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Der Gewaltige hatte die Macht ergriffen und herrschte allein und unbeschränkt über das Land. Er wohnte in einem prächtigen Schloß; das lag hoch oben in den Bergen auf einem ragenden Felsen. Von dort aus bestimmte er, was zu geschehen habe. Wenn jemand Widerspruch wagte, ergriffen ihn die Schergen des Gewaltigen und erschossen ihn. So gehorchten alle. Die Untertanen ertrugen geduldig, daß man ihnen nicht nur ihren Besitz wegnahm, sondern auch ihre Individualität. An Stelle ihrer Namen erhielten sie Nummern, die wurden ihnen von Amts wegen auf dem Gesäß eingebrannt. Bald war die Zahl 80 000 000 erreicht. Das wurde durch rauschende Festlichkeiten im ganzen Land gefeiert.
Der Gewaltige hielt vom Balkon seines Schlosses aus eine zündende Ansprache an sein Volk, in der er betonte, daß alle bisherigen Staatseinrichtungen abgeschafft seien, sein Wille sei das einzige Gesetz von nun an auf Tausende von Jahren und in alle Ewigkeit. Das Volk jubelte ihm begeistert zu. Unter den Jubelnden waren Aufpasser verteilt und ließen alle verhaften, die nicht begeistert genug jubelten. Die Verhafteten wurden natürlich erschossen.
In den Kirchen wurde das Bild des Gewaltigen aufgestellt, es 93 durfte nur noch zu ihm gebetet werden. Priester, die sich weigerten, verloren Amt und Leben.
Auch den benachbarten Ländern tat der Gewaltige kund, daß sie nunmehr nur ihm zu gehorchen hätten, in ihrem eigenen Interesse und zum Schutz gegen kulturfeindliche Barbarei. Zu seinem Befremden weigerten sich diese rückständigen Völker. Noch einmal warnte er die Irregeleiteten, sie sollten sich nicht von ihren unfähigen, minderwertigen Regierungen aufhetzen lassen, er wünsche nichts als Frieden; um diesen zu erhalten, gab er ihnen großmütig eine Woche Bedenkzeit.
Dann begann er den Krieg. Seine Untertanen Nr. 1 bis 10 000 000 waren schon vorher zu Soldaten ausgebildet worden, nun erhielten auch die Nummern 10 000 001 bis 30 000 000 Uniformen und Waffen. Sie begannen sofort Kriegslieder zu singen und die Grenzen der nunmehr feindlichen Nachbarländer zu überschreiten. Grenzenlos war der Begeisterungstaumel der zurückgebliebenen Nummern 30 000 000 bis 80 000 000, besonders als die ersten Meldungen über zahlreiche Siege, die größten der Weltgeschichte, eintrafen.
Aber in einem der Länder wurde es sehr kalt. Schnee lag meterhoch und das Thermometer stieg nicht selten über 50 Grad Kälte. Das verursachte viele Heldentode, schon mußten die Nummern 30 000 001 bis 55 000 000 zum Heeresdienst einberufen werden. Nun übten bloß noch 25 000 000 Daheimgebliebene die Kriegsbegeisterung aus, natürlich entsprechend intensiver. Der Gewaltige bestellte sich die drei Universitätsprofessoren der Meteorologie in sein Schloß. Sie mußten sich in strammer Haltung aufstellen. Dann brüllte er sie an: »Ihr Schweinehunde wollt Meteorologen 94 sein, ein Dreck seid ihr! Ich werde euch pensionslos entlassen, wenn nicht innerhalb dreier Tage Tauwetter auf dem Kriegsschauplatz eintritt.« – »Zu Befehl«, sagten die Professoren.
Der Gewaltige deutete auf seinen mächtigen Schreibtisch und fuhr fort: »Schaut euch das an! Das ist von meinen unendlich tapfern Helden übriggeblieben.« Dort lagen 867 000 Paar Ohren mit Nummern versehen, wohlgeordnet. »Abgefroren!« brüllte der Gewaltige. »Abgefroren?« wiederholten die Meteorologen zähneklappernd.
Der Gewaltige ohrfeigte sie kräftig und befahl: »Abtreten!« Sie verneigten sich tief, verließen schweigend und zitternd den Audienzraum. Draußen wurden sie verhaftet und ins Gefängnis 95 gebracht. Dort schnitt man ihnen die Ohren ab und übergab jedem die seinigen sauber in Papier gewickelt.
Nur einer von ihnen, der berühmte Physiker Professor Wennauch, Nr. 3 876 391, ein Bahnbrecher auf dem Gebiet der Wetterkunde, entging diesem tragischen Geschick wenigstens zur Hälfte. Als ihm das eine Ohr entfernt worden war, rief er verzweifelt: »Haltet ein, ihr Braven! Ich habe dem Gewaltigen noch eine wichtige Mitteilung zu machen, von der vielleicht Wohl und Wehe des Vaterlands, ja der Weltgeschichte abhängt.« Er wurde dem Gewaltigen noch einmal vorgeführt. Der saß bereits wieder an seinem Arbeitstisch, beschäftigt, die abgefrorenen Heldenohren in saubere Pappkartons zu verpacken, um sie den Angehörigen als letzte Grüße von der Walstatt zuzusenden. Er drehte sich nicht um, als Nr. 3 876 391 anhub: »Mein Gewaltiger möge verzeihen, daß ich Unwürdiger es noch einmal wage, in Sein erhabenes Angesicht zu treten.«
Der Gewaltige sprang brüsk auf: »Was?! Wohin 96 willst du mich treten? Ich werde dich –«, und er trat ihn in den wohlgerundeten Professorenbauch. »Herzlichen Dank, mein Gewaltiger«, quittierte der Professor, »ich wollte mir nur untertänigst erlauben, darauf hinzuweisen, daß die Meteorologie nicht voll und ganz schuld an der Ungunst der Witterung ist. Diese dürfte vielmehr restlos durch die Naturgesetze verursacht sein.«
»Was für Naturgesetze?« schrie der Gewaltige, »ich habe doch alle Gesetze aufgehoben.«
»Gewiß, mein Gewaltiger. Seine Erhabenheit hat aber die Naturgesetze noch nicht zur Gänze außer Kraft gesetzt.«
»Blödsinn! Naturgesetze gibt es überhaupt nicht. Nie davon 97 gehört. Wohl wieder so eine jüdische Erfindung.«
»Um Vergebung, mein Gewaltiger. Es gibt leider Naturgesetze. Die Welt beruht auf ihnen. Da ist, mit Verlaub, zum Beispiel das Molekulargesetz, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, das Gravitationsgesetz.«
»Faule Ausreden! Hat nichts mit dem Wetter zu tun.«
»Der Gewaltige möge gestatten, wenn das Thermometer steigt und fällt, gehorcht es dem Gesetz der Schwere.«
»Na, da kommen wir ja auf eine schöne Schweinerei!«
Er nahm einen Foliobogen mit Amtsstempel, zückte die Füllfeder und schrieb darauf in seiner charakteristischen, Genie verratenden Handschrift und seiner zutiefst persönlichen Orthographie:
»Mit heudigen sin die Naduhrgesötze aufgehom inzbesontere das Gesötz der Schwehre.
Der Gewaltige«
98 Herrn Professor Wennauch wurde die Gnade gewährt, das Schriftstück lesen zu dürfen. Er verbeugte sich tief: »Die Welt wird es dem Gewaltigen danken, daß er sie von dieser Knechtschaft befreit hat. So etwas konnte nur das größte Genie aller Zeiten, unser Gewaltiger vollbringen.«
»Ja, ich habe es vollbracht. Ich bin eben ungemein epochal.«
Er läutete. Zehn Bewaffnete traten aus verborgenen Wandschränken. Einem von ihnen übergab er das Dokument: »Ist sofort im Staatsanzeiger zu veröffentlichen!«
Die übrigen Leibgardisten erhielten den Auftrag, Zeitungsberichterstatter und Volk anschwirren zu lassen, sofort, sollten sich unten am Schloßgrund aufstellen, er wolle vom Balkon aus zu ihnen sprechen.
Nach fünf Minuten konnte gemeldet werden, daß Journalisten, Volksmenge und Mikrofon bereit seien. 99
Der Gewaltige trat auf den Balkon hinaus, stand dort hoch aufgerichtet, mit verschränkten Armen und so bedeutungsvoll ernstem Gesichtsausdruck, wie ihn andere Herrscher höchstens auf Denkmälern vorzuführen pflegen. Als sich die jubelnden Zurufe etwas gelegt hatten, sprach er: »Wieder ist mir eine wahrhaft säkulare Tat gelungen. Der Sieg ist unser; denn es gibt keine abgefrorenen Heldenzehen mehr, keine abgefrorenen Ohren. In diesem Augenblick hört nämlich das Barometer zu funktionieren auf. Ich habe die Naturgesetze aufgehoben. Es gibt kein Gesetz der Schwere 100 mehr. Berichtet der Welt, daß ich es euch durch die Tat bewiesen habe.«
Brausendes Hurra und Heil und Wir-danken-dem-Gewaltigen tönte von unten zu ihm herauf, während er sich über das Geländer schwang und hinaussprang. Man hörte, wie sein Körper unten auf dem Felsen aufklatschte. –
»Er hätte doch lieber warten sollen, bis es im Staatsanzeiger veröffentlicht war«, meinte Herr Professor Wennauch. 101