Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Verhängnis

Und dann kam der Graue. Ich war so erleichtert, dass ich ihn freudig begrüsste. Ernst sass er mir gegenüber, sah mir mit durchdringendem Blick gerade in die Augen, ganz nahe, flüsterte: »Wir brauchen Sie, Emmaus.«

Ich antwortete nicht.

»Wir brauchen Sie, Sie kommen mit mir. Sie kommen.« Immer starrer fixierte er mich.

Ich fühlte mich sonderbar bewegt, konnte ihm nichts erwidern.

»Sie kommen mit mir, kommen mit mir, kommen mit mir.«

Es war als sei mir das Hirn aus dem Schädel genommen. Zwischen den Augen empfand ich dumpfen Schmerz, hatte Mühe sie offen zu halten, war wohl von der Fahrt ermüdet.

»Sie müssen mit mir kommen. Ikarus ist zurückgekehrt, droht. Der Meteor braucht Sie. Der Meteor leuchtet wieder. Sehen Sie, wie er strahlt. Sie folgen ihm. Sie folgen.«

Ich glaubte wirklich das strahlende Meteorzeichen zu sehen. Es blendete mich. Ich musste die Augen schliessen. Ich war wie im Traum. Willenlos ging ich mit. Ich weiss nicht mehr, wie ich meinen Mantel angezogen habe, wie ich meinen Handkoffer nahm. Es 429 war ein Gefühl, als hätte ich keine Füsse, schwebte. Alle Sinne waren mir in Nebel gehüllt, reagierten nur schwach und gedämpft. So habe ich Mühe, mir die Geschehnisse wieder vorzustellen und bin unklar in meiner Erinnerung an sie.

Gewiss ist, dass ich, was ich an barem Geld und Valuten besass, Vevi übergab und dass sie entsetzt fragte: »Emmaus, wohin willst du gehen? Was ist dir? Ich fürchte mich«, und dass ich wortlos und ohne Abschied dem Grauen folgte.

Ich hörte ihren aufschluchzenden Schrei, als wir davonfuhren.

Und auch alles, was dann geschah, sehe ich im Geiste nur matt, wie durch getrübtes Glas. Die Autofahrt verlief in Schweigen, und Schweigen gähnte durch Münchens Strassen, als wir in der Dunkelheit ankamen.

Wir hielten in der Filsingergasse beim Meteorverlag. Wirsing geleitete mich hinein, wir betraten das riesige Redaktionszimmer. Es schien mir noch viel grösser geworden zu sein, das kam wohl von dem Halbdunkel, nur durch eine kleine Bürolampe im entferntesten Winkel erhellt. Dort war ein eisernes Bett für mich hergerichtet. Stühle standen da und ein Tisch mit sauberem Tischtuch und Nachtessen für uns beide. Wir speisten, ohne ein Wort zu wechseln. Dabei bohrte mir Wirsings Blick andauernd mitten durch die Stirn, schmerzte. Nach dem Mahl forderte er mich durch eine Handbewegung auf, mich auf's Bett zu setzen, er sass daneben, halb nach mir gewendet, sodass er mich dauernd fixieren konnte. Er fasste meine Schultern, drehte meinen Oberkörper sich zu und sprach mit seiner flüsternden, eindringlichen Stimme ganz nah auf mich ein: 430

»Hören Sie aufmerksam, ich gebe einen kurzen Bericht über die Lage: Ikarus ist wiederhergestellt, redet, redet, gewinnt immer mehr Macht, führt das Heer der Standartisten gegen den Rätefreistaat. Nördlich vor München, in Dachau, hielt das Räteheer die Höhe besetzt. Ikarus war im Anmarsch. Die Arbeitersoldaten erkannten die Gefahr des Moments, erklärten, sie wollten siegen oder sterben, aber nur unter der Bedingung, dass man ihren militärischen Stundenlohn sofort auf das Doppelte erhöhe. Wurde bewilligt. Standen zu grimmiger Verteidigung bereit. Morgens erfolgte der Angriff. Die Glocke schlug neun Uhr. Das Räteheer brach in den donnernden Ruf aus: »Brotzeit is.« Sie waren gewohnt, punkt neun Uhr zu frühstücken. Leider wollte der Feind nicht so lange warten. Traf die Tapferen bei Brot und Bier sitzend. Manche assen auch Würste. Wenigstens sind sie nicht hungrig in Walhall eingegangen. Wurden alle niedergemacht. Die Räterepublik ist erledigt. Was nun? Die Zukunft gehört uns, dem Meteor. Ikarus ist nur Werkzeug in der Hand der Rüstungsindustrie, Daffodil, scheinbar ihm untergeordnet, ist der Allgewaltige, nennt sich ›Reichslotse‹. Die Waffenfabriken haben wieder überfüllte Lager, stellten sich zeitweise um auf Erzeugung von Mikrophonen, Phonographen, Rundfunkgeräten. Die habe ich alle aufgekauft oder durch mir dienstbare Rätesoldaten beschlagnahmen lassen. Sind eingelagert. Wir besitzen Hunderttausende davon, sind jedem Gegner überlegen.«

Ein Zweifel dämmerte mir auf, verdichtete sich zu der Frage: »Und die Waffen?«

Er legte mir die Hände noch härter auf die Schultern, verkündete leise, doch mit monumentaler 431 Festigkeit: »können ohne die dazu gehörigen Menschen nichts ausrichten. Menschen werden durch Worte gelenkt. Worte sind gefährlicher als Waffen. Gott ist mit den stärksten Mikrophonen. Kanonen sind altes Eisen. Schon haben wir durch heimliche Überredung erreicht, dass Millionen das Heil vom Meteor erwarten, von Ihnen – warten auf Sie, auf Sie, auf Sie, den Auferstandenen. Schöpfen Sie jetzt eine machtvolle Rede! Das Grammophon empfängt sie und verkündet sie. Alles ist bereit. Werner Kluft hat die Verfassung bis ins Kleinste ausgearbeitet, die Aktien der Vaterland A.G. sind in sechzig Millionen Exemplaren gedruckt. Du wirst herrschen, Emmaus, du allein.«

Er strich sanft mit zwei Fingern über meine Stirn und ich entschlummerte.

Das Nächste, was mir erinnerlich ist, war, dass ich in den Aufnahmeapparat sprach: »Halloh, Halloh, hier Meteor. Ich spreche zu den Soldaten der Welt. Der Meteor tritt euch ohne Waffen gegenüber. Warum? Weil ihr Menschen seid wie wir. Ihr einzelnen Menschen wollt uns einzelne Menschen ja garnicht töten. Ihr werdet nur als Masse dazu gezwungen. Von wem? Von den grossen Herren, die die Mordwerkzeuge fabrizieren. Warum? Weil sie ihre Mordwerkzeuge verkaufen wollen, Geld verdienen wollen. Hunderttausende friedliche Bürger werden zu Soldaten gemacht, ja Millionen. Werden getötet, verlieren Arme, Beine, Augenlicht. Witwen und Kinder weinen, hungern. Namenloses Elend entsteht, damit ein paar Reiche immer noch reicher werden können. Wie verlocken sie euch? Sie lügen euch vor, das Vaterland sei in Gefahr, die Ehre. Könne nur gerettet werden, wenn man ihnen die Mordwerkzeuge abkauft, die Mordwerkzeuge 432 verwendet, mordet. Menschen mordet. Menschen, die euch lieben wollen und die ihr lieben könnt. Aber die Herren befehlen euch: Ihr müsst hassen. Sonst können sie nämlich ihre Mordwerkzeuge nicht verkaufen. Erinnert euch: Ihr wart glücklich, eure Kinder waren glücklich. Jetzt herrscht Verzweiflung. Man treibt euch hinaus zum Schlachten und zum geschlachtet werden. Wie Vieh. Weshalb lasst ihr euch das gefallen? Werft die Mordwaffen weg, wie wir sie weggeworfen haben. Wir haben sie weggeworfen, weil wir euch vertrauen. Wenn man euch sagt: Das Vaterland ist in Gefahr, so schreit: Das ist Lüge. Wenn man euch sagt, eure Ehre ist in Gefahr, so schreit: Das ist Lüge. Wenn man euch sagt, durch Krieg werdet ihr mächtig und reich, so schreit: Das ist Lüge. Wenn man euch sagt: Die Politik verlangt den Krieg, so schreit: Das ist Lüge. Der Meteor will keine Politik. Politik ist Verbrechen. Der Meteor will euer Glück. Kein Krieg mehr. Keine Steuern mehr. Der Staat als Aktiengesellschaft. Jeder ist Aktionär, jeder verdient. Niemandem wird etwas genommen. Kein Hass mehr, kein Mord. Ihr sollt rufen: Wir wollen nicht hassen, wir wollen glückliche Menschen sein. Werft eure Gewehre weg, verlasst die Kanonen, verlasst die Flugzeuge und kommet zu mir! Weit breite ich die Arme aus. Kommet! Hier wartet das Glück auf euch. Hier Meteor, Halloh, Halloh.«

Dann verlässt mich die Erinnerung wieder, und ich weiss nur, dass der Graue und Werner Kluft mit mir im Auto sassen und dass wir nach Dachau hinausfuhren, wo schon viele Tausende in Meteorkleidung aufmarschiert standen. Ikarus mit seinen Truppen hielt die Höhe besetzt. Vor ihnen waren Lautsprecher, 433 Mikrophone aufgestellt, aber viel mehr noch und viel grössere vor unserem unbewaffneten Heer, das die Ebene erfüllte.

Ikarus sprach: »Soldaten! Kein äusserer Feind hat euch besiegen können, nur der innere. Der bedroht euch jetzt wieder, bedroht euer Vaterland, eure Ehre, will euch wehrlos machen. Nichts Herrlicheres gibt es als ein Held zu sein, als den Heldentod zu sterben. Der Moment ist von weltgeschichtlicher Bedeutung und mit blutiger Schrift – – –« Da setzten die Mikrophone der Meteoristen mit so gewaltiger Stimme ein, dass die Rede des Ikarus nicht mehr vernehmbar war, schallten wieder und wieder über die Massen hin, verkündeten meine Rede. Man sah, wie Unruhe in den Reihen der Bewaffneten entstand. Ein Gewehrschuss wurde abgefeuert, blieb aber vereinzelt. Die Mannschaften auf der Anhöhe lösten sich in verschiedene Gruppen auf, die sich durch Zeichen miteinander verständigten, da unsere Lautsprecher so mächtig ertönten, dass jedes gesprochene Wort unhörbar blieb. Plötzlich sass ich auf einem Pferd, in Meteoristentracht wie wir alle, ritt ganz allein der feindlichen Front entgegen, während meine Rede noch immer hinausgeschmettert wurde.

»Weit breite ich die Arme aus«, rief sie, und ich tat es.

Die Soldaten des Ikarus kamen auf mich zu, begrüssten mich mit so gewaltigem, freudigem Zuruf, dass sogar die Lautsprecher übertönt wurden, versuchten mir die Hand zu drücken, warfen ihre Gewehre weg. Einige weinten, andere lachten. Sie kamen herüber und schüttelten den Meteoristen die Hände. Ich ritt weiter auf Ikarus zu, den ich im 434 Hintergrund bemerkt hatte. Er versuchte vergeblich, seine Leute zurückzuhalten, gestikulierte, schrie wohl, aber man hörte nichts. Jetzt war ich ihm ganz nah. Seine blutunterlaufenen Augen schienen aus den Höhlen zu treten, zitternd und schweissbedeckt sprang er auf mich zu, zückte seinen Revolver. Doch bevor er abdrücken konnte, war ihm Daffodil von hinten in den Arm gefallen, suchte ihn zu beruhigen. Ikarus stürzte zu Boden, von einem Krampfanfall geschüttelt. Die Lautsprecher schwiegen an beiden Fronten.

Daffodil trat zu mir ans Pferd, grüsste militärisch stramm, verneigte sich dann tief und sprach: »Auch ich grüsse euch. Ich war ein schlechter Lotse, habe wohl falsch gesteuert. Emmaus, du sollst von jetzt ab des Reiches Lotse sein, Lotse und Kapitän zugleich. Wir wollen keine Kanonen mehr fabrizieren. Der Meteor halloh, halloh.«

Ich ritt wieder zu dem Heer hinab, dankte in einer kurzen Ansprache und verkündete, dass bald durch Volksabstimmung entschieden werden solle, ob Meteor oder Standarte die zu erwählende Staatsform sei.

Der Einzug in München glich einem Triumph. Alle Glocken läuteten. Endloser Jubel herrschte. Die Menschen wallten, blumengeschmückt, durch die Strassen. Überall wehte die Meteorflagge. Auf öffentlichen Plätzen spielte Musik, wurde getanzt und getrunken. Das glückliche Zeitalter brach an.

Wirsing geleitete mich zum früheren Königspalast, der meine Residenz sein sollte. Ich sprach vom Fenster aus zur Menge, die mir begeistert huldigte. Im Schloss waren auch die Arbeitsräume eingerichtet worden, in denen meine Getreuen unter Wirsings Leitung walteten. Ihm verlieh ich den Titel ›Reichslotse‹. Mich 435 selbst nannte ich ganz schlicht ›Präsident‹. Es war viel zu erledigen, viel aufzubauen. Daffodil, der das Meteorgewand trug, war eifrig bemüht zu beweisen, dass er sich jetzt aus voller Überzeugung zum Meteorismus bekenne. Nach einigem Zögern hatten wir gefunden, dass sein Organisationstalent sehr nützlich werden könne. Er berichtete auch, dass die Zralokwerke die Waffenfabrikation vollkommen aufgegeben haben, Rundfunkgeräte würden sie in geringerem Ausmasse noch weiter herstellen, ebenso Automobile und kleine Privatflugzeuge, die sollten durch niedrigen Preis der Allgemeinheit erreichbar werden. Insbesondere aber seien sie im Begriff sich fast ganz auf landwirtschaftliche und gewerbliche Maschinen und Werkzeuge umzustellen, die sie durch Rationalisierung der Produktion unerhört billig liefern könnten. Sie beabsichtigten auch, ein ganz neuartiges Kreditsystem einzuführen, das selbst dem Ärmsten die Anschaffung gestatte. Auf diese Weise würde der technische Fortschritt allen Werktätigen zugute kommen, nicht bloss wenigen Kapital-Herren.

In den ehemaligen Königszimmern war auch mein Schlafgemach, Ich ruhte in einem herrlichen Empire-Bett, das allerdings etwas unbequem war, ebenso wie das Bestreben der alten Dienerschaft, meine Lebensweise nach höfischem Brauch zu gestalten. Eines Morgens trank ich meine Schokolade, noch im Nachtgewand, als mir der Kammerdiener meldete, eine Dame wolle mich sprechen, lasse sich nicht abweisen, er fragte, ob er sie vorlassen dürfe. Ich versank in Nachdenken, klarere Erinnerungen stiegen auf, ein Schrecken durchfuhr mich.

»Frau Daffodil?« fragte ich. 436

»Nein, Frau Genoveva.«

»Ich lasse bitten.«

Sie schritt in das Gemach, dunkel gekleidet, schlank, marmorblass, eine Erscheinung wie für diese königlichen Räume geschaffen. Ich erhob mich und begrüsste sie mit entsprechender Feierlichkeit.

»Emmaus, was ist aus dir geworden? Was bedeutet dieser Unsinn? Kehre zurück zu mir und zu unserem Glück und zu Vincenz.«

»Nein, Genoveva, du wirst hier bleiben, bei mir, bei deinem Volke, als meine Frau Gemahlin, als die höchste Dame des Staates.«

»Wir wollen leben wie bisher. Das war so schön.«

Es gefiel mir, dass sie nicht weinte, rührte mich. ›Nicht unter die Haut gehen lassen!‹ nahm ich mir vor.

»Das Heil der Menschheit hängt davon ab, dass ich bleibe, Genoveva.«

»An deinem Pyjama fehlt ein Knopf.«

»So?«

»›Das Heil der Menschheit‹, das ist eine Phrase. Du kommst dir furchtbar wichtig vor und bist ein bisschen komisch. Wichtigkeit ist die Wurzel alles Übels. Geh, sei doch nicht so geschwollen!«

»Genoveva, du dürftest dich etwas respektvoller ausdrücken.«

»Also willst du mit nach Oberhaus kommen oder nicht?«

»Unmöglich.«

»So bleibe ich auch nicht dort, ich gehe und nehme Vincenz mit. Katja hat mir geschrieben, sie hat die Wilcox-Erbschaft für mich freibekommen, lädt mich dringend ein. Sie hofft, du wirst mitreisen, in Boston 437 bietet dir die Universität den Lehrstuhl für Meteorismus an. Kann ich ihr sagen, dass du nachkommen wirst?«

»Nein.«

»So lebewohl, Emmaus.«

»Lebewohl.« Ich hielt ihr die Hand zum Kusse hin, aber sie übersah diese königliche Geste. Sie ergriff meine Hand, drückte sie lange, als müsste sie mich wiedergewinnen. Jetzt standen ihr die Tränen in den Augen, liefen aber nicht herab. Langsam ging sie hinaus. Ich blieb allein, in einsamer Grösse. In der Tür zögerte sie, tat wieder einige Schritte zu mir hin.

»Ach, Emmaus, du musst mir noch das Rezept geben, nach dem du immer den süssen Senf gemacht hast.«

Indem wurde Daffodil gemeldet und sie eilte fort.

Er entschuldigte sich, dass er mich so früh schon störe, aber er habe eine Bitte an mich, eine grosse Bitte. Ikarus sei völlig zusammengebrochen, befinde sich in einem Nerven-Sanatorium, die Ärzte fürchteten für sein Leben. Ikarus habe den Herzenswunsch, mich zu sehen, wolle mir sagen, dass er seinen Irrtum erkannt habe und bereue. Er möchte ein getreuer Apostel des Meteor werden. Der Bursche tat mir leid, vielleicht wollte ich auch etwas Grosszügigkeit markieren. Ohne mich zu besinnen, liess ich mir vom Kammerdiener meinen Gala-Meteoristenrock anlegen und ging mit. 438

 


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