtsein. Plötzlich kamen zwei Mädchen an den Tisch und sprachen Quillander an. Waren das gefallene Frauen? Er war zu unerfahren, um diese Behauptung zu wagen. Aber wenn sie es nicht wären, wären sie doch wohl nicht so von selbst gekommen? Er starrte sie an, bis sie hellauf lachten, worüber er errötete, worauf sie nur noch mehr lachten. Er blieb den andern zuliebe noch ein bißchen sitzen. Dann stand er auf und verschwand unbemerkt, seine Knie zitterten nach der ausgestandenen Spannung. Draußen angelangt, reute es ihn. Sollte er zurück? Dort drinnen war etwas von dem, wonach er sich gesehnt hatte. Nein, dachte er, nein, und begann, von eigenen Gedanken erfüllt, kreuz und quer durch das Tivoli zu gehen, nein. Er war so herumgegangen, bis die Uhr zwölf zeigte und das Tivoli geschlossen wurde; dann ging er noch weiter durch die Straßen; als er endlich ins Bett kam, war es ihm unmöglich zu –

»Charmant, charmant!« hörte er Quillanders Stimme. »Krevetten auf Eis, Radieschen, Gabelbissen, Eidamer Käse, Emmenthaler, Bier und Branntwein. Genau so soll es in einer christlichen Familie aussehen. Wenn mein Onkel binnen kurzem seine Augen schließt, was Gott verhüte, werden Sie, Svenson, weil Sie uns dies so flink serviert haben, mein Haushofmeister. Pugiles ingemiscunt … Die Faustkämpfer seufzen, nicht weil es schmerzt, sondern weil durch das Hervorstoßen des Lautes der ganze Körper in Schwingung versetzt wird – ah!!!«

Möbius sah sich auf einer breiten schattigen Veranda vor einem schneeweiß gedeckten Tisch. Unter ihm lag ein großer Park, das Tivoli, wie er wußte; die Kindermädchen saßen da mit ihren Wagen; die Soldaten kamen zu den Kindermädchen hin und sagten: stehe auf, nimm dein Bett und folge mir nach; eine kleine Melodie kam aus dem Glockenspiel des Rathausturmes gerieselt; es war zwölf Uhr. Quillander saß ihm gegenüber mit einem erhobenen leeren Branntweinglas und einem Gesicht, das vor Seligkeit strahlte. Auch Schorns melancholische Froschaugen hatten einen feuchten Glücksschimmer. Ein Kellner hielt sich diskret lächelnd im Hintergrund.

»Du hast vergessen, Ex zu trinken, lieber Freund,« sagte Quillander. »Das läßt sich nicht entschuldigen, aber ich verzeihe dir, weil ich dir zugetan bin. Nur die unteren Klassen hassen die Personen, die ihnen in ökonomischen Dingen Freundliches erwiesen haben. Die Oberklasse verzeiht ihnen. Hingegen verzeihe ich dir nicht, wenn du diese Krevetten hier nicht kostest. Solche Tiere sind im ganzen Schwedenland nicht zu finden.«

Möbius nahm sich von den kleinen rosafarbenen Krevetten. In diesem Augenblick kam eine dänische Gesellschaft herein, zwei Herren und zwei junge Damen in hellen Sommertoiletten. Sie plauderten und lachten; als sie an dem schwedischen Tisch vorbeigingen, fixierten sie den Adjunkten Quillander in seinem blauen Sakkoanzug, aber eine der jungen Damen maß Möbius mit einem langen, ruhigen, freundlichen Blick. Möbius rückte ein wenig auf seinem Platz, aber erwiderte den Blick. Als die dänische Gesellschaft sich gesetzt hatte, beugte er sich über den Tisch vor und sagte unsicher:

»Es ist merkwürdig mit den Frauen in Dänemark. Sie sehen einen so an – es ist, als ob sie unsere Schwestern wären, und dabei –«

»... und dabei sind sie's doch nicht,« sagte Quillander. »Deine Worte sind von ehrfurchtgebietender Wahrheit. Sie sehen uns an, mit ruhig erhobener Stirn, aber haben sie ein Recht dazu? Ich bestreite es. Willst du hören, was mir gestern abend passiert ist, nachdem du fortgegangen warst?«

»Was denn?« Möbius saß zerstreut da und sah die junge Dänin am andern Tisch an.

»Ach,« sagte Quillander mit einem Seufzer, »wie recht hatte nicht der alte Cicero, als er sagte: Die Menschen werden mit der Wollust gefangen wie die Fische mit der Angel. Homines voluptate sicut pisces – jawohl! Ich war gestern abend ein Beispiel für die Wahrheit seiner Behauptung. Erinnerst du dich an das schwarze Mädel, das im Pavillon auf uns zukam? Wenigstens hast du sie so angesehen, als wolltest du sie dir für ein andermal merken. Warum bist du übrigens verduftet?«

»Ich war müde,« murmelte Möbius.

»Schade. Nicht, daß sie eine so besondere Bekanntschaft wäre, aber aus anderen Gründen wäre es vorteilhaft gewesen … weißt du, was ich heute früh entdeckte? daß die Kasse futsch war. Aus diesem Gesichtspunkt wäre es viel günstiger gewesen, wenn du –«

»Die Kasse futsch!« Adjunkt Schorn fällte die Gabel wie ein Bajonett, starrte Quillander an und atmete so tief, daß seine roten Blutkörperchen den Tag als einen Werktag angestrichen haben dürften. Quillander warf ihm einen verdrossenen Blick zu und blinzelte geniert zu Möbius hinüber. Möbius schien kaum gehört zu haben, was er sagte. Er sah unaufhörlich zum anderen Tisch hinüber.

»Na, nicht die ganze Kasse, nur was ich bei mir hatte … Hm. Ich pflege immer einen Teil beim Portier zu deponieren. Das stärkt den Kredit, wenn man späterhin genötigt sein sollte, zu pumpen. Man ist ja kein heuriger Hase. Man ist doch nicht das erstemal unter Leuten.« Quillander wurde im Sprechen immer selbstsicherer, und ohne merkliche Befangenheit fischte er ein längliches Heft aus seiner Brusttasche.

»Das hat man ja noch Gott sei Dank … Du begreifst, unter den gegebenen Verhältnissen müssen wir etwas unternehmen, damit wir nicht vielleicht morgen oder übermorgen hier festsitzen.«

Er schob das längliche Heft sowie eine Füllfeder Schorn hinüber. »Trassiere du, so indossiert Möbius, so akzeptiere ich. Immer mir den gefährdetsten Posten! Der Feldherr zögerte nicht, die Truppen mit seinem eigenen Leibe zu decken. Aber er tat es gern, denn er liebt die Truppen, und zum Wahrzeichen dessen bringt er euch die Blume. Skål!«

Schorn nahm die Füllfeder und schrieb, mit einem vieldeutigen Blick auf Quillander. Er schob das längliche Heft Möbius hinüber, der die Feder nahm und schrieb, fast ohne hinzusehen. Die Feder streikte einmal; er schüttelte sie und schrieb noch einmal. Quillander, der alle seine Bewegungen mit glotzenden Augen verfolgt hatte, riß das Heft an sich, bevor er noch recht fertig war.

»Ah!« sagte er. »Jetzt schicke ich das heute noch an die Bank, dann haben wir das Geld übermorgen telegraphisch. Ihr habt es gut, ihr wißt nichts von der Geschäftsplackerei. Die ladet ihr ruhig mir auf. Svenson, noch ein Viertel! Ich fühle, daß mein Antlitz leuchtet wie das des Gottesmannes Moses, und die junge Dame dort drüben fixiert mich auch, wenn sie nicht gerade Möbius ansieht, aber zum Teufel, ich kann mir doch keine Serviette um den Kopf winden wie Moses. Nach diesem Schinken, Svenson, wünschen wir persica apparata, zubereitete Pfirsiche und ein Glas Portwein – ja, ja Pêches Melba, ganz richtig, Sie verstehen mich, Svenson, Sie sind eine Zierde Ihres Standes, Segen und Erfolg wird Ihre Tätigkeit begleiten.«

Als Möbius mit seinem Pfirsich fertig war, erhob er sich.

»Ich komme bald wieder,« sagte er, »sonst könnt ihr ja im Hotel Bescheid hinterlassen.«

»Wohin begibst du dich?«

»Ich gehe in die Glyptothek,« sagte Möbius. »Und dazu hast du wohl keine Lust?«

»Bist du wahnsinnig? Wenn man vor einer ganzen Flasche solchen Portweins sitzt! Omnia mea mecum porto – omnia ganze, porto diese Portweinflasche, mea ist mein, mecum und ich gedenke sie mitzunehmen – innerlich, wohlgemerkt.«

Die Adjunkten Quillander und Schorn nippten an ihrem Portwein und sahen ihren Freund verschwinden, wohlgekämmt, wohlgeputzt, in seinem grauen Sakkoanzug, in dem er aussah wie ein neugebackener Student. Sie ahnten nicht, wie und unter welchen Umständen sie dem Adjunkten Möbius das nächstemal begegnen sollten.


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