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Im Rathaus des Städtchens Dürrwang war Sitzung. Der Bürgermeister Dr. Großkopf eröffnete sie und redete: »Meine Herren Stadtverordneten, ich habe Sie einberufen, damit wir uns beraten, durch welche Mittel der drohenden Not begegnet werden soll. Wie Ihnen bekannt ist, haben die Kriegszeiten katastrophalen Mangel an Lebensmitteln und Brennstoffen herbeigeführt. Wir sehen dem kommenden Winter mit schwerer Sorge entgegen. Was können wir tun?«
Stadtrat Oberlehrer Schwänzlich sprach: »Wir werden die Schulräume nicht beheizen können. Das beste wird sein, wir veranlassen die Kinder, zu Hause im Bett liegenzubleiben, dann können sie auch den Hunger leichter überstehen.«
»Ja, Hunger«, meinte Stadtrat Bäckermeister Kringlein, »der Mehlvorrat reicht nicht einmal bis Weihnachten, und es gibt keine Kohlen und zu wenig Holz. Auch die Erwachsenen sollten sich ins Bett legen und versuchen, die ganze Schreckenszeit zu verschlafen.«
»Zur Sache!« rief der Bürgermeister. »Ich bitte um ernsthafte Vorschläge.«
Stadtverordneter Medizinalrat Pumke erhob sich in 109 dozierender Pose: »Sehr geehrter Herr Bürgermeister, verehrte Versammlung! Die Worte meiner Herren Vorredner werden Ihnen als der Ausdruck eines utopischen, nicht realisierbaren Wunschtraums erscheinen. Demgegenüber ist in Betracht zu ziehen, welche ungeheuren Fortschritte die Wissenschaft gemacht hat. Ich frage, haben Sie nie das Wort Urson gehört?« Alle kopfschüttelten. »Nun wohl, die Bezeichnung ist von dem lateinischen Wort ursus, der Bär, abgeleitet. ›Was hat der Bär mit Dürrwangs Not zu tun?‹ 110 werden Sie ausrufen. Ich will es Ihnen sagen: Der Bär zieht sich mit Beginn der kalten Jahreszeit in seine Höhle zurück, verbleibt dort in tiefem Winterschlaf ohne die geringste Nahrungsaufnahme, ohne Heizung, bis die Frühlingssonne ihre erwärmenden Strahlen sendet. Uns Männern der Wissenschaft ist es geglückt, in jahrelanger Laboratoriumsarbeit dieses Naturphänomen zu ergründen, aus dem Blut des somnolenten Tieres den wirksamen Grundstoff zu exzerpieren: Urson. Dann hat die Biochemie das Problem aufgegriffen, und es ist ihr gelungen, das Präparat auf synthetischem Wege herzustellen. Ursonamyd wird das Erzeugnis genannt.« Mit bedeutender Geste entnahm er der Brusttasche seines Bratenrocks eine Nummer der Medizinischen Wochenschrift und las den Bericht über die Wirksamkeit des Mittels vor: Es werde in Form von Tabletten geliefert; zehn Stück, einmalig intestinal dargereicht, würden genügen, um den Menschen in anhaltenden Winterschlaf zu versenken. »Unsere Stadt Dürrwang zählt 180 000 Einwohner, also würden wir 180 000 Tabletten benötigen. Ich beantrage, die dafür nötigen Geldmittel zu bewilligen.«
Der Antrag fand einstimmige, begeisterte Annahme. Es wurde ein Fünferausschuß gewählt, der die Durchführung zu organisieren hatte. Natürlich gründete man zunächst ein städtisches Winterschlafsamt unter Leitung von zehn Winterschlafsobersekretären. Einige hundert Schreiber wurden angestellt, die bei der Rationierung der Lebensmittel beschäftigt gewesen und infolge des gänzlichen Mangels an solchen arbeitslos geworden waren. Sie erhielten den Titel Winterschlafskommissare. Es wurde beschlossen, daß der Winterschlaf nicht in Privatwohnungen stattfinden dürfe, sondern nur in den Räumen, die die Obrigkeit dazu 111 bereitstelle. Die nicht mehr benötigten Rationierungsbüros mit ihren ausgedehnten Aktenregalen waren sehr wohl dafür geeignet.
Die Pappdeckelfabrik Dürrwang erhielt den Auftrag, 18 000 Schachteln zu liefern, nach ärztlicher Angabe so geformt, daß in jeder ein Schläfer zusammengerollt Platz fand; innen weich gepolstert, sollten sie bequemen Aufenthalt gewähren. Die Deckel wurden mit Luftlöchern versehen und mit Numerierung nach Auszügen der Einwohnerlisten. 112
Rechtzeitig traf auch das Ursonamyd ein, und pünktlich am 5. November war alles bereit. Unter Vorantritt von Musikkapellen marschierten die Dürrwanger gruppenweise zu den angewiesenen Räumen. Es herrschte musterhafte Ordnung, jeder fand leicht die Nummer seiner Schachtel, stellte sich daneben auf, bekam seine zehn Tabletten und verschluckte sie. Bürgermeister Großkopf, Medizinalrat Pumke sowie die Trompetenbläser der Kapelle erhielten jeder nur neun Tabletten, damit sie im Frühjahr eher als die andern erwachen und die Auferstehung in die Wege leiten sollten. Jetzt hielt der Bürgermeister eine Ansprache, die Geistlichkeit ließ einen Choral anstimmen, dann, auf ein Trompetensignal, stieg jeder in seine Schachtel. Einige Jünglinge versuchten sich in die Schlafschachteln ihrer Mädchen einzuschmuggeln, wurden aber rechtzeitig entdeckt und gebührend zurückgewiesen. Als letzte gingen der Bürgermeister und der Medizinalrat in ihre Schachteln, nachdem sie ein Protokoll aufgenommen und im Kassenschrank niedergelegt hatten. Alles funktionierte tadellos. Bald hörte man die ersten Schnarchtöne.
In der ganzen Welt erregte der Dürrwanger Winterschlaf Aufsehen. Zeitungen, Radio berichteten darüber. Viele Städte beschlossen dem Beispiel zu folgen. Die Ursonamydfabriken arbeiteten mit Hochdruck.
Im Laufe des Winters besserte sich die allgemeine Notlage zusehends. Schon im Frühjahr gab es überall wieder Nahrungsmittel und Brennstoff im Überfluß. Glücklich die Stadt, der eine weise Verwaltung über Hunger und Kälte hinweggeholfen hatte.
Am 30. April hob sich der Schachteldeckel Nummer 18 000, noch etwas verschlafen schaute das Gesicht des Bürgermeisters 113 Großkopf hervor; dann folgte der Deckel Nummer 17 999, und der Medizinalrat Pumke rieb sich die Augen. Sie stiegen heraus, dehnten und streckten sich. Als nächste kamen die drei Trompetenbläser ans Licht. Die fünf Auferstandenen waren froh und beglückwünschten sich. Einige Flaschen Bier, einige Würste hatte man im Herbst für diesen Zeitpunkt bereitgestellt und wurden nun in bester Stimmung genossen.
Am 1. Mai, bei Tagesanbruch, bliesen die Trompeten.
Die Dürrwanger erwachten, verließen ihre Schachteln und freuten sich über die Frühlingssonne. Es dauerte nicht lange, so ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang, und jede Spur von Nahrungssorgen war verschwunden.
Aber nicht alle Leute waren so befriedigt. »Gönnt man uns nicht unsern Winterschlaf?« – »Meine Ruhe möchte ich haben.« – »Mitten im besten Schlummer stören sie einen!« Die so schrien 114 waren die Herren Beamten. Viele von ihnen standen nur auf, um ihr Gehalt in Empfang zu nehmen, und wollten sich dann wieder niederlegen. Als sie erfuhren, daß fernerhin der städtische Winterschlaf nicht mehr benötigt werde, ergriff sie flammende Entrüstung. Glücklicherweise waren sie so gut organisiert, daß sie sich das nicht gefallen zu lassen brauchten. Unter Vorantritt der vierhundert Winterschlafskommissare veranstalteten die Beamten eine Protestversammlung und zogen vor das Rathaus. Sie drohten, daß sie vom Winterschlaf sofort zum gewöhnlichen Sommerschlaf übergehen würden, wenn man ihnen nicht auch für die Zukunft den Gebrauch des Ursonamyds sicherstelle. Vergeblich suchte man sie durch bedeutende Gehaltsaufbesserung milder zu stimmen.
Da die Beamten Grundlage und Existenzbedingung jedes Gemeinwesens sind, ist ihnen der Winterschlaf für alle Zeiten garantiert worden. Ob sich auch die übrigen Dürrwanger wieder daran beteiligen würden, blieb zweifelhaft. 115