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Wohl ein jeder hatte schon von dem Lande Schlaraffia gehört, aber niemand konnte sagen, wo es liegt. Man erzählte, daß dort unerhörter Überfluß an Lebensmitteln herrschte. Faul, fett und verschlafen lagen die Menschen herum; von Zeit zu Zeit machten sie den Mund auf, und wohlschmeckende, vitaminreiche Speisen flogen ihnen ganz von selbst hinein. Verspürten sie danach Durst, mußten sie sich allerdings zu einer der vielen Quellen begeben, die, ganz in der Nähe, die herrlichsten Getränke, wie Wein, Bier, 116 Kaffee und Likör, in beliebigen Mengen hervorsprudelten. Dieser Gang war die einzige Körperbewegung, welche die Schlaraffen zu machen brauchten, und das Nachdenken darüber, ob sich das nicht müheloser einrichten ließe, ihre einzige geistige Anstrengung.
Vor kurzem ist es der Wissenschaft gelungen, die geographische Lage des Landes Schlaraffia genau zu bestimmen, festzustellen, daß es eine vom Golfstrom umspülte winzig kleine Insel sei, die man sonderbarerweise bisher übersehen hatte. Alsbald schickte die Regierung den großen Dampfer »Providentia« dorthin, um sie zu erforschen und in Besitz zu nehmen. Außer der Schiffsbesatzung fuhren eine Anzahl erprobte Verwaltungsbeamte mit sowie einige 117 Koryphäen der Geographie, Naturwissenschaft und Nationalökonomie.
Als sie an Land stiegen, fanden sie alle Erzählungen bestätigt. Schon am Strande lagen fette Männer und Weiber haufenweise im Sonnenschein. Es war gerade Mittagszeit, alle Mäuler waren weit aufgerissen, und fertiggebratene, tranchierte Hühner kamen hinein, brauchten nur gekaut und verschluckt zu werden. Auch Gemüse, Salat, Bratkartoffeln und danach eine süße Speise erschienen und versanken auf dieselbe Weise.
Der Professor der Naturwissenschaft sagte entrüstet: »Vom Standpunkt der Physiologie betrachtet ist das eine Schweinerei.« Aber der Geographieprofessor meinte: »Hochinteressant. Genau wie ich es in meinem epochemachenden Werk auf Seite 810 vorausgesagt habe.« Der Nationalökonom Professor Überhorn schüttelte den Kopf: »Da muß etwas nicht stimmen, wäre mit unseren Theorien nicht vereinbar.«
Nach dem Mahl ertönte allgemeines zufriedenes Rülpsen, das jedoch in ein Seufzen überging, als sich die Gesättigten erheben mußten, um die zwanzig Schritte zu den Getränkequellen hinzuwandern. Dort brauchten sie nur den Mund an die Leitungen zu halten, genossen die köstlichen Flüssigkeiten, luden auch die fremden Gäste ein, sich zu bedienen. Das taten die und fanden die Getränke von hervorragender Qualität. Da trat Professor Überhorn auf die Schlaraffen zu und rief mit mächtiger Stimme: »Halt, Schlaraffen! So geht das nicht weiter. Ich bin Professor der Nationalökonomie und der bedeutendste Sachverständige auf allen Gebieten des menschlichen Glückswesens. Wahrlich, ich sage euch, ihr seid die unglücklichsten Geschöpfe der Erde. 118 Gedankenlos ergebt ihr euch dem Genusse, verschlingt übermäßige Mengen von Kalorien, Vitaminen, Stimulantien und sonstigen Nahrungsmitteln, lebt nur dem Heute. Wer gibt euch Sicherheit, daß in der Zukunft genügend Vorräte vorhanden sein werden? So, wie ihr es jetzt treibt, geht ihr namenlosem Elend entgegen. Ihr werdet Hunger leiden müssen, eure Kinder werden lebenden Skeletten gleichen, eure Kindeskinder werden überhaupt nicht geboren werden. Seuchen werden sich ausbreiten, Unzufriedenheit, Aufruhr wird herrschen.«
Da lachten die Schlaraffen, der dickste von ihnen sprach unter leichtem Aufstoßen: »Danke schön, Herr Professor. Wann geht Ihr Schiff zurück?« Der brüllte: »Gar nicht geht es zurück. Wir bleiben hier, um euch zu helfen. Sicherheit! Sicherheit! rufe ich euch zu.« Er winkte dem Kapitän der »Providentia«, der trat hervor, hißte die Flagge seines Landes und nahm die Insel 119 Schlaraffia in Besitz, was der Geographieprofessor sofort in seine Landkarten eintrug. Der dicke Schlaraffe, der offenbar den Dingen verständnislos gegenüberstand, wurde auf das Schiff gebracht und in Schutzhaft genommen.
Die Verwaltungsbeamten, angeführt von einem Leutnant zur See, marschierten in Reih und Glied zum Rathaus, weckten den Bürgermeister aus seinem Mittagsschlaf und gaben die nötigen Befehle.
Schon am nächsten Tage war die Verpflegung des Schlaraffenländchens nach altbewährtem System in die Wege geleitet. Anschläge an allen Mauern verkündeten, daß von jetzt ab Lebensmittel nur gegen numerierte Karten in genau vorgeschriebenen Mengen zu haben seien. Übertretung wurde mit strengen Strafen bedroht. Da lernten die Scharaffen zum erstenmal das Schlangestehen; in langen Reihen mußten sie zum Rathaus wandern, um ihre Rationierungskarten in Empfang zu nehmen. Überall wurden 120 Beamte aufgestellt, die genau überwachten, daß niemandem mehr als die zugelassene Ration in den Mund flog, nachdem die fälligen Nummern abgeliefert waren. Jede Woche wurde bekanntgemacht, welche Nummern an der Reihe seien.
Wie durch Zauberei fingen die Nahrungsmittel an auszubleiben, die Quellen zu versiegen. Die Scharaffen wurden nicht mehr satt und wunderten sich, was wohl mit den übriggebliebenen Eßwaren und Getränken geschehe. Der frühere Überfluß war bald ganz verschwunden, Mangel wurde immer mehr fühlbar.
Professor Überhorn verkündete in einem Vortrag: »Schlaraffen, seht ihr nun ein, wie richtig meine Befürchtungen waren und daß euch jede Sicherheit gefehlt hat?« – Manche glaubten ihm wirklich, andere murrten: »Nun haben wir die Sicherheit, zu verhungern.« Sie wurden verhaftet und zutiefst im Kielraum der »Providentia« eingesperrt und angekettet.
Bestraft wurden auch die abgemagerten Kinder, die in Abfalltonnen nach Brotresten suchten; denn dies kindliche Spiel mußte wohl als eine Demonstration gegen das Verpflegungssytem erscheinen.
Die Sicherheit der allgemeinen Versorgung konnte nur durch noch stärkere Herabsetzung der Rationen gewährleistet werden. Zum erstenmal in der Geschichte des Schlaraffenländchens geschah es, daß Menschen verhungerten. Viele wurden von Tuberkulose und Skorbut dahingerafft. –
Als der letzte Schlaraffe zugrunde gegangen war, bestiegen die wohlgenährten Mannschaften, Verwaltungsbeamten, Professoren wieder ihr Schiff und fuhren nach Hause. Dort meldete der Kapitän der »Providentia« seiner Regierung: »Insel Schlaraffia fest in unserm Besitz. Rationalisierung restlos durchgeführt.«
Professor Überhorn erhielt einen hohen Orden, und jetzt wird ihm auf der Insel eine Denkmalsstatue errichtet mit der schlichten Inschrift: »Dem Retter«. 123