Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bei Corietta

Aber was haben Sie gegen die Ehe?« wandte er sich an mich, »ist doch so etwas Liebes! Besuchen Sie uns einmal draussen in Schliersee! Fahren Sie morgen mit mir hinaus!« Ich sagte zu. Ich wusste, dass er seine Anwaltspraxis in Aubing aufgegeben, nahe am Gebirge ein grosses Bauernhaus billig erworben hatte. Die Bibelübersetzung war einträglich, allerdings hatte der Meteor einen sehr hohen Vorschuss bewilligt.

Während der zweistündigen Bahnfahrt erzählte er mir viel von Corietta. Sie habe sich ausgezeichnet in die ländliche Umgebung eingewöhnt, verstehe von der Wirtschaft schon mehr als eine Bäuerin, sorge dafür, dass nichts vertan werde, die Knechte hätten schon aufgesagt, weil sie den Lohn herabsetzen wollte und ihnen kein Bier mehr gab. Ich wunderte mich, dass sie ihre tropische Heimat nicht entbehrte.

»Ja, und denken Sie sich, sie ist garnicht aus Tahiti, sieht nur so aus, weil ihre Grossmutter eine Zigeunerin war. In die hatte sich der Sohn eines oberbayrischen Grossbauern verliebt und hat sie geheiratet. Der Vater hat ihn deshalb verstossen. So ist er mit seiner Zigeunerin nach Penzberg gezogen und hat dort im Kohlenbergwerk gearbeitet, sein Sohn, Coriettas Vater, war auch Bergmann, kreuzbrave Leut', hatten 191 nebenbei ein Kleinhäusleranwesen mit zwei Kühen in Pacht. Es ging ihnen ganz gut. Dann ist das grosse Grubenunglück gewesen, und der Vater und der Grossvater sind dabei ums Leben gekommen. Bald darauf gab es im Stall die Maul- und Klauenseuche und das Vieh war auch hin. Seitdem sind sie mehr und mehr abgeschwommen. Jetzt ist ihnen aufgesagt worden, weil sie die Pacht schuldig geblieben sind. Der Bub mag nämlich nix arbeiten, der Hallodri, und Gusti, die Schwester, ist ein rechtes Mensch. Bloss die Corietta hat gut getan.«

Auf dem Wege vom Bahnhof begegneten wir einer Bauerndirne mit zwei Burschen, die schritten verdrossen daher, beantworteten kaum unser Grüss-Gott.

»Wo geht's denn hin, Leuteln?« fragte sie Huber.

»Musst mit deinem Zigeunermensch schon allein hausen«, brummte der eine, und sie gingen weiter.

»Das sind meine Knechte und die Magd. Sind ja närrisch.«

Er wohnte weitab vom Dorf, einsam zwischen üppigen Wiesen. Das war ein richtiges sauberes Gebirgsbauernhaus, mit Schindeldach, grünen Fensterläden, einer Holzaltane ringsherum im ersten Stock, das Stallgebäude anschliessend. Die schöne geschnitzte Tür war verschlossen, wurde nicht geöffnet. So gingen wir in den Stall, wo wir Corietta, die Kühe melkend, antrafen. Sie begrüsste uns sehr erfreut. Die bäuerliche Tracht kleidete sie gut. Sie berichtete gleich, dass die Dienstleute fortgelaufen seien, die ausgeschamten.

»Musst halt du das Futter holen, Loisl, für das Vieh.«

»Ja, gern, Schatzerl.« Wir setzten uns zusammen 192 in die Stube, tranken ein Glas Milch, assen Schwarzbrot dazu.

»Das backt das Corietterl selber«, sagte Doktor Huber. Dann ging er hinauf sich umziehen. In der ländlichen Kleidung, kurze Lederhose, schwere genagelte Schuhe, kam er bald wieder, eine halblange Jägerpfeife rauchend, begab sich mit Schubkarre und Sense auf die Wiese. Wir blieben zurück in dem echt bäuerlichen Raum mit dem grossen grünen Kachelofen und den Wandbänken. Corietta setzte sich dicht neben mich auf die Bank.

»Zum letzten Male habe ich Sie im Kolosseum gesehen«, sagte ich. »Sie tanzten wundervoll. Aber jetzt haben Sie es schöner.«

»Der arme Loisl konnte ja nimmer schlafen vor lauter Zeitlang nach mir. Jetzt schläft er gut. Kaum ist er im Bett, schnarcht er schon. Da hab ich ausgetanzt.«

»Haben Sie etwa Heimweh nach Tahiti?«

»Tahiti? Ach, du Dummerl!« lachte sie und schlug mir auf den Arm. »Hast du eine Cigarette?«

Sie wollte sie durchaus nicht am Streichholz anzünden, sondern an der, die ich rauchte, hielt mir dazu den Kopf mit beiden Händen fest.

Ich wurde ängstlich, ging mir die Gegend anschauen. Sie begab sich in den Stall, um auszumisten, Cigarette im Mund.

Ich mietete mir unten am See ein Ruderboot. Draussen begegnete ich einem anderen Boot, in dem sass ein städtischer Herr und fischte mit der Schleppangel. Es war Gagino. Ich habe das aber nicht erwähnt, als wir Mittags beim Essen sassen. Die Stimmung war so schon etwas gedrückt. 193

»Bist ein bisserl zu genau mit die Leut, Corietterl, jetzt müssen wir uns die Arbeit selber machen.«

»Aber du, Loisl, du kannst nix als das Geld nauswerfen, und wenn du ein wenig was Gescheidtes arbeiten sollst, nachher bist gleich müd. Ich pfeif dir bald auf deine ganze Landwirtschaft. Meinst du nicht, ich soll heim schreiben, dass mein Bruder, der Xaverl, herkommt und meine Schwester, die Gusti, dass sie uns bei der Arbeit helfen?«

»Nein, wir werden schon wen finden.«

»Ich hab aber bereits geschrieben.«

Dann vorm Haus, beim Kaffee, hatte Doktor Huber gerade gesagt. »Weisst, liebes Schatzerl, wenn ein Gast da ist, hättest du doch ein paar Kaffeebohnen zu dem Gerstenkaffee hineintun können«, da sprang der Dackel mit wütendem Gebell auf ein kleines Bauernfuhrwerk los, das, von einem alten, lahmen Gaul gezogen, vor dem Gartentor anhielt. Ein mürrischer Bauer lenkte es. Darauf befanden sich: eine abgerackerte, bejahrte Arbeiterfrau, ein Mädel, schäbig aber sehr farbenfroh gekleidet, besonders der Hut war ein Prachtstück, drei kleine, schmutzige, weinende Kinder, ein Kinderwagen, ein schadhafter Koffer, ein Waschkorb, Kisten ohne Deckel, mit verwahrlostem Hausrat angefüllt, ein Kanarienvogel im Käfig, ein gerahmtes Heiligenbild. Ein junger Bursche, der wie ein Vorstadtzuhälter aussah, schob sein Fahrrad, sagte zu dem Fuhrmann: »Der Doktor Huber wird dich schon zahlen, fehlt sich nix, jetzt hilfst mit abladen.« »Jessas, und ihre Bamsen hat sie auch mitgebracht, die Gusti! Seids aussi geschafft worden aus eurer Villa? Ist ja viel kommoder hier, könnts für ganz wohnen bleiben bei uns, Platz ist genug.« 194

Ich erinnerte mich, dass ich mich beeilen müsse, wenn ich meinen Zug erreichen wollte, verabschiedete mich mit herzlichem Dank für die liebenswürdige Bewirtung. Zur Bahn hat mich niemand begleitet.

Traurig sass ich im Zug. Die Welt war klein und hässlich, ein Riesenbetrug. Wenn etwas schön und poesievoll erscheint, muss man sehr auf der Hut sein, es ist nichts als ein grosser Schwindel der Natur, veranstaltet, damit die Menschheit nicht ausstirbt. Wozu?

Ein alter Bauer neben mir schnupfte, bot mir eine Prise an, schneuzte sich in ein grosses rotes Sacktuch, betrachtete das Produkt interessiert, erzählte, dass er in die Stadt müsse, um seinen Kropf operieren zu lassen, er könne schon nimmer schnaufen.

Einmal, vor langer Zeit, hat einem schönen jungen Bauernburschen ein fesches Bauernmädel gefallen. Vielleicht ist er ins Kammerfenster zu ihr gestiegen oder in einer lauen Juni-Nacht ist er mit ihr im Heu gelegen. Und das Resultat? Hier sitzt es, alt und unappetitlich, mit einer unförmigen Geschwulst am Hals, muss sich operieren lassen.

Drei widerliche Geschäftsreisende im Coupé tranken Bier aus Flaschen, spielten Karten, und ich stellte mir vor, dass jeder von ihnen das Ergebnis eines Augenblicks schwärmerischer Zuneigung ist.

Und wie schön mochte das junge liebende Paar ausgesehen haben, aus dessen Begeisterung jene jämmerliche Frau dort drüben, mit der lupuszerfressenen Wange, hervorgegangen war?

Sogar beim Schaffner, der die Billete kupieren kam, rekonstruierte ich mir seine Entstehung.

Ein jeder Mensch ist uns ein Zeugnis, dass irgendwer einst irgendwen geliebt hat. 195

Und ich liebte Rita. Aber das war ganz etwas Anderes. Sie war wirklich schön. Ich habe mich bei ihr von dem abscheulichen Tag erholt, erzählte ihr alles, was ich da erlebt und gedacht hatte.

»Ja«, sagte sie, »und so muss jedes Bild Beweis sein, dass einmal ein Künstler in irgendeine Anschauung verliebt gewesen ist. Dann lebt das Werk weiter, vielleicht ewig.«

»Möchtest du das, Rita? Ich lege keinen Wert auf Nachruhm. Ob das Schwein wohl glücklich ist bei dem Gedanken, dass man seine Schinken vorzüglich findet wird, wenn es tot ist?«

»Vielleicht. Weisst du überhaupt, wozu du lebst?«

»Eigentlich nicht. Ich treibe so dahin.«

»Das ist, weil alles bei dir nicht intensiv ist. Nichts erregt dich im Innersten, wühlt dich auf.«

»Ich bin eben ein Gentleman.«

»Das soll doch nur eine Form sein, kein Inhalt.«

»Jede Form wird Inhalt, wenn man sie lange genug übt. – Übrigens ist es gar nicht wahr, dass ich nie ein starkes Gefühl habe. Ich brauche dich nur anzusehen, Rita – – –«

»Warte einen Augenblick! Du hast mir erzählt, dass dein Onkel dich gelehrt hat, wenn dir ein Mädchen gefällt, solltest du dir ihr Skelett vorstellen. Hast du das bei mir getan?«

»Nein, und ich will es gar nicht versuchen.«

»Glücklicherweise ist seitdem die Röntgenphotographie erfunden worden. Ich habe so eine Aufnahme von mir machen lassen. Sogar vergrössert. Schau her!«

Das war eine grosse Photographie, die sie mir zeigte. Darauf waren die Umrisse ihres Körpers nur 196 schwach sichtbar, die Knochen in voller Deutlichkeit. Ich betrachtete das Bild genau, und es grauste mich durchaus nicht. Das Rezept des Onkels versagte.

»Du hast ein entzückendes Skelett. Ich liebe es.« In der Tat, ich fühlte eine so heisse Zuneigung zu ihm, dass mir die Wirklichkeit daneben verblasste. Ich schloss sie in meine Arme, fast enttäuscht, den warmen Körper zu spüren. Unwillkürlich fanden meine Hände ihren Hüftknochen, ihre Rippen, ihre Halswirbel, ich küsste ihre Zähne.

»Ich liebe dein Skelett.«

»Ach Gott!« stöhnte Rita.

Dann kauerte sie auf der Ottomane, die Hände vorm Gesicht.

»Emmaus, ich glaube du bist ein Lustmörder.«

Aber schon war ich wieder bei Sinnen, lachte: »Nein, ich fürchte, das wäre kein Beruf für mich. Schenk mir die Photographie!«

Sie sprang auf, zerriss das Bild in kleine Stücke, warf die in den Papierkorb. 197

 


 << zurück weiter >>