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IX.
Adjunkt Möbius und das neunte Gebot

Hatte Adjunkt Möbius das neunte Gebot übertreten? Er grübelte die halbe Nacht und den ganzen Morgen darüber nach.

Eine Stimme in ihm sagte ja. Andre Stimmen nein. Es war richtig, daß Vera mit Schiött verlobt war, daß sie Schiött seine Untreue verziehen, daß sie ausdrücklich zugegeben hatte, daß sie sein war. Ja sogar zweimal. In ersticktem Flüsterton. Adjunkt Möbius empfand ein wunderliches Gefühl für sie. Er fürchtete, es war das, was das Sittengesetz unter Gelüste nach einem Weibe versteht. Es war das erstemal, daß er ein solches Gefühl empfand; er appellierte an Krafft-Ebing, Forel und Sidenius' Ethik, um Klarheit über dessen Natur zu gewinnen. Jetzt, wo es darauf ankam, konnte er sich nicht recht an ihre vielen Beschreibungen und Definitionen erinnern; um nicht in Haarspalterei zu verfallen, beschloß er, das Aergste für gegeben zu halten und anzunehmen, daß das Gefühl, das er empfand, Gelüste nach Vera war. Hatte er also das neunte Gebot übertreten?

Er gab zu, daß es wie Haarspalterei aussehen konnte, das zu fragen, wenn er doch zugestand, daß es ihn nach Vera gelüstete. Aber eine Stimme in ihm hatte ihn auf eine Sache aufmerksam gemacht. Mit wem war Vera verlobt? Mit Peter Schiött, einem Einbruchsdieb, einem Verbrecher. Tat das nichts zur Sache? fragte die Stimme. Doch, sagten sofort andre Stimmen in ihm, ja, sicherlich, das verändert die ganze Sachlage. Nein, sagte eine andre, hartnäckige Stimme, nein, das verändert die Sachlage nicht, keineswegs. – Ja, aber Peter Schiött ist ein Verbrecher! – Möglich, aber gab dieses, daß Schiött die bürgerlichen Gesetze übertrat, dem Adjunkten Möbius das Recht, die Sittengesetze zu übertreten? – Nein, das eigentlich nicht … Nein, vielleicht nicht … Ja, vielleicht doch.

– Nein, absolut nicht, sagte die eigensinnige Stimme, und es kann auch keine Rede davon sein, daß der Adjunkt Möbius das Recht hat, Vera zu begehren. – Eine neue Stimme mischte sich plötzlich ins Gespräch. Vera begehren! Ja, begehren im gewöhnlichen Sinne, das nicht, aber wenn er seine Gefühle in den Dienst höherer Zwecke stellte. Das ist etwas ganz andres. Dann kann man nicht von Gelüste im Sinne des neunten Gebotes sprechen. Dann handelt man im Gegenteil, von einem höheren Gesichtspunkte gesehen, nach diesem Gebot, nicht gegen dasselbe. Man muß bedenken, daß Vera wahrscheinlich rein und gut ist, während Schiött nicht nur ein Verbrecher gegen die bürgerlichen Gesetze ist, sondern sicherlich auch ein schlechter, verderbter Mensch. Das darf man nicht außer acht lassen, und wenn Adjunkt Möbius das im Auge behält und seine Gefühle in den Dienst höherer Zwecke stellt, hat er sich absolut nicht gegen das neunte Gebot vergangen.

Diese letzte Stimme war so ausdauernd wie ein Redner im ungarischen Abgeordnetenhause. Adjunkt Möbius lauschte ihr aufmerksam und nickte schließlich Beifall. Das Sittengesetz ist kategorisch und gesteht keine Ausnahmen zu; das war richtig, aber eine andere Sache war, daß man sich nach seinem Geist richten mußte, nicht nach dem Buchstaben. Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Er hatte das neunte Gebot nicht gebrochen, und er war herzlich froh darüber. Es wäre bedauerlich gewesen, wenn sein zweiter Fall so rasch auf den ersten gefolgt wäre, namentlich, wo er doch auf alles vorbereitet war. Aber wie dem auch sein mochte, er wollte sich noch gründlicher vorbereiten. In diesem neuen Leben – er wollte es nicht das wirkliche Leben nennen, das er hatte sehen wollen, aber neu war es – wucherten die Versuchungen nur so wie Champignons in einem Treibhaus. Möbius bekam von Frau Zingel, die ihn stumm, mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen, fixierte, sein Frühstück auf das Zimmer. Gegen Ende des Frühstücks kam Hoff-Jensen herauf, um ihn abzuholen. Möbius folgte ihm zerstreut. Auf dem Hinunterweg fand er Nero bösartiger denn je.

»Er kann Perrini nicht vertragen,« erklärte der Koloß. »Perrini tritt ihn, wie er nur zur Tür hereinkommt. Na aber, zum Teufel! Kusch! Was willst du? Verräter der Tiere, Schmarotzer des Menschen, was willst du?«

Nero watschelte ihnen entgegen, mit roten Stoppsignalen in beiden Augen, äußerst ungeneigt zu mündlichen Verhandlungen. Er schnupperte mit geiferndem Maul an Hoff-Jensens Hosenbeinen; der dicke Sophist sah ihn an, wie die Opfer des antiken Nero ihren Herrn angesehen haben mögen, zitternd, so daß sein Bauch wogte. Plötzlich stieß Nero einen so tiefen Seufzer aus, als ob alles Leid der Welt auf ihm ruhte, und drehte Hoff-Jensen und Möbius verachtungsvoll den Rücken. Hoff-Jensen rettete sich mit einer Gelenkigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, ins Speisezimmer. Möbius folgte ihm. Im Speisezimmer saßen Schiött und Perrini.

Möbius fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er sie sah. Schiött war ja den ganzen Morgen Gegenstand seiner Reflexionen gewesen. Ahnte er, um was diese sich gedreht hatten? Niemand konnte es sagen. Sein Gesicht war verbissen und kalt; er grüßte überhaupt nicht. Perrini saß mit gekreuzten Armen da, nach Napoleon modelliert, und starrte aus zwei leeren, schwarzen Augen vor sich hin. Er erhob sich bei Möbius' Eintritt.

»Ah! Da ist er!« sagte er. »Du 'ast zu lange gebraukt, um ihn 'ereinzubringen.«

»Dieser Nero,« sagte der Koloß zornig. »Ich glaube, die Bestie ist nicht bei Trost. Eines schönen Tages beißt er mir noch die Hosen entzwei.«

»Sei froh, wenn er sick damit begnügt. Du bist feiger, als ik nikt geglaubt 'abe. Ein 'und!«

»Ich bin nicht feig, aber was soll man mit einem Hunde anfangen?«

»Ihn treten, er lauft.«

»Fällt ihm gar nicht ein. Er hat mich schon beim Bein, bevor ich es noch heben kann.«

»Weil er weiß, du bist feig, des'alb. 'unde sind geßeit.«

»Schöner Trost.«

»Genug von 'und, fangen wir an!«

Schiött sprang auf, als hätte er Möbius bisher nicht gesehen, und verbeugte sich mehrere Male hintereinander sehr tief. Möbius fixierte ihn und strich sich den Bart mit derselben Geste, wie wenn er an einem Schüler der vierten Klasse ein Exempel statuieren wollte. Schiött zog einen Stuhl herbei.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Adjunkt?«

Möbius blieb stehen und wandte sich an Hoff-Jensen.

»Darf ich fragen, was ich hier zu tun habe?«

»Wir wollten mit Ihnen über eine Sache sprechen,« sagte der Dicke, beinahe einschmeichelnd.

»Gedenken Sie mich loszulassen?«

»Hm! Im Augenblick nicht, es handelt sich um etwas andres.«

»Ich habe mit Ihnen dreien über nichts andres zu sprechen. Selbst wenn man von der theoretischen Moral absieht, ist Ihre Wirksamkeit so direkt gesellschaftsfeindlich, daß –«

»Sind Sie verheiratet, Herr Möbius?«

Möbius erstarrte.

»Aha, Sie sind es nicht. Aber wenn Sie in Ihrem Alter nicht verheiratet sind, sind Sie selbst ein Anarchist und Gesellschaftsfeind. Die Gesellschaft basiert auf der Familie, und –«

»Hören Sie mit Ihren Sophismen auf! Wenn Sie beweisen können, daß Sie sich nicht vor Nero fürchten, werde ich auch das andere glauben, was Sie sagen.«

Aus Perrinis Fauteuil kam ein stumpfes Glucksen.

»Er ist nikt komplettes Idiot! Beweise mir das, du dicke Flußpferd!«

»Das würde ich beweisen,« sagte Hoff-Jensen, »wenn ich ein stoischer Philosoph wäre, aber ich bin ein epikureischer. Herr Möbius, wir haben mit Ihnen etwas zu besprechen.«

»Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Wenn es nicht das ist, daß Sie mich zu befreien gedenken, gehe ich wieder.«

Hoff-Jensen zögerte. Der junge Schiött machte eine vorwurfsvolle Handbewegung.

»So laßt Herrn Möbius doch gehen! Wir können ihn doch nicht gegen seinen Willen halten.«

Möbius gab nicht die Antwort, die nahegelegen wäre, da diese Antwort sich an Schiött gerichtet hätte. Er ging auf die Tür zu und hatte schon die Hand auf der Klinke, als er ein schrilles Kichern von Schiött hörte.

... Nero!

Das Blut stieg ihm in die Wangen. Nero war vor der Tür, ganz richtig, und in seiner jetzigen Laune würde er die Passage sicherlich heroisch verteidigen. Er hatte Visionen von zerbissenen Beinkleidern, blutenden Gliedern und einem Zuschauerkreis, der sich an den Leiden des Märtyrers und dem Auftreten des neuen Nero in der Arena weidete. Aber dem Kichern des jungen Schiött konnte nur in einer Weise begegnet werden. Er drückte die Klinke nieder. Er hörte Nero über den Steinboden heranschlurfen, rasch befeuchtete er die Lippen und trat hinaus. Im selben Moment hörte er Perrinis Stimme:

»'alt! Er ist mehr mutig, als ik nikt geglaubt 'abe. Genug mit die Spasseteln. 'ole ihn, wenn du nikt Angst 'ast vor die 'und!«

Ohne eigentliches Widerstreben fühlte Möbius Hoff-Jensens fette Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um, aber er konnte es nicht hindern, daß sein erster Blick Schiött galt. Schiött nickte ernsthaft, so, als hätte er sich nun entschlossen, Möbius für einen Carnegiepreis vorzuschlagen. Möbius erstarrte und fixierte Hoff-Jensen abwartend.

»Wir haben mit Ihnen über eine Sache zu sprechen, Herr Möbius.«

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich mit Ihnen nur über eine Sache zu sprechen habe. Gedenken Sie, mich freizulassen?«

»Ja, allerspätestens in ein paar Tagen.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie zu warten brauchen.«

»Die Sache, über die wir mit Ihnen sprechen wollen, Herr Möbius, steht eben mit Ihrer Freilassung im Zusammenhang.«

»So? Lassen Sie mich hören.«

»Ich wußte ja, Sie würden es hören wollen. Die Sache ist nämlich die – aber wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Danke, nein.«

»Sie entschuldigen, wenn ich mich setze? Es ist so heiß. Ja, die Sache ist also die, daß dieses Haus, Frau Zingels Haus, wo Sie Pensionär sind …«

»Gefangener.«

»Wo Sie augenblicklich freie Kost und Logis haben, zu niedrig versichert ist.«

»Gegen Einbruch vermutlich?« Möbius' Ton war so satirisch wie möglich. Wieder sah er unwillkürlich Schiött an. Dieser sprang auf und zeigte mit servilem Grinsen alle Zähne, wie ein Schüler, der gerade darauf gekommen ist, daß der Klassenvorstand einen Witz gemacht hat. Möbius wurde noch eisiger, wie er da mit den Händen in den Rocktaschen stand. Hoff-Jensens Antlitz strahlte.

»Gegen Einbruch,« räumte er ein, »jawohl, gegen Einbruch. Sie wissen ja, die Gesetzlosigkeit greift um sich. Frau Zingels Haus ist zu niedrig versichert, und wir haben beschlossen, eine neue Versicherung aufzunehmen. Wir haben eine Gesellschaft gefunden, die uns solid und respektabel erscheint.«

»Darf ich fragen: Was in aller Welt habe ich mit all dem zu schaffen?«

»Dazu kommen wir schon. Die Gesellschaft, an die wir gedacht haben, ist schwedisch. Wie heißt sie nur gleich? Vanadis, ja Vanadis. Alle schwedischen Gesellschaften sind nach Götzen benannt.«

»Ich sehe noch immer keinen Grund, weshalb ich …«

»Doch, wir wollten Sie bitten, die Versicherungsangelegenheit für uns zu ordnen.«

Was Hoff-Jensens Aufforderungen nicht erreicht hatten, das bewirkten seine letzten Worte. Möbius war so verblüfft, daß er sich setzte. Was in aller Welt meinte der Koloß? Was um Himmels willen hatte das zu bedeuten? Er sollte Frau Zingels Haus gegen Einbruch versichern lassen? Der Gedanke war so grotesk, daß …

»Ich vermute, Sie scherzen?«

»Aber nein, warum denn?«

»Wenn Sie nicht scherzen, sind Sie nicht recht bei Sinnen.«

»Jetzt sind Sie aber unliebenswürdig. Ich scherze nicht.«

»Sie müssen verrückt sein! Warum in Gottes Namen sollte ich für Sie eine Versicherung aufnehmen? Für Sie! Gegen Einbruch! Wenn Sie sich durchaus gegen Einbruch versichern wollen, warum tun Sie es nicht selbst? Warum sollte ich es tun?«

»Weil die Gesellschaft schwedisch ist. Wir sprechen so schlecht Schwedisch. Sie, Herr Möbius, sind Schwede. Sie sind der richtige Mann, diese Angelegenheit zu ordnen.«

»Sie sind nicht recht bei Trost. Wenn die Gesellschaft auch schwedisch ist, so verstehen die Beamten doch Dänisch, wenn sie in Dänemark Versicherungen aufnehmen. Die Gesellschaft ist ja hier etabliert, nicht in Schweden.«

»Ja, sie ist hier. Sie wundern sich, aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon gesagt habe. Wir hatten gehofft, daß Sie mit der Gesellschaft unterhandeln würden. Wir hatten dies ebensosehr in Ihrem eigenen Interesse gehofft wie in unserm, falls Sie mich verstehen.«

»Bedeutet das, daß, wenn ich Ihnen diesen Dienst erweise, Sie mich dann freilassen?«

»Ja.«

»Und sonst?«

»Sonst müssen wir Sie leider hier behalten.«

Möbius fuhr sich unablässig über den Bart. Was in aller Welt sollte das bedeuten? Er wurde frei, wenn er eine Versicherung aufnahm! Natürlich steckte da etwas dahinter, aber was? Er dachte nach, bis sein Gehirn protestierte, aber ohne zu einem Resultat zu kommen. Schließlich richtete er sich auf.

»Gut! Ich habe zwar keine Ahnung, was das ganze zu bedeuten hat. Aber kann ich frei werden, wenn ich eine Einbruchsversicherung für Sie unterzeichne, so werde ich es tun. Soll es jetzt gleich geschehen?«

»Sobald Sie Zeit haben, Herr Möbius.«

»Hm, meine Zeit …«

»Ich bin immer so höflich. Aber bevor wir uns auf den Weg machen, müssen wir Sie über die Einzelheiten informieren. Hören Sie zu!«

Hoff-Jensen rückte seinen Stuhl zurecht. Perrini gähnte befriedigt und streckte sich beinahe horizontal in seinem Fauteuil aus. Der junge Schiött legte sein Gesicht in die aufmerksamen Falten eines braven Schülers.

»Nun also?« sagte Möbius.

»In dem Kontor, von dem wir sprechen, sitzen zwei junge Leute und ein Direktor. Und dann natürlich noch ein paar Tippfräulein. Mit dem Direktor haben Sie nichts zu tun, nur mit den zwei jungen Leuten. Sie sind beide Schweden. Sie sehen, wir brauchen Ihre Hilfe, Herr Möbius. Der eine heißt Lindell, der andre – wie heißt er doch – ja, Stewén.«

»Sie scheinen die Firma genau zu kennen.«

»Man muß vorsichtig sein, Herr Möbius, wenn man sich versichern läßt. Immer gut aufpassen. Ja, der andre heißt Stewén. Ein schöner Name. Mit ihm haben Sie zu sprechen. Sie haben so schöne Namen in Schweden.«

»Soll ich Herrn Stewén zu seinem schönen Namen gratulieren?«

»Warum nicht, und dann sagen Sie ihm Ihren eigenen. Sie sind Herr Möbius und wohnen Villa Bellevue.«

»Ist das die Villa Bellevue?«

»Ja.«

»In Kopenhagen?«

»Nein doch, in Taarebaek. Sie wohnen Villa Bellevue, in Taarebaek, ein großes, schönes Haus, das Sie gegen Einbruch, Brand und so weiter versichern wollen.«

»Aber Herrgott, das Haus gehört doch nicht mir, es gehört doch Frau Zingel.«

»Alles unter unserm Dach gehört Ihnen, Herr Möbius! Frau Zingels Namen sollen Sie nicht nennen, denn …«

»Ick dann sieße mit Revolvér.«

Perrini gähnte seine fünf Worte hervor, die offenbar einen Witz vorstellen sollten, und versank dann wieder in seine wohlzufriedene Lethargie. Seine Augen sahen Möbius an, blank und ausdruckslos wie zwei Kameraobjektive. Möbius erhob sich ruhig.

»Danke, Sie brauchen mir keine weiteren Details mitzuteilen. Ich habe genug gehört. Die Einbruchsversicherung, die ich für Sie aufnehmen soll, täte die Gesellschaft wohl am besten, für ihre eigene Rechnung zu zeichnen. Auf jeden Fall werde ich nicht derjenige sein, der sie für Sie zeichnet.«

»Das meinen Sie nicht, Herr Möbius?«

»Das meine ich.«

»Aber Sie verstehen, daß wir in diesem Falle gezwungen sind, Sie unter unserm Dach zu behalten. Denken Sie an die freie Natur, Herr Möbius, jetzt im Sommer.«

»Ich weiß, was ich denke. Ich muß mich eben dareinfinden, unter Ihrem Dache zu bleiben, auch wenn es gegen Einbruch unversichert ist. Ich muß riskieren, daß noch mehr Einbruchsdiebe unter dasselbe kommen, als schon vorhanden sind.«

Möbius wußte nicht, woher ihm die letzten Worte kamen. Er hatte sie nicht von Anfang an gedacht; sie entstanden ganz von selbst, sie sprangen aus seinem Kopf hervor. Er sah die Verbrecher mit festen, niederschmetternden Blicken an. Wenn man bei sich weiß, daß man einer Versuchung ausgesetzt ist, weiß, daß man sie bestehen kann, fühlt man sich stark. Er brauchte die Stärke, die er hatte, denn im nächsten Augenblick war die Szenerie verändert.

Perrini, der so träge und horizontal in seinem Fauteuil gelegen war, nahm eine plötzliche geometrische Veränderung mit sich vor. Ehe Möbius sich's versah, stand er mit vorgestrecktem Arm da, und Möbius, der bisher in zwei schwarze, fühllose Objektive gestarrt hatte, starrte in ein neues. Der wiederholt erwähnte Revolver hatte Perrinis Tasche verlassen und fixierte Möbius wie ein drittes zyklopisches Auge. Perrinis zwei eigene Augen hatten alle Objektivität verloren. Sie funkelten wie die eines Luchses: die Runzeln seines Gesichtes strahlten in den Augenwinkeln zusammen, wie ein Telegraphennetz in einer Hauptstation. Der Zeigefinger lag krampfhaft auf dem Hahn. Möbius merkte, daß er mit einer Intensität und Schnelligkeit dachte und sah wie nie zuvor. Er sah Hoff-Jensens Zigarre in seinem Mundwinkel sinken; er fragte sich, ob man den Revolverschuß hörte, wenn man erschossen wurde; er sah den jungen Peter Schiött hypnotisiert den Revolverhahn anstarren, plötzlich bleich wie ein Laken.

Er war also noch nicht ganz verhärtet. Wahrscheinlich vergingen nur ein oder zwei Sekunden, bis Hoff-Jensen mit einem verdrossenen Ausruf Perrinis Arm fortschlug und der Revolver in die Luft flog. Möbius merkte plötzlich, daß sein Haaransatz naß war und daß er das Gefühl hatte, als ob ein elastisches Band sich um seine Stirn gelöst hätte.

»Was für einen Sinn soll das haben, Perrini? Kann man nicht als gebildete Menschen miteinander sprechen? Glaubst du, du kannst den Herrn Adjunkten mit dem Dings da schrecken? Der fürchtet sich ja nicht einmal vor Nero.«

»Nein, er ist mehr mutig, als ik nikt geglaubt 'abe,« räumte Perrini philosophisch ein und setzte sich. »Ik wollte tatsäklik sießen. Was 'at er gesagt? Einbruksdieb! Ah, tausend Teixel!«

»Bedenke, daß der Herr Adjunkt so aufrichtig ist, daß man seine Freude daran haben kann. Aber der Herr Adjunkt will uns also nicht diesen kleinen Gefallen erweisen. Was ist da zu tun? Nichts. Wir müssen allein fertig werden.«

Möbius dachte an alles und nichts. Er dachte, daß Schiött erblaßt war, als er Perrini bereit sah, abzudrücken. Er dachte, ob Vera wohl erblaßt wäre, wenn sie von dem Mord gehört hätte. Er dachte nach, ob er selbst große Angst gehabt hatte. Mitten in diesen Gedanken hörte er, was Hoff-Jensen sagte, und da kam ihm ein neuer Gedanke, der ihn von seinem Sitz aufschnellen ließ. Sie wollten allein fertig werden! Der Plan gegen die Versicherungsgesellschaft, worin er nun bestehen mochte, war nicht vereitelt, weil er sich weigerte; sie wollten ihn auch ohne seine Unterstützung ausführen. Wie, wenn er scheinbar darauf einginge und die Gelegenheit benützte, die Gesellschaft zu warnen? Oder war das unmöglich? Er hatte sich dies noch kaum gefragt, als ihm eine neue Seite der Sache zum Bewußtsein kam: wenn sie wollten, daß er ihnen helfe, mußten sie ihn ja ins Freie bringen! Er hatte dann Gelegenheit, die Aufmerksamkeit andrer Menschen auf sich zu lenken, vielleicht durchzubrennen! Diese Möglichkeit war so überwältigend, daß ein dunkler Patriotismus – einer schwedischen Gesellschaft helfen – seine Stimme kaum hören lassen konnte, als sein Entschluß schon gefaßt war. Er wandte sich an Hoff-Jensen, und fand selbst, daß seine Stimme ruhig war, als er sagte:

»Wenn ich nun tue, was Sie sagen, ist es dann sicher, daß ich frei bin?«

Hoff-Jensen sah ihn forschend an.

»Ich habe es Ihnen ja gesagt.«

»Ihr …« Möbius zögerte, »Ihr Ehrenwort?«

»Im selben Augenblick, in dem Sie das ausgeführt haben, was wir wünschen, sind Sie frei – mein Ehrenwort.«

Möbius erhob sich.

»Gut, dann werde ich es tun.«

Perrini grinste boshaft.

»Aber merken Sie sik: Vater kommt mit. Und sein Revolver. Keine Spasseteln mit arme Einbruksdiebe!«

Offenbar bezeichnete er mit dem Vaternamen sich selbst, während Schiött sich das Bubi nannte. Möbius lief ein leiser Schauer über den Rücken. Er sollte den ärgsten von den dreien mitbekommen. Aber wer nicht wagt, gewinnt nicht. Er hatte seinen Entschluß gefaßt; nun galt es, ihn durchzuführen. Er nickte Perrini kalt zu.

»Wann brauchen Sie mich?«

»Wir breken gleik auf – augenbliklik.«

Hoff-Jensen rieb sich die Hände und blinzelte mit den Augen. Er sah aus wie eine große, dicke Fliege, die sich die Vorderbeine putzt.

»Sie hatten recht, Herr Adjunkt, Sie hatten recht! Der Wille ist frei, aber wir wählen früher oder später das, was wir müssen – blitzen Sie mich nicht so an! Ich sage ja, Sie haben recht!«

Zehn Minuten später kam Perrini herein, in einem Chauffeurmantel, über dem Arm einen Autopelz, den er Möbius reichte. Möbius' Entschlossenheit war schon halb und halb verdunstet. Zögernd zog er den Mantel an. Er war viel zu weit, fast wie eine Zwangsjacke, schien es ihm. Er war gerade fertig, da wurde es plötzlich für ihn Nacht, denn Perrini schob behend und ungeniert ein Paar ledergefaßte Autobrillen vor seine Augen. Die Gläser waren aus schwarzem Horn! Perrini nahm seinen Arm und sagte:

»Keine Dumm'eiten maken! Keine Sabernack spielen! 'eute keine Aussikt sehen! Wenn das 'aus ist versikert, wir werden uns Aussikt ansehen!«

Möbius grübelte hastig und verwirrt nach. Hatte er sich in ein wahnsinniges Unternehmen gestürzt? Sollte er nein sagen? Er war ja blind wie ein Ferkel in einem Sack! Aber so blind er auch war, kam er einmal aus dem Hause und in das Kontor der Gesellschaft, dann konnten sie ihn doch um Himmels willen nicht so präsentieren, als ob er eben Blindekuh spielen wollte! Und nein sagen! Weiß Gott, wie Perrini jetzt ein Nein aufnehmen würde. Er war eben noch vor dem Revolver mutig gewesen, aber eine Dakaponummer – und dann war es ja seine Absicht, die Gesellschaft zu warnen … er stieß einen Seufzer aus und folgte Perrini. Ein Gedanke beunruhigte ihn: Nero. Er sollte Nero passieren, als ein hilfloses Bündel, in einer Weise gekleidet, die ihn vielleicht irritierte. Er hätte sich keine Sorgen zu machen gebraucht. Nero kam allerdings im Vorzimmer mit einem unheilverkündenden Seufzer auf ihn zu. In der nächsten Sekunde hörte er ihn am andern Ende des Raumes niederplumpsen, vor Wut aufheulend. Perrini lebte, wie er lehrte, und hatte offenbar kräftige Waden.

Dann öffnete sich die Tür, die eine Woche für ihn verschlossen gewesen war, und er wurde eine Treppe hinuntergeführt.

Er versuchte die Augengläser zu schieben, aber es ging nicht. Sie waren rückwärts befestigt. Er sah gar nichts auf dem Wege vom Hause zum Auto, das er vor der Einfahrt stampfen hörte, und als er es bestiegen hatte, ebensowenig. Er dachte, ob wohl jemand ihn sah und was man von ihm glaubte. Vermutlich, daß er ein armer Blinder war, den gutherzige Menschen auf eine Ausfahrt mitnahmen. Einen Augenblick dachte er daran, zu rufen, aber er gab es wieder auf. Dann sauste das Auto davon. Nach einer unbestimmten Zeit blieb es stehen. Perrini, der ihn die ganze Zeit beim Arm gehalten hatte, öffnete den Schlag und führte ihn über ein Trottoir in ein Haus. Plötzlich wurden die Brillen gelöst, und Möbius starrte geblendet in das Tageslicht. Er sah ein ernstes, steinernes Stiegenhaus, Türen mit Messingplatten und auf der zunächstgelegenen die Inschrift: Vanadis, Assekuranz und Bankgeschäft.

»'ier ist es. Wir gehen jetzt 'inein. Sie sehen zwei junge Leute 'inter ein Pult. Sie wünßen 'err Stewén zu spreken.«

Er schnaufte ein wenig und verschluckte seine H noch konsequenter als gewöhnlich. Es war unverkennbar, daß er erregt war. Möbius war es nicht weniger.

»Sie sagen zu 'errn Stewén: ›Ik bin 'err Möbiús (er betonte die letzte Silbe) aus Sweden; ik wünse zu versikern mein 'aus; mein 'aus ist zu niedrig versikert; man 'at mir Ihre Gesellschaft rekommandiert.‹ Er sagt: ›Jawohl, ist mir ein Vergnügen.‹ Sie sagen: ›Ik komme nur im Vorbeigehen, ik 'abe leider nikt alle Papiere bei mir. 'aben Sie jemand zu sicken?‹ Er sagt: ›Nein.‹ Sie sagen: ›Kann ik Sie später treffen, 'err Stewén?‹ Er sagt: ›Wir können uns treffen morgen.‹ Sie sagen: ›Leider, ik reise morgen in alle Früh nach Kontinent, ik muß erst versikern mein 'aus, ist zu niedrig versikert. Sie können nikt, sade! Ik gehe zu eine andere Gesellsaft.‹ Er sagt: ›Aber es ist mir ein Vergnügen, Sie zu treffen, wann es Ihnen beliebt, Herr Möbiús; um wieviel Uhr, Herr Möbiús?‹ Sie sagen: ›Lassen Sie mik nakdenken, jetzt bin ik besäftigt, dann esse ik Mittag, ik trinke Kaffee, 'aben Sie Lust, zum Kaffee ein wenig zu kommen? Ik 'abe meine Papiere mit, wir fahren dann nak 'ause, wenn Sie wünsen, 'err Stewén.‹ Er sagt: ›Ist mir ein Vergnügen.‹ Sie 'aben verstanden?«

Möbius schluckte. Er hatte verstanden. Er begann zu verstehen. Was sollte er tun?

»Und das Kaffeehaus, wo ich Herrn Stewén treffen soll,« sagte er. »Ich vermute, daß …«

»Café Kaisär.«

»Café Kaiser?«

»Ja. Sie 'aben verstanden das ganze?«

»Ja …«

»Gut. Wir gehen 'inein. Nikt vergessen: Ik bin mit, Revolvär ist mit. Keine Dumm'eiten anstellen, keine Spasseteln, Sie maken Spasseteln – ik sieße! Auto wartet draußen, ik weg! Ernst!«

Man konnte sich nicht darüber täuschen, daß es Ernst war. Das schwarze Gesicht neben Möbius knisterte förmlich vor Elektrizität. Möbius fühlte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Was sollte er tun? Hatte er sich vielleicht doch in ein Unternehmen gestürzt, das seine Kräfte überstieg? Es war seine Pflicht, wie es seine Absicht gewesen, die Leute in der Versicherungsgesellschaft zu warnen, aber wie sollte er das anstellen, ohne daß Perrini es merkte? Perrini hatte vorhin gesagt, er sei mutiger, als er geglaubt habe. Von diesem Mut war nicht mehr viel übrig. Es war nicht Todesfurcht an und für sich, obwohl er sich plötzlich bewußt wurde, daß er sie auch verspürte, es war noch etwas andres – Spannung oder was es sein mochte! Seine Finger zitterten; Perrini zog hastig eine Flasche aus der Brusttasche und steckte sie ihm zwischen die Lippen. Kein Zweifel, daß es eine seiner Lieblingsmarken war, Aalborg schien es, und Möbius war mit einem Male ein andrer Mensch. Er würde es tun; er konnte es tun!

»Es ist gut,« sagte er. »Gehen Sie voraus oder nach?«

Perrini grinste, ohne zu antworten, und öffnete die Tür mit dem Schild Vanadis. Möbius, der aufs äußerste gespannt war, sank unwillkürlich zusammen. Der Raum, in den sie kamen – er voran, Perrini hinterdrein – war eine Art Vorzimmer mit ein paar Stühlen, einem Tisch und einem Spiegel. Es war leer. Möbius' Blick fiel auf den Spiegel, und plötzlich verstand er eine Sache, die er bisher nicht begriffen hatte, warum Perrini und die andern ihn durchaus mithaben wollten und riskierten, daß er falsch spiele. Er erfaßte, was sie dafür nicht riskierten: daß die Gesellschaft sie nicht ernst nahm. Im Spiegel sah er sich selbst im Autopelz; selten hatte er ein solches Bild der Solidität gesehen. Mit seinem Spitzbart, seinem ernsten Gesicht und dem Pelz sah er aus wie ein Bankdirektor. Sogar auf Perrinis schwärzliches Spitzbubengesicht fiel ein Abglanz seiner Erscheinung: er sah aus, als könnte er wirklich das sein, wofür er sich ausgeben wollte – Chauffeur. Kein Zweifel, daß Möbius eine Akquisition für die drei Kompagnons war. Perrini ließ ihm keine Zeit zu weiteren Reflexionen. Er öffnete noch eine Tür und schob ihn in das Bureau der Vanadis.

Möbius' Spannung war zurückgekehrt, aber gleichzeitig fühlte er sich schlapp. Zuerst erschien ihm das Zimmer als ein dicht mit Menschen besetztes Karussell. Nach und nach blieb das Karussell stehen: er sah eine braune, polierte Schranke und dahinter eine Anzahl Pulte. Er sah Damen, die schrieben, er hörte Maschinen, die klapperten. Vor der Schranke war der Raum leer. Ein junger Mann erhob sich und kam auf die Schranke zu, Möbius ging ihm mechanisch entgegen. Einen Schritt hinter sich hatte er Perrini.

Der junge Mann verneigte sich mit einem verbindlichen Lächeln. Möbius verneigte sich steif.

»Mein Name ist Möbius –«

Das rutschte ihm ganz automatisch aus alter Gewohnheit heraus. Das hatte er nicht zu sagen beabsichtigt. Der junge Mann neigte den Kopf.

»Sie wünschen?«

Möbius drehte rasch den Kopf und sah Perrini gerade in die Augen. Der hatte die Lider gesenkt und sein Gesicht ganz regungslos, beinahe servil gemacht, wie es einem Chauffeur ansteht, aber die schwarzen Augen redeten eine Sprache, die Möbius nur zu gut verstand.

»Sie wünschen?« wiederholte der junge Mann.

»Es – hm – es handelt sich um eine Versicherung für ein Haus …«

»Aha. Einbruch? – Feuer?«

»Beides. Das Haus ist zu niedrig versichert, und …«

Möbius fuhr sich über die Stirn. Das hatte er ja gar nicht sagen wollen. Das hatten ja die Verbrecher gewünscht, daß er sage. Der junge Mann vor ihm sprach Schwedisch. Vermutlich war es der erwähnte Herr Stewén. Er sah sympathisch aus, vielleicht nicht allzu begabt. Wie sollte Möbius ihm zu verstehen geben, was er wollte? Vorhin, als er den Schluck Schnaps aus Perrinis Flasche bekam und zur ersten Tür hereintrat, hatte er Pläne zu Dutzenden im Kopfe gehabt; nun war es, als seien sie alle weggeblasen. Was sollte er sagen? Hinter sich ahnte er Perrini, der ihn mit seinen brennenden, schwarzen Augen fixierte. Es war, als dränge sein Blick Möbius in den Nacken. Halb unbewußt, mit Pausen zwischen den Worten, fuhr er fort:

»Das Haus ist zu niedrig versichert, ich möchte gerne bei Ihrer Gesellschaft eine höhere Versicherung aufnehmen. Man hat mir Ihre Gesellschaft rekommandiert. Sie sind Herr Stewén, nicht wahr?«

Er hielt inne. Das war doch zu toll. Er hatte ja nur gesagt, was sie ihm eingelernt hatten. Jetzt mußte er eine Gelegenheit finden, aufpassen –

Der junge Mann lächelte ein wenig überrascht.

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Ah – hm – ein Bekannter hat –« Möbius warf aus dem Augenwinkel einen Blick nach rückwärts; Perrinis Gesicht war starr und intensiv wie früher – »ein Bekannter hat mir von Ihnen gesprochen,« ergänzte er lahm.

»Das freut mich. Haben Sie irgendwelche Papiere mit, Herr Möbius? Der Name war doch Möbius? Nicht wahr? Danke, ja, so glaubte ich zu verstehen. Darf ich um Ihre Papiere bitten, dann kommt unser Vertreter so bald als möglich zur Schätzung.«

Möbius nahm sich zusammen. Jetzt mußte es geschehen.

»Ich habe die Papiere nicht bei mir,« sagte er hastig, »ich kam auf einer Autotour vorbei, aber – aber –«

»Das macht ja nichts. Sie können die Papiere unserem Vertreter geben. Darf ich um die Adresse bitten?«

»Villa Bellevue, Taarebaek,« sagte Möbius zum erstenmal mit seinem Willen. »Aber die Sache ist die,« er suchte nach etwas, das er sagen konnte, »die Sache ist die, ich – ich reise nämlich morgen vormittag nach dem Kontinent – und –«

Wieder waren Perrinis Worte ihm über die Lippen geglitten! Es war, als ob sein Gehirn total gelähmt wäre. Es war ihm unmöglich, einen Gedanken außerhalb des Einregistrierten zu denken. Was war das? Er mußte sich aufraffen, jetzt, sofort!

Der junge Mann zog die Augenbrauen empor.

»Morgen in aller Frühe! Dann eilt es allerdings mit der Versicherung! Morgen früh! Rasche Versicherungen sind unsere Spezialität, aber – ja, Herr Möbius, es tut mir leid, aber gerade jetzt haben wir niemanden, den wir schicken können, sonst hätte sich die Sache schon ordnen lassen. Ich und mein Kollege sind allein im Kontor, außer dem Direktor. Keiner unsrer gewöhnlichen Schätzungsbeamten ist im Augenblick da, und –«

Er hielt inne. Möbius atmete leichter. Ihm war zumute wie einem Jungen, der beim Zahnarzt angeklingelt hat und den Bescheid erhält, der Herr Doktor sei ausgegangen! Wenn der junge Mann sagte, es sei unmöglich, dann! Mir einemmal spürte er im Augenwinkel Perrinis Lavablick. Jetzt sollte er mit dem andern herausrücken, dem Vorschlag vom Café Kaiser und so weiter. Aber er wollte nicht! Nein, er wollte nicht! Er kämpfte mit seiner ganzen Energie, um es nicht zu sagen. Er wollte sich verbeugen, seiner Wege gehen und die Konsequenzen auf sich nehmen – er war im Begriffe, es zu tun, als der junge Mann hinter der Schranke hastig auf seine Uhr sah und sagte:

»Herr Möbius, darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Unsere Gesellschaft ist am hiesigen Platze neu; wir möchten uns gerne einarbeiten, und außerdem, Sie sind ja ein Landsmann.« Er lächelte. »Wenn Sie mich im Laufe des Tages, in meiner freien Zeit treffen können, so wird es mir ein Vergnügen sein, die Schätzung und die Ausfüllung aller Papiere vorzunehmen. Paßt es Ihnen?«

Möbius stand halb betäubt da. Sein Entschluß, dies nicht vorzuschlagen, war so fest gewesen, daß er jetzt, wo der junge Mann selbst es vorschlug, das Gefühl hatte, als täte sich der Boden unter seinen Füßen auf. Seine ganze Willenskraft verschwand, schmolz hin, löste sich auf. Was sollte er tun? Was hatte er zu sagen?

»Wo kann ich Sie treffen?« sagte der junge Mann.

Möbius hörte jemanden sagen:

»Im Café Kaiser. Ich esse dort zu Mittag.«

War er es, der das gesagt hatte? Ja.

»Im Café Kaiser! Brillant! Dann komme ich hin. Es freut mich, Ihnen gefällig sein zu können, Herr Möbius. Um sieben Uhr, halb acht? Paßt das? Ausgezeichnet. Gestatten Sie mir – habe die Ehre!«

Er hatte eine Klappe der Schranke niedergedrückt und Möbius zur Türe begleitet. Möbius schwankte geistesabwesend hinaus. Herr Stewén schloß zu und sagte über die Achsel zu seinem Kollegen:

»Unsere Landsleute sind doch immer gleich, da hast du wirklich recht, Lindell. Der hier sah ja aus wie ein Großgrundbesitzer, aber nach Branntwein roch er meterweit.«

Er trat ans Fenster und sah hinaus.

»Da steigt er in sein Auto. Elegant, das muß man sagen. Aber Teufel, was der für schwarze Brillen angehabt hat. Wer, glaubst du, war der Mensch, der mit ihm drinnen war, Lindell?«

Herr Lindell war rothaarig und auch etwas rotnasig, immerhin bedenklich, da er kaum siebenundzwanzig Jahre zählte. Er spuckte eine Mundpastille aus.

»Chauffeur, vermute ich.«

»So? Das glaube ich nicht. Er stieg, mit dem Schweden unter dem Arm, in das Auto. Der Chauffeur war blond und sah dir ähnlich. Der andere sah übrigens unheimlich aus.«

Während Möbius mit verdunkeltem Gesicht heimwärts rollte, grübelte er unablässig über ein und dasselbe nach: hatte er falsches Zeugnis abgelegt vor Herrn Stewén? Hatte er das achte Gebot übertreten?


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