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XII.
Sch! Sch!

Das Schicksal, pflegte der zynische Philosoph Sofainetos zu sagen, wenn ein Schankwirt ihm den Kredit verweigerte, hat zwei Arten, die Menschen zu verderben: ihnen das, was sie wünschen, zu versagen und es ihnen zu gewähren.

Durch eine Folge von Jahren hatte das Schicksal oder die Vorsehung dem Adjunkten Möbius die Versuchungen versagt, an denen er seinen ethischen Wert erproben und seinen Willen schleifen wollte, und er hatte sein Leben verfehlt gefunden. Plötzlich hatte es ihm gewährt, was er wünschte: und es war kein Zweifel, daß er nun sein Leben total verfehlt fand. Sein ethischer Wert war analysiert und gleich Null befunden worden; seinen Willen hatte der Schleifstein verzehrt wie ungehärtetes Metall; er war gefallen, total. Er hatte falsches Zeugnis abgelegt vor Herrn Stewén, er hatte gestohlen, indem er den Verbrechern stehlen half, er war ein Lügner und ein Dieb; das stand fest, das ließ sich nicht fortdeuteln. Blitzartig sah er, wie er seit dem Fall in Roskilde sich selbst einmal ums andre belogen hatte, um sich von seiner Schuld reinzuwaschen. Ja, lange bevor er zum Lügner vor andern wurde, war er ein Lügner vor sich selbst gewesen. Er hatte sich selbst Vorträge über alte und neue Auffassung der Gebote des Sittengesetzes gehalten: nun war kein Raum mehr für solche Auslegungen. Eines war klar, nach dem Sittengesetz wie nach andern Gesetzen: er war ein Lügner und ein Dieb. Das war das Resultat dessen, daß er seit dem ersten Fall, den er für so unbedeutend angesehen hatte, stets auf seiner Hut gegen die Versuchungen gewesen war! Er, der auf die Verbrecher herabgesehen hatte, war jetzt ihr Kamerad und Genosse, das ließ sich nicht aus der Welt schaffen; das war er.

Allerdings, er hatte Frau Zingel widerstanden, aber das bereitete ihm heute womöglich noch weniger Befriedigung als gestern. Es erschien nahezu unwesentlich.

Adjunkt Möbius saß auf seinem Bettrand, den Kopf in den Händen, und grübelte über ein Wort von Paulus: Wer zu stehen glaubt, sehe zu, daß er nicht falle. Zwischendurch grübelte er auch über ein Wort des dicken Hoff-Jensen. Wie hatte doch Hoff-Jensen vor ein paar Tagen gesagt? »Wir werden Sie gar nicht um Ihr Ehrenwort zu bitten brauchen, wenn wir Sie loslassen, Sie werden es freiwillig geben.« Jetzt begann er zu verstehen, was der dicke Sophist gemeint hatte. Er war in die Angelegenheiten der Verbrecher verstrickt. Er war ihr Mitschuldiger, ja in den Augen der Polizei vielleicht der Hauptschuldige. Er hatte ja im Kontor der Vanadis seinen Namen angegeben! Warum? Er begriff es nicht; er fluchte der Stunde, in der er auf den Vorschlag der Verbrecher eingegangen war, in der Hoffnung, sie zu überlisten. Eines war gewiß: wenn er jetzt die Verbrecher angab, gab er sich selber an.

Wer kam da über die Treppe?

Die Tür öffnete sich. Es war Vera.

Sie trug ein Tablett, das sie abstellte. Sie blieb stehen, und Möbius fühlte, daß sie ihn ansah.

Er fühlte es, denn er konnte sich nicht entschließen, aufzusehen. Es war, als ob seine Beschämung sich in ihrer Gegenwart noch verzehnfachte. Warum? Sie war ja Peter Schiötts Braut, sie war so gut wie ein Mitglied der Bande. Er dachte nicht daran. Er hoffte nur, daß sie gehen würde.

»Sie scheinen nicht rosig gestimmt zu sein,« sagte sie und ordnete irgend etwas auf dem Tablett. »Was ist denn los?«

Er konnte aus ihrer Stimme nicht klug werden. Sie klang weder verachtungsvoll noch herausfordernd; sie war auch nicht so selbstsicher wie sonst. Eher klang sie angestrengt natürlich. Was würde er in ihren Augen lesen, wenn er aufsah? Herablassung oder Triumph? Er wollte nicht aufsehen.

»Wundert Sie das?« murmelte er, den Kopf in den Händen.

»Was ist denn los?«

»Wissen Sie nicht, was gestern und heute nacht geschehen ist?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»Doch.«

Jetzt war der Ausdruck ihrer Stimme unverkennbar. Sie klang bitter, fast wie seine eigene. Warum? Ihr Bräutigam hatte ja seinen früheren Lorbeeren neue hinzugefügt.

»Es sieht aus, als wären auch Sie nicht so rosig gestimmt,« sagte er, »warum denn? Ihre Freunde haben sich ja heute Nacht ausgezeichnet. Waren es alle drei? Oder nur Perrini und Ihr Bräutigam?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»Sicherlich hat sich Peter am meisten ausgezeichnet.«

»Und trotzdem sind Sie nicht rosig gestimmt?«

Er warf durch die Finger einen verstohlenen Blick auf sie. Er konnte nicht mehr sehen als ihr blaues Kleid und ihre eine Hand. Ihre Finger waren fest geballt. Wieder zögerte sie mit der Antwort.

»Ja, nicht wahr, wie merkwürdig,« sagte sie schließlich mit derselben angestrengten Stimme. »Warum trauen Sie sich denn nicht aufzusehen? Bin ich zu häßlich?«

»Das wissen Sie schon, daß Sie das nicht sind,« sagte er hart.

»Machen Sie Komplimente? Nächste Woche gibt es sieben Sonntage! Das hätte ich von Ihnen nie erwartet.«

Möbius schwieg.

»Und obwohl ich nicht so häßlich bin, trauen Sie sich doch nicht mich anzusehen. Haben Sie vor mir auch solche Angst wie vor Perrini?«

Möbius flammte auf und hätte beinahe den Kopf gehoben, aber beherrschte sich.

»Ich habe keine Angst vor Perrini,« sagte er scharf.

»Hm! H–m–m!«

Sie dehnte dieses Hm in einer unbeschreiblich irritierenden Weise. Aber er wollte nicht aufblicken.

»Ich habe weder vor Perrini Angst, noch vor Hoff-Jensen oder Ihrem Bräutigam,« wiederholte er. »Ich habe nur vor einer Person Angst.«

»Und das bin ich?«

»Sie!« seine Stimme sagte keine Komplimente. »Nein, ich habe vor mir selbst Angst.«

»Hahaha! Was sagen Sie! Vor Ihnen! Dann sind Sie vermutlich der einzige Mensch, der vor Ihnen Angst hat.«

Er biß die Zähne zusammen. Es war dumm, ihr etwas übelzunehmen, sagte er sich. Sie war nun einmal so. Er fühlte ihre Augen durch die Finger hindurch; er fühlte, wie ihr Blick über ihn hin und her glitt, klar, blau, untersuchend, nach einem wunden Punkt fahndend. Er wollte nicht aufblicken.

»Sie glauben, daß ich Angst vor Perrini habe, weil er stark ist,« sagte er. »Ich habe keine Angst vor starken Menschen, ich habe Angst vor mir selbst, weil ich schwach bin.«

»Aha,« antwortete sie langsam in demselben aufreizenden Ton, »aber es gibt doch starke Menschen, vor denen Sie Angst haben? Leugnen Sie nur nicht! Warum ließen Sie sich sonst gestern abend einschüchtern?«

Nun war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Unwillkürlich hob er den Kopf und sah auf. Sie stand vor ihm, genau wie er es sich gedacht hatte, mit funkelnden blauen Augen und einem neckenden Lächeln um die Mundwinkel. Ihre Miene hätte einen Trappisten verlocken können, sich zu vergehen. Er vergaß sofort das Resultat seiner Selbstprüfung und die Demut, die er sich vorgenommen hatte, vergaß alles über einer Sache. Er wollte sich verteidigen. Warum? War ihr Urteil von irgendwelcher Bedeutung? War das nicht sein alter Selbstrechtfertigungsdrang, der wieder auflebte? Er dachte nicht darüber nach.

»Wer hat gesagt, daß sie mich eingeschüchtert haben?« rief er. »Ihr Bräutigam?«

Sie zuckte ein wenig zusammen. Er merkte es, aber nicht, daß es beim letzten Wort geschah. Hätte er schon früher aufgesehen, er hätte dasselbe Zusammenzucken bemerken können.

»Haha,« lachte sie, »also Sie geben zu, daß sie Sie eingeschüchtert haben.«

»Sie haben mich nicht eingeschüchtert! Wenn Ihr Bräutigam Ihnen das gesagt hat, so hat er gelogen. Aber daß man lügt, wenn man …«

Möbius unterbrach sich. Er hatte sagen wollen: aber daß man lügt, wenn man ein Dieb ist, ist ja nicht zu verwundern. Dann fiel ihm etwas ein: er war ja selbst ein Lügner und ein Dieb. Und er hatte sich ereifert, seine Stimme war erregt. Das schickte sich nicht. Demut war das einzige, was ihm ziemte. Sie sah ihn an, plötzlich gedankenvoll.

»Wollten Sie sagen, daß es nicht zu verwundern ist, daß man lügt, wenn man stiehlt?«

Möbius sah das Frühstückstablett an.

»Wollten Sie das sagen oder nicht?«

»Ja … das heißt …«

»Warum haben Sie sich unterbrochen?«

»Es fiel mir ein, daß Ihr Bräutigam …«

»Sie brauchen mir nicht öfter zu erzählen, daß er mein Bräutigam ist. Heute haben Sie es schon viermal gesagt.«

»Ich wollte sagen, daß ich selber …«

»Ich möchte Sie eines fragen: Würden Sie es wagen, Peter selbst oder Perrini zu sagen, daß sie Diebe sind?«

Möbius sah ihr gerade in die Augen. Diese Frage konnte er beantworten.

»Ja!«

»Das glaube ich nicht!«

»Sie können ja fragen, ob ich es nicht schon getan habe. Genau das sagte ich ihnen gestern morgen gerade ins Gesicht.«

»Sie haben sie Diebe genannt?«

»Ja, fragen Sie sie selbst.«

»Sie sagten zu Peter, daß er ein Dieb ist?«

»Ja.«

»Was hat er darauf getan?«

»Nichts.«

»Und Perrini hat auch nichts getan?«

»Er hat einen Revolver gezogen und auf mich gezielt.«

»Hat er geschossen?«

»Nein.«

»Hatten Sie Angst?«

»Ich glaube nicht. Nein.«

»Aber Sie sind auf das eingegangen, was sie wollten! Haha! Reden Sie mir nichts ein! Sie hatten Angst vor dem Revolver. Sie sind ebenso feig wie … Sie sind gerade so wie …«

»Ich bin nicht auf das eingegangen, was sie wollten. Das heißt …«

»Haha! Das heißt, eben doch!«

Möbius seufzte tief auf.

»Ja, ich bin auf das eingegangen, was sie wollten.«

»Was habe ich gesagt? Ein Revolver ist auch so unbehaglich! Sie sind auf das eingegangen, was die Diebe wollten. Sie, ein Geistlicher! Sie, mit Ihrer Ueberlegenheit! Sie, der Sie die Taschen voll Geld haben, obwohl Sie diesen Kirchendiener um fünfzig Oere gebracht haben, Sie nennen Leute Diebe, aber wenn ein Revolver auftaucht, dann lassen Sie mit sich reden. Pfui! Pfui! Pfui!«

Ihre Stimme wurde heftiger und heftiger, während sie sprach, ihre Wangen brannten, und sie sah Möbius mit dem flammenden Blick eines Engels des jüngsten Gerichtes an. Möbius stand stumm und hörte zu, bedauerlicherweise ohne viel Zerknirschung zu fühlen. Es bereitete ihm einen Genuß, den er nicht analysierte, sich von ihr angeklagt und gebrandmarkt zu hören. Er wartete vergebens auf die Fortsetzung und nahm dann selbst das Wort.

»Sie haben recht, ich habe mich überhoben. Ich hatte gehofft, ich würde im entscheidenden Moment widerstehen können. Nun weiß ich, daß ich das nicht kann. Es war dumm von mir, Perrini und – und Ihren Bräutigam Diebe zu nennen. In diesem Augenblick bin ich ebensosehr ein Dieb wie sie. Aber auf jeden Fall will ich eines sagen – ja, so eigensinnig ist der Mensch bei seiner Selbstverteidigung. Als ich ja sagte, war es nicht, weil sie mich eingeschüchtert hatten, sondern weil ich sie an dem hindern wollte, was sie zu tun gedachten.«

Sie schlug ihre blauen Augen auf, so daß er den Eindruck hatte, daß sie sich ihm irgendwie enthüllte.

»Sie wollten sie überlisten?«

»Ja, aber es mißlang mir.«

»Aber Sie versuchten, sie zu überlisten?«

»Ja, aber es mißlang mir, und ihnen gelang es.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann schien sie es sich zu überlegen. Plötzlich tat sie etwas, was ihn aufs höchste verblüffte. Sie setzte sich auf seinen Bettrand und stützte das Kinn in die Hand. Es befand sich nur ein Sessel im Zimmer und der war am vorigen Abend bei Frau Zingels Visite ramponiert worden. Sie sah ihn lange an, ohne daß er daraus klug werden konnte, was sie dachte. Endlich brach sie ihr Schweigen.

»Sie haben wirklich versucht, sie zu überlisten?« sagte sie noch einmal. »Sie hatten keine Angst? Sie haben es versucht?«

»Ja, aber ich sage Ihnen ja, daß es mir mißlungen ist. Die Beamten der Gesellschaft schenkten mir Glauben, und Sie wissen ja, wie es dann kam.«

Sie nickte und sah ihn unverwandt an.

»Nun, und jetzt?«

Möbius zuckte zusammen.

»Was meinen Sie?«

»Ich meine, was gedenken Sie zu tun?«

»Tun? Ich weiß nicht …«

»Sie wissen nicht?«

»Nein. Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich von hier nicht ohne die Erlaubnis der Verbr..., ohne Perrinis und Hoff-Jensens Erlaubnis fortkommen kann. Ich weiß nicht, ob sie gestatten, daß ich fortgehe. Auf jeden Fall vermute ich, daß die Polizei schon auf der Suche nach mir ist.«

»Sie sind ja Geistlicher. Hassen Sie Perrini und – und Hoff-Jensen?«

Möbius atmete tief und schwieg.

»Sie hassen sie!« rief sie, »sagen Sie es nur!«

»Nein,« sagte er endlich … »Ich glaube nicht. Nein.«

»Lügen Sie nicht!«

»Ich glaube, es gibt eine Sache, die man kann, wenn man will. Ich glaube, man kann es vermeiden, zu lügen. Und so wahr ich nicht mehr lügen will, weder andern gegenüber, noch mir selbst, ich hasse sie nicht.«

»Und – und Peter?«

»Warum Ihren Bräutigam mehr als die andern?«

Sie sah ihn rätselvoll an und antwortete mit einer Frage:

»Aber Perrini und Hoff-Jensen haben Sie ja – wie sagten Sie doch selbst – zu einem Dieb gemacht? Und Sie als Geistlicher …«

»Ich bin kein Geistlicher, und ich weiß nicht, ob ich noch weiter Lehrer bleiben kann. Ich bin das geworden, was ich geworden bin, aber es ist nicht durch Verschulden eines andern geschehen. Wäre ich stark gewesen oder hätte ich wenigstens nicht geglaubt, daß ich stark sei, so wäre ich zwar hier ein Gefangener, aber sie hätten mich ebensowenig zum Dieb machen können, als – er sah ihr in die Augen – als ich glaube, daß sie Sie dazu gemacht haben.«

Sie erhob sich halb von der Bettkante.

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, daß Sie ehrlich aussehen. Ich meine, daß ich das vom ersten Moment an gefunden habe, – nein, nicht vom ersten Moment, aber von dem Abend an, als Perrini und – und Ihr Bräutigam zurückkamen.«

Sie klammerte sich an seine Einschränkung.

»Warum nicht vom ersten Moment an?«

Möbius sah zu der Fensterscheibe hinaus, die er am ersten Morgen eingeschlagen hatte.

»Hm – es war wohl das – daß Sie mich reizten. Sie sagten etwas über mich.«

»Ich sagte, daß Sie in derselben Absicht in der Kirche gewesen sein dürften wie die andern. War es das?«

»Ja.«

»Und weil ich das von Ihnen glaubte, hatten Sie sofort eine schlechte Meinung von mir! Warum änderten Sie sie dann an dem andern Abend?«

Möbius sah Christian IX. an.

»Als Sie das von mir sagten, konnte ich nicht anders glauben, als daß Sie – daß Sie solidarisch mit den Verbr..., mit den Leuten waren, die mich hergebracht haben. An jenem Abend hatte ich den Eindruck, daß das nicht der Fall sei.«

»Aber ich bin ja Peters Braut! Sie haben es heute selber sechsmal gesagt!«

»Ja – aber, trotz alledem …«

»Warum trotz alledem?«

Möbius sah sie an, und ganz unwillkürlich sagte er an diesem Tage sein zweites Kompliment.

»Es waren Ihre Augen,« sagte er. »Die sind so ehrlich und« – er suchte nach Worten und fand ein eigentümliches – »und schön.«

Sie machte seinem Kompliment alle Ehre. Sie riß die Augen, von denen er sprach, so auf, bis er den Eindruck hatte, daß man ihm ein Stiefmütterchen dicht vor das Gesicht hielt.

Es sah so aus, als wollte sie wieder in jenes aufreizende Gelächter ausbrechen, das er fürchtete und gleichzeitig liebte. Aber sie hielt inne. Ihr Blick bekam jenen listigen Ausdruck, den er bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte und den er verabscheute.

»Sagen Sie mir,« lächelte sie, »haben Sie so zu Frau Zingel gesprochen?«

»Zu Frau Zingel?«

»Gestern abend – lügen Sie nicht!«

Möbius wurde rot wie ein Hummer. Gerade jetzt hatte er Frau Zingel ganz und gar vergessen. Was meinte Vera mit ihrer Frage? Hatte Frau Zingel erzählt, was gestern abend vorgefallen war? Gab es wirklich Frauen, frech genug, so etwas zu tun? Vera lachte nun das Lachen, auf das er schon ein paarmal vergeblich gewartet hatte. Jetzt bereitete es ihm keinerlei Genuß, nur Qual. Es war nicht so klingend wie sonst; es war kurz und hohnvoll. Eine Stimmung, die Vertraulichkeit glich, war in ihm aufgekeimt, während sie sprachen; sie welkte im Augenblick hin.

»Nun,« sagte sie, »ich brauche nicht zu fragen! Man sieht Ihnen die Antwort an. So, so, Sie sind galant gegen Damen! Das hätte ich nicht geglaubt.«

Sie lachte noch einmal. Möbius sammelte seine zerstreuten Gedanken.

»Sie können mir glauben oder nicht,« begann er, »so – so hatte ich gestern abend den Besuch der Frau Zingel …«

»Insoweit lügen Sie nicht. Sie brachte Ihnen das Essen hinauf, und Sie waren artig und baten sie, Platz zu nehmen –.«

»Das tat ich, aber erst, nachdem sie es mir selbst gesagt hatte.«

»Dann waren Sie anfangs also nicht so galant wie später!«

»Darf ich fragen: Was hat Frau Zingel gesagt, daß ich später getan habe?«

»Warum regen Sie sich denn so auf. Haben Sie etwas getan?«

Sie legte den Kopf schräg und sah ihn wieder mit jenem listigen Blick an.

»Sehen Sie mich nicht so an!« rutschte es ihm heraus. »Ich kann diesen Ausdruck nicht vertragen!«

»So? Darf ich nicht mehr aussehen, wie ich will?«

»Nein! Wenn man ehrlich ist und – und gut wie Sie …«

»Gut! Bin ich gut? Mir scheint, jetzt sprechen Sie aus dem Schlaf.«

»Nein! Ich weiß, was ich sage. Ich habe nicht viele Frauen getroffen, aber soviel weiß ich, daß Sie so sind, wie ich sage. Gut und aufrichtig. Sie sind in – in …«

»In schlechte Gesellschaft gekommen, wollten Sie sagen?«

»Ja, in schlechte Gesellschaft, ganz wie ich selber. Aber Sie sind stark gewesen. Sie haben nicht nachgegeben. Sie sind das, was ich sage. Das sieht man Ihnen an. Darum will ich nicht, daß Sie mich in dieser Weise ansehen sollen. Ich weiß nicht, was Frau Zingel von mir gesagt hat, aber es ist nicht wahr, hören Sie, was es auch sein mag!«

»So! So! Immer langsam voran! Sie leugnen alles im vorhinein! Sie genieren sich nicht!«

»Weil ich glaube, daß ich mir denken kann, was eine Frau wie Frau Zingel behauptet hat.«

»Was meinen Sie damit, eine Frau wie Frau Zingel?«

Möbius zögerte.

»Ich meinte, daß ich einer Frau, die sich so benahm, wie Frau Zingel gestern gegen mich, allerlei zutrauen kann.«

»So?! Hat vielleicht sie Sie verführen wollen?«

Möbius zuckte zusammen, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Das verschlug ihm die Rede. Er konnte sie nur mit weit offenen Augen ansehen. Was war das für ein Wort im Munde eines jungen Mädchens? Blitzartig ging es ihm auf, daß es das richtige Wort war; daß eben das Frau Zingel gewollt hatte, aber was war das für ein Wort! Vera begegnete ruhig seinen Blicken.

»Jetzt glauben Sie gewiß nicht mehr, daß ich – was war das für ein schönes Wort? – gut bin?« sagte sie. »Aber ehrlich, was? Hat sie angefangen? Das hat sie selbst nicht zugegeben. Aber das tut man wohl nie.«

Möbius' Haare suchten sich zu sträuben. Seine Stimme war ihm schon längst im Halse stecken geblieben. Das tut man wohl nie!

»Ich meine, man will es immer einem andern in die Schuhe schieben. Nicht wahr, namentlich wenn es einem mißlungen ist? War das der Fall?«

Mit einer Kraftanstrengung fand Möbius seine Stimme wieder.

»Fräulein Vera,« sagte er undeutlich und flehend.

»Was denn?«

»Sie dürfen mich nicht auslachen – aber ich möchte Sie um zwei Dinge bitten.«

»Was denn? Rücken Sie nur damit heraus.«

»Erstens, daß Sie mir glauben, wenn ich sage, daß ich nicht – daß ich eher – daß ich nie – Frau Zingels …«

»Frau Zingels Reizen erliegen würde?«

»Einer solchen Versuchung erliegen würde. Nein, wie oft ich mich auch selbst betrogen habe – das glaube ich doch nicht, daß ich je so schwach sein könnte.«

»So? Aber sie sieht ja doch hübsch aus, das finden viele. Wenn es ihr bei Ihnen mißlungen ist, so hat sie bei andern mehr Glück, das weiß ich.«

»Aber Sie glauben, daß es ihr bei mir miß... daß ich die Wahrheit spreche?«

Sie sah ihn mit einem kleinen Lächeln an, aber einem Lächeln, das nicht verletzte. Es war beinahe warm, aber zugleich hatte es einen Anflug von Bitterkeit.

»Ja,« sagte sie ganz einfach.

Er las den zwiespältigen Ausdruck in ihrem Blick und glaubte einen Mißton in ihrer Stimme zu hören.

»Habe ich etwas gesagt, das Sie verletzt hat?«

»Warum?«

»Sie sehen mich so – so wunderlich an.«

Sie lachte kurz.

»Wenn jemand etwas Derartiges gesagt hat, so bin ich es. Das war das zweite, was Sie mir sagen wollten! Geben Sie es nur zu! Lügen Sie nicht!«

Er zögerte.

»Sie gebrauchten einige Worte, die – die ungewöhnlich waren …«

»Sie meinen häßlich. Ja, aber Sie müssen meine schlechte Gesellschaft bedenken. Ich selbst bin nicht besser, glauben Sie das nicht!«

Sie lachte sorglos.

Ohne daß er es wußte, machte er den letzten Schritt, der ihn von ihr trennte, und nahm gleichzeitig ihre Hand. Sie gab sie ihm ohne weiteres.

»Fräulein Vera!« sagte er.

Er hörte sich selbst sprechen, aber erkannte seine Stimme kaum wieder. Sie war belegt. Und was waren das für Worte, die er plötzlich fand?

»Fräulein Vera, ich weiß, daß ich unbescheiden bin, aber – aber warum bleiben Sie hier? An jenem Abend sagten Sie, daß Sie Ihren Bräutigam lieben, aber – aber ist das hinreichend?«

»Hinreichend?«

»Ja, lieben Sie ihn genug, um ein solches Leben zu führen? Ich sage nichts Böses über irgend jemand. Aber auf die Länge kann das nicht gehen. Die Entdeckung muß kommen, Gefängnis, Zuchthaus kann kommen. Lieben Sie ihn genug dazu? Ich will niemand verurteilen, dazu habe ich nicht das Recht, aber ich denke an Sie.«

»Warum denken Sie an mich?«

»Weil ich glaube, daß Sie so sind, wie ich gesagt habe – gut und unverdorben.«

»Das bin ich gewiß nicht. Und die häßlichen Worte? Ich kann noch mehr.«

Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, die die ihre hielt.

»Das war eine Dummheit von mir. Antworten Sie mir! Sagen Sie, lieben Sie ihn genug dazu? Können Sie nicht dieses Haus verlassen und – und dieses Leben, bevor es zu spät ist?«

Ohne seinem Blick auszuweichen, stellte sie eine Gegenfrage, die ihn im Augenblick daran vergessen ließ, daß sie seine Frage nicht beantwortete.

»Und mein Vater?«

»Ihr Vater?«

»Hoff-Jensen ist mein Vater.«

Möbius hätte fast ihre Hand losgelassen.

»Er ist Ihr Vater,« stammelte er.

»Jetzt begreifen Sie, daß ich so bin, wie ich bin.«

»Nein – im Gegenteil. Und Frau Zingel? Ist sie Ihre …«

»Nein, nur eine Freundin von ihm. Wir wohnten sechs Jahre im Auslande bis zum vorigen Jahre. Ich weiß nicht warum, aber Vater hat wohl irgend etwas getan, das ihn dazu gezwungen hat. Im November kamen wir heim, und Vater gründete seine Gesellschaft. Perrini kannte er aus dem Auslande, und Peter ist ein Spielkamerad von mir, als ich noch ganz klein war.«

Sie verstummte. Noch hatte sie auf seine Frage nicht geantwortet. Sie sah ihn an. Er sah sie an. Er dachte nicht daran, daß sie nicht geantwortet hatte. Er bot seine ganze Menschenkenntnis auf, um in ihrem Innern zu lesen. Sie sah es, und ein paar Sekunden kam dieser listige Blick wieder in ihre Augen. War sie das, wofür er sie hielt? Irrte er sich? Er starrte sie durchdringend und ängstlich an. Der listige Ausdruck in ihren Augen verschwand ebenso rasch, als er gekommen war. Ein Leuchten kam in ihren Blick, das beinahe mütterlich war. Vielleicht machte es dies, daß er plötzlich ihre andre Hand ergriff und sie vom Bettrande emporzog. Er stand mit ihren Händen in den seinen da, ihre Augen unmittelbar vor den seinen. Sie waren so blau und erwartungsvoll wie die eines Kindes. Nun erinnerte er sich an seine Frage, auf die sie nicht geantwortet hatte. Er fühlte einen starken Druck auf der Brust, der es ihm schwer machte, die Worte zu artikulieren, als er zum zweitenmal fragte:

»Vera, lieben Sie das Leben hier?«

Sie antwortete nicht. Sie sah ihn noch immer an und zuckte schließlich leise die Achseln. Das konnte geradesogut ja wie nein bedeuten.

»Vera,« stammelte er, »Vera, ich weiß nicht, ob ich etwas tun kann – ich weiß nicht, ob Sie wollen, daß ich etwas tue – aber ich möchte – ich möchte, daß Sie glücklich werden und …«

Ihr Mund war halbgeöffnet – wie der eines Kindes, dachte er. Noch immer sagte sie nichts, aber tief innen in ihrem Blick war etwas, das ihn aufforderte, weiterzusprechen. Aber plötzlich konnte er keine Worte mehr finden. Er fühlte, daß er viel zu sagen hatte; daß es sich um ihr Glück handelte; daß er sie glücklich sehen wollte, ganz uneigennützig, weil er wirklich glaubte, daß sie ehrlich und gut war; daß sie nicht unglücklich werden durfte, was immer geschah. Aber in ihm war gleichsam eine schmerzende Leere; er konnte keine Worte für seine Gedanken finden; wo waren sie hingekommen? Suchten ihre Augen ihm zu helfen, sie zu finden? Plötzlich hatte er das Gefühl, als gäbe etwas in seinem Innern nach. Fast ohne daß er es wußte, hielt er zum erstenmal in seinem Leben die Arme um ein weibliches Wesen geschlungen und fand ein paar Worte, aber nicht die unegoistischen, nach denen er gesucht hatte.

»Ich kann mir nicht helfen,« sagte er beinahe stammelnd, »aber ich liebe dich …«

Ihre Pupillen wurden schwarz. Sie bog den Kopf unter dem Griff seiner Hände zurück.

»Ja!« rief er. Er suchte ihren Kopf näherzubiegen. Seine Hände zitterten wie in großer Angst. »Ich liebe dich seit jenem Abend. Ich habe mich auch darüber selbst belogen, aber jetzt kann ich nicht mehr lügen.«

Endlich sagte sie etwas.

»Aber ich bin nicht gut!«

»Doch!«

Er zog sie so ungestüm an sich, daß sie beide im Stehen schwankten.

»Du hast die Versuchungen bestanden, denen ich elend erlegen bin! Ich sehe dich nicht besser, als du bist, aber so bist du. Ich bin deiner nicht wert, aber ich liebe dich!«

»Aber Peter?« murmelte sie. »Ich bin seine Braut. Sie haben es selbst sechsmal gesagt!«

Möbius kannte sich selbst nicht wieder. Er war von einer Stärke und einer Entschlossenheit erfüllt, wie er sie noch nie erfahren hatte. Seine Hände, die sie hielten, zitterten noch immer, nicht aber seine Stimme, als er rief:

»Ich habe keinen Respekt vor seinem Recht, nicht einmal, wenn du seine Frau wärest. Hat er Respekt vor dem Rechte andrer? Liebst du ihn wirklich? Antworte! Wenn nicht, dann gehörst du nicht ihm!«

Ihr Kopf, der die ganze Zeit heftig zurückgebogen war, glitt ein ganz klein wenig näher. Die Ahnung eines Lächelns huschte um ihre Mundwinkel. Noch einmal antwortete sie mit einer Gegenfrage:

»Aber wenn ich nicht ihm gehöre, gehöre ich darum schon durchaus – Ihnen?«

»Ja!« rief der Adjunkt Möbius, – wenn du an mich glaubst. Wenn du glaubst, daß ich dich glücklich machen werde! Glaubst du das?«

»Ich weiß nicht,« murmelte sie und stellte ihre letzte Gegenfrage. »Wen man liebt, den macht man wohl nicht glücklich. Denken Sie, wenn ich Sie unglücklich mache?«

Sie lächelte, als sie dies sagte. So wie Siegfried plötzlich die Sprache der Vögel verstehen lernte, verstand der Adjunkt Möbius mit einem Male sowohl das Lächeln, wie die Antwort, die in ihrer Frage lag. Er fühlte sich plötzlich so stark wie Perrini. Ihr Widerstand war nur dazu geschaffen, von seiner Stärke besiegt zu werden; und im nächsten Augenblick geschah etwas, das dieselben Gefühle bei zwei im übrigen ganz verschiedenen Personen hervorgerufen hatte – Herrn Peter Schiött und Fräulein Lundén in Brostad.

 

»Der 'at ' eidenangst! A-a-a! Polissei, Gefängnis, a-a-a! Besser, man bleibt bei veräktlike Einbruksdiebe! Er ist feiger, als ik nikt geglaubt 'abe.«

Perrini schlug sich mit der Hand klatschend auf seinen Schenkel. Peter Schiött lächelte zustimmend. Hoff-Jensen schüttelte sich wie ein Elefant, der aus einem Bassin herausklettert.

»Hm,« gab er zu. »Ja, ich bin erstaunt. Er scheint einen ordentlichen Schreck bekommen zu haben. Das heißt –«

»Das heißt,« wiederholte der junge Schiött.

»Es könnte ja noch eine andre Erklärung geben!«

»So? Welche denn?«

»Daß er bleiben will, um uns nachzuspionieren.«

Perrini setzte sich auf. Aus Peter Schiötts Gesicht verschwand das boshafte Lächeln.

»Der!« rief Perrini. »Der 'at zu großen Respekt vor Revolvér. Und ihn zu sehen, man würde nikt sagen ein Spion! Er 'at Angst, das ist das Ganze.«

»Er ist feige, das ist das Ganze,« bekräftigte Peter Schiött.

Hoff-Jensen sah den jungen Schiött mit noch stumpferen Tintenfischaugen an als sonst.

»Als ich jung war,« sagte er, »war ich auch eifersüchtig, aber ich habe meine Nebenbuhler nie verachtet. Das ist dumm.«

Schiött sah aus, als hätte er nicht übel Lust, seinem zukünftigen Schwiegervater eine Ohrfeige zu geben. Hoff-Jensen kam allen Protesten zuvor.

»Nein, du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, das weiß ich! Nein! Ich habe nur so dahergeredet! Aber dieser Abend hat vielleicht nicht günstig auf deine Aktien eingewirkt.«

»Dieser Abend! Was von dem, was sich an diesem Abend zugetragen hat? Meinst du die Geschichte in der Vanadis oder – oder –«

»Oder die Geschichte mit Frau Zingel?«

»Ja, was meinst du?«

»Beides. Die erste negativ, die zweite positiv. Frauen sind so eigentümlich! Manchmal lieben sie einen nicht mehr, weil man ihnen untreu ist. Faktisch, Tatsache.«

Es sah aus, als wollte Schiött heftig antworten, aber nach einem Augenblick besann er sich.

»Diese Art Dinge verstehe ich besser als du. Und über die erste Angelegenheit möchte ich dich bitten, nicht mehr zu sprechen. Diese Sache werde ich morgen abend in der Villa reparieren.«

Perrini, der mit jener gelangweilten Miene zugehört hatte, die er immer machte, wenn das Gespräch sich um Frauen drehte, schlug sich wieder klatschend auf den Schenkel.

»Morgen abend in der Villa!« rief er. »Ja, ja! Er 'atte viel Geld, sagtest du, du dicke Flußpferd?«

»Viel,« bestätigte Hoff-Jensen.

»Viel,« bestätigte Schiött.

»Dann es ist zuviel für ihn,« entschied Perrini kategorisch. »Und er ist Svede. Wie Möbius und dieser Lindell! Morgen abend in der Villa!«

»Morgen abend in der Villa!« bekräftigte Schiött verbissen. »Schade, daß Sie nicht dabei sein können, Herr Direktor. Ich habe Lust, zu zeigen, was ich kann.«

Hoff-Jensen sah ihn mit seinem stumpfesten Blick an.

»Ich will sehen, was du kannst,« sagte er, »ich werde mit dabei sein.«

»Mit dabei sein! Du mit deinem dicken Bauch! Du bist wohl verrückt!«

»Mit dabei! Wieso?« schrie Perrini.

Hoff-Jensen schloß fromm seine beiden Tintenfischaugen.

»Die Vigilia,« flüsterte er, »die Vigilia

Ein schriller Aufschrei, ein dumpfes Grölen und ein vergnügt prustendes Lachen hallte plötzlich durch Frau Zingels Speisesaal, und drang vorbei an dem wachsamen Nero hinauf in das grüngestrichene Dienstbotenzimmer des Hauses. Hätte der Adjunkt Möbius lange Ohren gehabt, so hätte er darauf ein dreifaches: »Morgen abend in der Villa!« hören können.

Aber der Adjunkt Möbius stand vor dem Spiegel und rasierte sich den Bart ab.


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