Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Der Weg in die Zukunft

Nun folgte eine lange Zeit des Wartens. Vevi ertrug sie schwerer als ich.

Bald bekam ich meinen deutschen Pass. Kunstmaler und Präsident a. D. Emmaus mit Frau, Sohn und Kinderpflegerin. Vevi hoffte nämlich noch immer, sie würde die mitnehmen können. Der Pass der toten Klaviervirtuosenfamilie brauchte etwas länger, weil die Amtsstempel über den neueingeklebten Photos genau nachgemacht werden mussten. Schmidmaier war ein geübter Retoucheur. Jedes Meisterwerk ist seines Lohnes wert.

Dann konnte mir Kluft mitteilen, dass das Ehrengericht den Zweikampf für unerlässlich erklärt habe. Da beide Teile Guardallo als Unparteiischen wünschten, war es damit einverstanden. Wedepohls Sekundant war Oberleutnant von Perlepsch. Der und Kluft vereinbarten die Bedingungen: Pistolen, Distanz zwölf Schritt, zweimaliger Kugelwechsel. Als Ort der Handlung wurde eine Waldwiese unweit des Sportplatzes Nymphenburg ausgewählt. Zeit zweiundzwanzigster December, morgens acht Uhr, denn es wurde ja erst spät hell.

Kluft meinte: »Niemandem wird etwas passieren. Die Hauptschwierigkeit für Sie wird sein, nach 567 Beendigung des Duells schnell genug zu verschwinden, denn dann sind Sie wieder vogelfrei und der Übunor wird schon auf Sie lauern. Am besten ist, Sie packen Ihre Sachen beizeiten ins Auto, fahren mit Weib und Kind hin, lassen den Wagen in der Nähe warten und dann schnell hinein und fort.«

Ich sah mir am Tag vorher die Waldwiese an. Sie lag nahe der Landstrasse, der Wald war stark ausgelichtet, weite Abstände zwischen den Bäumen. Daneben befand sich eine grosse mit niederen, buschartigen Zwergtannen bestandene Fläche, die zur Fasanenhegung diente, ein baumfreier Wiesenstreifen schloss sich an, dahinter lag der Sportplatz, jetzt im Winter nur selten zum Training benutzt.

Dann besorgte ich mir alle Auto-Landkarten, studierte am Abend die Wege nach der Nordsee zu. Ich erklärte Vevi die Gefahrlosigkeit der Schiesserei, sie glaubte mir zwar nicht recht, aber doch ein bisschen. Wir machten Wagen und Gepäck reisefertig, so dass wir morgens nicht aufgehalten wären, auch die Hotelrechnung beglich ich schon. Wir gingen zeitig ins Bett, schliefen fest.

Wir hatten bestellt, dass wir halb sechs Uhr geweckt werden und dann frühstücken wollten. Das taten wir mit gutem Appetit. Ich prägte Vevi genau ein, dass sie unter allen Umständen ruhig mit Vincenz im Auto an der Landstrasse warten, sich nicht sehen lassen solle, bis ich käme. Sie war sehr tapfer und ruhig. Gegen halb acht Uhr fuhren wir ab, es waren einige Kältegrade, begann ein wenig zu schneien. Im Wagen sagte Vevi auf einmal: »Weshalb machen wir eigentlich diesen Unsinn? Ich verstehe nicht, dass man sich totschiessen lassen soll, weil man beleidigt worden ist. Fahren 568 wir doch einfach weiter und lassen die mit ihrem Duell sitzen.«

Ich erklärte ihr, dass ich das aus Rücksicht auf Guardallo und Kluft nicht tun könne, es würde ihnen sehr schaden, und ihre Freundschaft sei für mich wichtig. Unterwegs mussten wir einmal halten, weil Winz ein Geschäftchen verrichten wollte, so kamen wir als letzte an. Drei Autos standen schon da, ich fuhr unseren Wagen vor die anderen, so dass er später als erster abfahren konnte.

»Erschrick nicht wenn es knallt und bleibe sitzen«, ermahnte ich Vevi, stieg aus und begab mich zum Kampfplatz, wo man, bereits etwas nervös, auf mich wartete. Guardallo hatte den Pistolenkasten neben sich stehen, auch den Arzt hatte er mitgebracht, der zog seinen weissen Kittel über den Mantel, legte Instrumente und Verbandzeug bereit, bedeckte beides mit einem Leinentuch. Ich wurde mit ihm bekannt gemacht, ebenso, sehr förmlich, mit Herrn von Perlepsch, einem blonden Riesen. General Wedepohl würdigte mich keines Blickes, schaute starr durch sein Monokel ins Weite, dem Rauch seiner Cigarette nach. Ich sah ihn zum ersten Mal ohne Orden, in einem einfachen, kurzen, dunklen Uniformjäckchen, das seine mächtige rückwärtige Wölbung frei zur Geltung kommen liess. Seinen Mantel hatte er abgelegt. Kluft sowie Guardallo trugen dunkle Winterüberzieher. Auf Aussöhnungsversuch verzichteten beide Sekundanten. Guardallo liess sie die Pistolen auswählen, nachdem er geladen hatte, die gab dann jeder seinem Kombattanten weiter. »Auf Kommando ›fertig – los‹ ist gleichzeitig zu schiessen.«

Er mass die Entfernung ab, zwölf lange Schritte, 569 fast springend. Nun standen wir uns mit der Waffe in der Hand gegenüber, Wedepohl mit dem Rücken gegen die Fasanenhegung, ich mit dem Rücken der Strasse zu, die Sekundanten in einiger Entfernung neben uns. Guardallo kommandierte laut: »fertig – los!« Unsere Pistolen knallten genau im gleichen Moment, es klang wie ein einziger Schuss. Fasanen flogen schreiend auf. Verletzt war niemand. Wedepohl konnte seinen Fehlschuss offenbar nicht begreifen, flüsterte seinem Sekundanten etwas zu, und der fragte den Unparteiischen, ob die Waffen gewechselt werden dürften. Niemand erhob Einspruch, so tauschten wir die Pistolen, sie wurden frisch geladen, wir nahmen wieder Stellung.

»Fertig – – los!« Wir schossen, ich einige Sekunden später, wieder schrieen die Fasanen.

Erstaunt über den neuerlichen Misserfolg zog General Wedepohl die Augenbrauen in die Höhe, das Monokel fiel herunter. Er bückte sich, um es aufzuheben.

Im selben Augenblick fuhr ihm von hinten ein Blitzstrahl in den prall gespannten Hosenboden. Er schrie laut auf, fiel vornüber. Der Strahl blieb aufrecht stehen, vom plötzlichen Anhalten erzitternd, es war ein langer Wurfspeer aus hellem Holz, die Stahlspitze hatte sich tief ins Sitzfleisch gebohrt, Blut floss auf den dünnen Schnee, der General lag flach auf dem Bauch, mit ausgebreiteten Gliedmassen wie ein überfahrener Frosch, wimmerte.

Zuerst gewann der Arzt die Fassung wieder, sprang herzu, schnitt ein Stück aus der Hose, untersuchte die Wunde, zog den Speer vorsichtig heraus. Alle wollten ihm behilflich sein, brachten das Verbandzeug. Ich begriff nicht, was vorgegangen war, sah aber, dass ich 570 hier nicht mehr gebraucht wurde. »Ist der Zweikampf beendet?« fragte ich den Unparteiischen. »Ja, Herr Emmaus.« »Dann habe ich die Ehre mich zu empfehlen.«

Langsam ging ich fort, unserem Wagen zu.

Ich sah hinter vielen Baumstämmen Übunorer auftauchen, sie beachteten mich nicht, eilten zu dem Verwundeten, suchten mit gezückten Revolvern zwischen den Zwergtannen nach dem Attentäter, feuerten aufs Geratewohl Schüsse ab, erschreckten die Fasanen, die strichen kreischend ab, baumten auf, flogen hin und her, verstärkten die Aufregung. Ich stieg in unseren Wagen. Der Motor war ein bisschen kalt geworden, brauchte eine Weile, bis er ansprang.

»Gott sei Dank«, sagte Vevi, »gut ist's gegangen, nichts ist geschehen.«

»Doch etwas, aber nicht mir. Weiss der Teufel, was es war! Nachher erzähle ich es dir.«

Während wir noch hielten, schauten wir ein wenig der Treibjagd zu; wie eine solche wirkte nämlich das Durchsuchen der Fasanenhegung mit Schiessen, Lärm und Vogelgeschrei. Das dichte Tannengebüsch verdeckte den Übunormännern die Aussicht auf die dahinterliegende Wiese. Sie bemühten sich so eifrig, den Attentäter zwischen den Tannen zu finden, dass sie nicht bemerkten, wie zwei ihrer Leute, Revolver in der Hand, einen Burschen verfolgten, der über die Wiese flüchtete. Er war in einem blauen Trainingsanzug, ein guter Läufer, sie holten ihn nicht ein. Besonders der eine Übunorer blieb mehr und mehr zurück, feuerte im Laufen den Revolver ab, traf aber seinen Kameraden. Der fiel hin, blieb regungslos liegen, scheinbar Kopfschuss. Der geschossen hatte setzte die Verfolgung 571 fort, direkt auf die Landstrasse zu, ein Stück vor uns. Links neben der etwas erhöht liegenden Strasse befand sich ein breiter, sumpfiger Graben, der musste die Flucht aufhalten. Doch mit einem ungeheueren Satz sprang der Bursche hinüber. Der Übunorer machte es ihm nach, hatte wohl die Breite unterschätzt, erreichte das Ufer nicht. Der Sumpf war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die brach wie Glas unter dem Fallenden. Er versank mitten im tiefen Morast, konnte sich aus dem Schlamm nicht herausarbeiten, schon ragte nur noch eine Hand über das zersplitterte Eis, krampfte sich und verschwand. Das Alles war viel schneller vor sich gegangen, als ich es hier beschreibe. Ich hatte unser Auto langsam anfahren lassen, es kam gerade zu dieser Stelle, als der Flüchtende über die Landstrasse lief. Die war auch auf der rechten Seite von Sumpf flankiert, schilfbewachsen, noch viel breiter als auf der linken, unmöglich zu überqueren. Der Läufer hielt inne. Wir sahen ihn deutlich.

»Diana!« rief Vevi und öffnete die Wagentür, winkend. Ich stoppte, Diana sprang herein, und nun fuhren wir schnell weiter. Niemand verfolgte uns, der Vorgang war unbemerkt geblieben.

Diana war nicht einmal der Atem ausgegangen nach diesem Schnellauf und Rekordsprung. Sie drückte Vevi die Hand: »Herzlichen Dank, gnädige Frau! Aber es wird besser sein, Sie setzen mich bald ab. Sie gefährden sich sonst.«

»Unsinn! Wir werden Sie nicht den Hyänen überlassen. Sie müssen bei uns bleiben, je weiter wir uns von München entfernen, desto geringer wird die Gefahr. Wir reisen unter anderem Namen, mit einem Schweizer Pass. Der kann für Sie mit gelten, denn er 572 lautet auch auf eine Kinderpflegerin. Das Kostüm für die habe ich im Koffer. Wir nehmen es nachher heraus und Sie ziehen es an.« Wir fuhren mit neunzig Kilometer Geschwindigkeit. Nach einer Stunde hielten wir an einer geschützten Stelle. Der Kostümwechsel wurde im Wagen vorgenommen, dann verzehrten wir dort Einiges von den Vorräten, mit denen wir uns für lange Fahrt versehen hatten.

»Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte Diana.

»Und Sie das meine, Fräulein Käsbohrer. Der Übunor hätte mich geschnappt, wenn Ihre Tat nicht seine Aufmerksamkeit abgelenkt hätte. Jetzt wollen wir nach Amerika reisen, über Hamburg. Wir brauchen unsere Autofahrt nicht zu übereilen, durch den Schweizer Pass sind wir geschützt, können uns in Ruhe einige deutsche Städte ansehen. Zuerst werden wir in Bamberg übernachten.« –

In Bamberg hat Diana eine Tante besucht, die war Oberin im Kloster der Dominikanerinnen. Bei ihr ist sie geblieben, um ins Kloster einzutreten, vorerst als Novizin.

»Aber Klosterfrauen treiben doch keinen Sport, liebe Diana.«

»Das weiss ich. Ich habe Alles gebeichtet, und meine Tante sagt, ich muss unbedingt auf Seelenheil trainieren. Dort bin ich auch vor dem Übunor sicher, kein männliches Wesen darf je ein Kloster der Dominikanerinnen betreten, und die Aufgenommene verschwindet als Person, bekommt sogar einen anderen Namen, vielleicht Schwester Bibiana oder so. Ich werde für euch beten.«

Vevi und sie küssten sich zum Abschied. Wir sagten ihr herzlich Lebewohl. Dann fuhren wir weiter. 573

In der Dämmerung des Weihnachtsabends machten wir in einem einsamen Tannenwald Thüringens Halt. Wir stiegen aus, befestigten Kerzen auf einem kleinen Baum, sogar Äpfel und Nüsse, die wir bei unserem Proviant hatten, hingen wir daran. Langsam fiel Schnee. Es war eine absonderliche Stimmung. Ein Eichhörnchen wagte sich herbei und holte eine Nuss. Die Lichter brannten, Vevi sang leise: Stille Nacht – heilige Nacht. Winz stand daneben und drückte seinen Teddybären liebkosend an sich, der quiekte und störte die Weihe ein bisschen. Doch es war ein stilles, feierliches Weihnachtsfest, vielleicht noch schöner, als wir es uns gedacht hatten. Dann gingen wir wieder zum Wagen. Ich hatte den Arm um Vevis Hüfte gelegt, sie trug unser Kind auf dem Arm und sprach:

»Anders wird Alles, als es früher war – das ist das Glück.«

 


 


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