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XI.
Zwei Herren auf einem Topfdeckel

Es war zehn Uhr, und die Stammgäste des Café »Topfdeckel« begannen herbeizuströmen. Im Souterrain unter dem Kaffeehaus lag das berühmte Varieté »Der Topf«, und die zwei Lokale arbeiteten zusammen, wie Szylla und Charybdis. Wer nicht in den Wirbeln des einen ertrank, ging in den Sturzwellen des andern unter. Der »Topfdeckel« war ein langes Lokal, eine Serie von kleinen Räumen, die an eine Fischreuse mit ihren Abteilungen erinnerten. Jetzt schmetterte unten im »Topf« ein Marsch. Die üppigen Damen, die seit vielen Jahren seine Patronessen waren, lösten sich von ihren Plätzen und glitten in langsamem Strom, wie ein Zug reifer, erfahrener Hechte, mit sanften Schwenkungen der Schwanzflossen in das Kaffeehaus hinauf. Dort teilte sich der Zug; die üppigen Raubfische verankerten sich an ihren üblichen Posten im Lokal; die Opfer der Nacht kamen von der Straße hereingeschlendert, das Spiel konnte beginnen.

In einer der Abteilungen standen zwei Tische einander schräg gegenüber, beide bei der Ankunft der Ueppigen besetzt. An jedem Tisch saßen ein großer und ein kleiner Herr; die Gesellschaft an dem einen Tisch war dänisch, am andern schwedisch. Der dicke Herr in der dänischen Gesellschaft war sehr dick, mit stumpfen, schwarzen Augen hinter Vergrößerungsgläsern, und einem dünnen Schnurrbart über einem schlauen Mund. In seiner Gesellschaft war ein bartloser junger Mann mit blondem Cherubsgesicht. Beide fixierten ab und zu den schwedischen Tisch, der sich unter der Last vieler Flaschen bog, und an dem ein kleiner Herr mit melancholischem Gesichtsausdruck saß. Er war in Begleitung eines Freundes mit einem strengen, priesterlichen Gesicht. Regelmäßig wie eine Maschine machte seine Hand die Runde von dem Eiskübel mit den vier braunen Flaschen zum Glase und weiter zum Munde. Unterdessen sprach er zu seinem lethargischen Freunde, der hie und da ein trauriges Froschauge aufschlug und: Umsteigen, Linie sechs, sagte.

Der Mann mit dem priesterlichen Antlitz ließ sich dadurch nicht beirren. Er skandierte mit lauter Stimme ein Gedicht, das überhaupt kein Ende zu nehmen schien.

»Wo sind sie, die einst dich besessen,
Als die Welt noch umschloß
Tempel der Wollustmessen,
Als Opferblut für dich floß,
Die in Lampsacus' wirrem Getriebe …«

Zwei üppige Damen, die vorbeipassierten, glaubten sich gemeint und kicherten aufmunternd. Bei dem Worte »Lampsacus« schlug der kleinere lethargische Herr das eine Auge auf und murmelte:

»Ich habe geglaubt, Du redest von Möbius? Ist er hier?«

Der andre fuhr unerbittlich fort:

»Und in Aphacas Blutbacchanal
Dir nahten in brünstiger Liebe,
O Madonna der Qual!«

Die zwei üppigen Damen fanden sich nun mit so großer Deutlichkeit gemeint, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war. Sie ließen sich an dem Tisch nieder, sagten guten Abend, winkten einem der dicken Kellner und bestellten im Handumdrehen belegte Butterbrote, Bier und Schnaps. Der melancholische Herr schlug beide Augen auf und rief entsetzt:

»Umsteigen, Linie sechs!«

Sein Freund sah die lächelnden, neuen Gäste düster an und sagte:

»Weh dem, der kein andres Heim hat, als das Kaffeehaus! Was ist das Kaffeehaussofa andres als ein Prokrustesbett zur Verstümmelung der Seele? Bald zwanzig Jahre habe ich mich freiwillig zur Operation hingelegt. Ich bin verstümmelt wie der Lachmensch in Victor Hugo. Aber jetzt muß Schluß sein! Es macht mir keinen Spaß mehr. Es freut mich nicht mehr. Es muß ein Ende nehmen!«

Sein Freund murmelte:

»Ich hätte diesen letzten Wechsel nicht trassieren sollen.«

»Du hättest den Wechsel nicht trassieren sollen?« brüllte der Mann mit dem priesterlichen Antlitz. »Bist du ein Sozi oder bist du ein Humbug? Willst du die ökonomische Weltkatastrophe beschleunigen oder nicht?«

Ein Schauer durchlief den Körper seines Freundes. Plötzlich erhob er sich wie Lazarus in seinen Tüchern und sah in das Lokal hinaus. Ein blaugekleideter Herr kam langsam durch die Mittelpassage der Fischreuse geschlendert. Er hatte scharfe Augen, einen schwarzen Schnurrbart und breite Wangen. In der Hand hielt er einen Hut mit rundem Kopf. Er musterte die Gäste des Kaffeehauses aufmerksam, nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen. Der Tisch schräg gegenüber dem der zwei schwedischen Herren lenkte einen Augenblick seine Aufmerksamkeit auf sich. Bevor er noch den schwedischen Tisch erblickt hatte, erhoben sich die zwei üppigen Damen, die da saßen, wie von dem gemeinsamen Impuls getrieben, abgelegenere Teile des Lokales zu besichtigen. Sie segelten fort, und als der Blaugekleidete sich dem schwedischen Tische zuwandte, sah er nur in zwei melancholische Froschaugen, die gerade jetzt von Glaubenszuversicht leuchteten, und hörte eine rufende Stimme: »Nein! Ich hätte diesen Wechsel nie trassieren sollen! Nein, sage ich, ich hätte es nicht tun sollen, aber ich habe es getan. War es, um die ökonomische Weltkatastrophe zu beschleunigen? Nein! Das sagt nur Quillander. Möbius wird es nie glauben. Nein, das wird er nicht glauben! Alkoholiker aller Länder, verkalkt euch!«

Der Blaugekleidete, der stehengeblieben war, fixierte ihn mit den Augen eines photographischen Apparats. Adjunkt Schorn – denn er war es wirklich – sank sofort über dem Tisch zusammen wie eine geknickte Lilie. Adjunkt Quillander – denn er war es wirklich – erhob sich dafür und sagte ernst:

»Der Mann ist nicht tot, er schläft. Er ist heute abend wehmütig wie ich selbst. Das ist nicht die leise Wehmut der Jugend, die wie ein Tropfen Angostura in einem klaren Schnaps ist, sondern die bittere Wehmut des reiferen Alters und des Wohllebens. Sterben? Schlafen?

»Skål, blaugekleideter Freund, auf dessen Scheitel die Schlauheit und die Wachsamkeit sich mit der Trinklust ein Stelldichein gegeben haben, setze dich nieder, leere einen Becher und kehre ihn dann zu Boden als eine gesenkte Fackel für meinen entschlummerten Freund, Doktor Schorn aus Schweden.«

Der Blaugekleidete beeilte sich, Platz zu nehmen. Sein Blick funkelte. Er trank rasch das Glas aus, das Adjunkt Quillander einschenkte, beugte sich vertraulich zu ihm vor und sagte mit dänischem Akzent:

»Pardon, ich glaube, ich hörte den andern Herrn von Herrn Möbius aus Schweden sprechen. Kennt der Herr vielleicht Herrn Möbius? Er ist ein Freund von mir.«

»Herr Mö …«

Adjunkt Quillander stellte sein Glas nieder und richtete seinen Blick durch sieben Punschschleier auf den Blaugekleideten.

»Herr Mö …, blaugekleideter Freund, du findest mich brütend in einer Wüstenei bestehend aus Flaschen und meinem Freund Schorn, wie eine Eule in den Ruinen Babels. Was sagtest du doch? Ob ich Möbius kenne? Darf ich fragen, kennst du selbst Möbius?«

»Ja, gewiß! Natürlich kenne ich Möbius. Und der Herr? Der Herr kennt ihn auch? Gut?«

Die Wolke, die Adjunkt Quillander umgab, teilte sich langsam wie die Wolke über dem Berge Tabor. Er sah und begann sogar zu denken.

»Hm, ja,« sagte er und schenkte dem Blaugekleideten ein, »das heißt – welchen Möbius?«

»Nun, Herrn Möbius aus Schweden.«

»Ja, aber welchen Möbius? Was ist er denn? Wie sieht er aus?«

»Er ist …«

Der Blaugekleidete fixierte Quillander mit strahlenden Augen, wie um Möbius' Aeußeres hervorzusuggerieren. Da Quillander ihn aber weiter nur mit demselben glasklaren unempfänglichen Blick ansah, sagte er:

»Herr Möbius!! Er ist nicht so groß wie Sie, er hat einen kleinen Bart und ist sehr elegant, er fährt im Auto und hat einen Chauffeur. Kennen Sie ihn?«

Quillander, der sich zu Anfang der Beschreibung aufgerichtet hatte, sank langsam zusammen. Ungewiß aus welchem Grunde, fühlte er sich erleichtert, daß der Möbius des Blaugekleideten und sein Möbius nicht ein und dieselbe Person waren. Es war etwas an dem Blaugekleideten, das ihm Unbehagen einflößte. Ein eleganter Möbius mit Auto und Chauffeur! Warum nicht gleich einer mit einem eigenen Luftschiff?

»Eulenäugiger Freund,« sagte er, »wir sprechen nicht von ein und derselben Person.«

»So? Warum nicht?«

Der Blaugekleidete schien nicht geneigt, die Hoffnung fahren zu lassen. »Gewiß – gewiß ist es dieselbe Person! – Möbius, das ist doch kein so häufiger Name in Schweden, und ich lernte Herrn Möbius in einer schwedischen Versicherungsgesellschaft kennen. Er kam, um sein Haus versichern zu lassen.«

»Möbius? Sein Haus versichern! Mein Freund im blauen Chiton, der Möbius, den ich kenne, ist Lehrer der Religion an einer Schule in Schweden. Arm ist er nicht gerade, aber Hausbesitzer in Kopenhagen, nein! Er kam vor einer Woche zum erstenmal nach Kopenhagen, und drei Tage später ist er wieder nach Hause gefahren.«

Der Blaugekleidete schien vernichtet, als er die Hoffnung, daß sie gemeinsame Bekannte hätten, in Rauch aufgehen sah. Düster trank er sein Punschglas aus, wischte sich den Schnurrbart ab und sagte:

»So! Er ist Lehrer der Religion? Nein, dann kann es doch nicht derselbe sein, nein, dann kann es durchaus nicht derselbe sein.«

Er stierte betrübt in sein Glas. Quillander schenkte es bis zum Rande voll, mit jenem Wohlwollen, das man Menschen zeigt, denen man eine Enttäuschung bereitet hat.

Der Blaugekleidete trank es aus.

»Das Leben ist seltsam,« sagte Quillander, »wir gehorchen Gesetzen, die wir nicht kennen. Die Zahlen des Pythagoras beherrschen uns noch. Warum verleiht man lieber 25 Kronen als 10? Warum leiht man sich lieber 100 Kronen als 50? Warum nimmt man lieber zwei Halbe Punsch als eine? Das ist Pythagoras ' Schuld. Kellner, bringen Sie noch zwei Halbe Punsch.«

Adjunkt Schorn öffnete das eine Auge.

»Das ist nicht Pythagoras' Schuld,« murmelte er, »es ist, um die ökonomische Weltkatastrophe zu beschleunigen. Umsteigen, Linie sechs!«

Die Augen des Blaugekleideten leuchteten verschwommen. Er beugte sich näher zum Adjunkten Quillander vor und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Hat der Herr«, sagte er, »von dem Einbruch in der Gesellschaft Vanadis gehört? Der schwedischen Gesellschaft Vanadis? Das ist eine sehr gelungene Sache. Der eine der Beamten … Sie haben es nicht gelesen?«

»Nein. Was war denn mit ihm?«

»Er ist Schwede. Er heißt Stewén, und ein schwedischer Herr, der … nein, nichts.«

Der Blaugekleidete nahm seine Hand von Quillanders Schulter.

»Nein, es ist egal. Skål!«

Adjunkt Schorn erhob sich plötzlich und rief mit lauter Stimme:

»Oh, ist das ein Leben! Wer sprach da von Möbius? Ich hörte jemand von Möbius sprechen. Man lasse das! Ich ertrage es nicht! Möbius ist Theologe, aber ein ganz honoriger Kerl. Warum habe ich den letzten Wechsel unterschrieben? Das hätte ich nicht tun sollen. Nein! Ich will nach Hause!«

Die schwimmenden Augen des Blaugekleideten klärten sich wie Kaffee, wenn man Fischschuppen hineintut.

»Kennt der Herr Möbius?« sagte er hastig und beugte sich zum Adjunkten Schorn vor.

Adjunkt Schorn fixierte ihn mit einem verächtlich eingekniffenen Auge. »Ob ich Möbius kenne? Warum sollte ich Möbius nicht kennen? Natürlich kenne ich Möbius. Ist Möbius hier?«

Er ließ einen flackernden Blick über den Topfdeckel schweifen und konstatierte, daß, sofern seine Sinne funktionierten, dem nicht so war. »Nein, er ist nicht hier! Hahaha! Wie könnte er hier sein! Er ist ja verschwunden!«

»Was sagen Sie?« rief der Blaugekleidete und rückte noch näher an ihn heran. »Herr Möbius ist verschwunden?«

Adjunkt Schorn war schon auf dem Rückzug ins Nirwana begriffen und ließ sich nicht aufhalten.

»Er ist verschwunden,« murmelte er. »Er verschwand am dritten Tage – und Quillander sagt, daß er nach Hause gefahren ist – aber hi – aber hick –«

In diesem Augenblick beschloß seine Zunge, der antiken Weisheitsregel zu folgen, die einer Zunge gebietet, dem Verstande nicht vorauszulaufen. Adjunkt Schorn schloß seinen Mund und entschlummerte. Gleichzeitig öffnete Adjunkt Quillander, der Pflichten des Wirtes eingedenk, seinen Mund und trank mit dem blaugekleideten Gaste. Adjunkt Quillander sprach, und der blaugekleidete Gast lauschte aufmerksam. Adjunkt Quillander trank, und der blaugekleidete Gast trank etwas weniger. Die beiden pythagoräischen Punschhalben waren versiegt wie Adjunkt Schorn. Adjunkt Quillander fand die Zeit reif zum Aufbruch. Adjunkt Schorn bewegte sich mit dem rollenden Gange, der dem Seemann eigen ist. Der Blaugekleidete half ihm über die schmale Treppe des Topfdeckels. Er half auch die beiden Pädagogen in ein an das Grand-Hotel Pedersen adressiertes Auto placieren. Dann blieb er auf dem Trottoir stehen und murmelte:

»So, so, er fährt morgen aufs Land! Er hat eine Villa in Kildebaek und bittet mich, ihn zu besuchen! Vielleicht tue ich es. Es kann ja sein, daß sein Möbius ein andrer ist, als meiner – aber – na, wir werden sehen!«

Oben im Café Topfdeckel saßen ein sehr dicker dänischer Herr und ein junger Herr mit einem Cherubgesicht noch immer an ihrem Tisch. Sie wechselten bedeutungsvolle Blicke. Der jüngere Herr murmelte:

»Hast du die Banknoten gesehen, die der Dicke bei sich hatte?«

»Ich habe sie gesehen,« sagte sein korpulenter Freund, »und zwar mit Vergnügen.«

»Hast du gehört, daß sie sich eine Villa in Kildebaek gemietet haben?«

»Ich habe es gehört und gleichfalls mit Vergnügen. Wir werden Nachbarn sein.«

»Und hast du gehört, daß sie von Herrn Möbius gesprochen haben?«

»Ich habe es gehört und das beeinträchtigt mein Vergnügen. Nicht daß Holm, der in ihrer Gesellschaft war, ein Detektiv ist, das weiß Gott, aber jetzt kennt er sie und hat den Verdacht, daß sie Möbius kennen. Und auf diese Weise könnte er sich vielleicht an uns heranpirschen – aber Unsinn, das tut er ja nicht!«

In diesem Augenblick kamen die zwei üppigen Damen, die einen Augenblick an dem Tische der Adjunkten gesessen waren, auf die zwei dänischen Herren zu. Sie lächelten sanft und sagten:

»Nein, so was! Das sind ja die reinen Preistrinker! Uns haben sie mit belegten Broten und Schnaps aufgewartet, ja, das heißt, wir konnten es ja nicht an ihrem Tische essen, als dieser Holm hinkam, aber Olsen hat es auf ihre Rechnung geschrieben, und bezahlt haben sie es ja doch!«

Der jüngere Herr mit dem engelhaften Lausbubengesicht nickte billigend.

»Na, das vielleicht auch nicht! Der Dicke hat die Tasche so voll Banknoten, daß sie nur so herausflitzen; der Herr Direktor und ich, wir sprachen eben darüber.«


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