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Leider war der gute König Gregor stocktaub. Er hörte nicht einmal, wenn ihm sein Volk zujubelte oder wenn die Minister ihm zum Geburtstag gratulierten. Die liebliche Militärmusik war für ihn eine stumme und sinnlose Prozedur. Im Theater blieb die Königsloge leer, selbst bei den lautesten Opern. Er ließ in seinem Reich die Musik verbieten, aber natürlich half ihm das nichts. Viele berühmte Ärzte wurden konsultiert und stellten die genialsten Diagnosen und Prognosen. Einer verordnete ihm einen Hörapparat, der unauffällig an der Krone zu befestigen war.
Der 67 König blieb taub und ließ die Ärzte in den Hungerturm sperren. Professor Ohriel, eine weltbekannte Spezialautorität, war vorsichtiger: er könne die Behandlung des majestätischen Gehörs nicht übernehmen; nur Zauberei vermöge hier zu helfen. Er erbot sich, einen tüchtigen Meister dieses Fachs zu berufen: »Nicht nötig«, antwortete der König, »mein Finanzminister ist der beste Zauberkünstler des Landes.« Auch dieser wollte die Verantwortung nicht allein tragen, sondern einen Astrologen zuziehen. Der befand, daß in den Sternen geschrieben stehe, jeder Monarch müsse mindestens einen der fünf Sinne entbehren. Allerdings lassen die meisten Monarchen es sich nicht anmerken. Wenn König Gregor das Gehör wiedergewinnen wolle, müsse er auf einen anderen Sinn verzichten. Als der König dies Gutachten gelesen hatte, fragte er verzweifelt: »Verlangen die Sterne etwa, daß ich nicht mehr sehen soll? Keine Sonne, keine Blumen, keine knusprigen jungen Hofdamen, nicht die herrlichen Paradeuniformen meiner tapfern Truppen?« Die schriftliche Antwort des Sterndeuters war beruhigend gemeint: »Es gibt minder wichtige Sinne, die man austauschen kann, zum Beispiel den Geschmackssinn.« Der König brauste auf: »Soll ich keinen Schweinebraten mehr schmecken, kein Sauerkraut, kein Märzenbier? Unmöglich.« Der Sterndeuter sah das ein und schlug vor: »Das Gefühl ist vielleicht auch ein entbehrlicher Sinn.« – »Nein«, wehrte der König ab, »ohne Gefühl gibt es keine Liebe. Meine Frau Gemahlin würde nie auf diese angenehme Sache verzichten wollen, und ich hätte fortwährend Krach mit ihr.« Man einigte sich auf den Geruchssinn.
Das notariell beglaubigte Schriftstück lautete: »Wir, König Gregor, bestätigen Allerhöchst, daß Wir auf Unsern Geruchssinn jetzt 68 und für alle Zeiten verzichten, wenn Uns Unser Gehör wiedergegeben wird. Die Auswechslung hat gleichzeitig zu erfolgen.
Gregor Rex«
Der Astrologe verlötete das Dokument in eine goldene Kapsel. Die nahm er mit sich in sein Observatorium, wo er sie gegen eine gewöhnliche Konservenbüchse vertauschte. Dann schoß er sie mit einer Mondrakete zum Firmament hinauf. Sie traf einen Kometen, der wedelte zufrieden mit dem Schwanz, die Sache ging in Ordnung.
Die Militärmusik durfte nun wieder vor dem Schlosse spielen. Der König hörte ihr entzückt vom Balkon aus zu und pfiff die Melodie mit. Das Musikverbot hatte er sofort im ganzen Lande aufgehoben. Seiner Frau Gemahlin schenkte er ein prächtiges Piano und gestattete ihr, Klavierstunden zu nehmen. Der Lehrer war ein schöner Jüngling, aber das war wohl unvermeidbar. Der König hörte von seiner Loge aus die »Lohengrin«-Aufführung, applaudierte lebhaft, ließ der Elsa sofort ein herrliches Bukett überreichen und dem Lohengrinsänger das Gregorskreuz. Gleichzeitig versuchte er den Schwan mit Kuchenstücken zu füttern, die er auf die Bühne warf.
Beim Souper vermochte der König zu hören, wie zwei Diener leise miteinander flüsterten: »Jetzt trinkt Gregor schon die dritte Flasche.« – »Ja, das versoffene Schwein!« Er ließ sie verhaften und alsbald enthaupten.
Jubel durchbrauste das Land: »Unser König hört wieder.« Glocken klangen. Salutschüsse wurden abgefeuert. Gesangvereine zogen auf. Alles hörte er klar und deutlich. Nie war er so glücklich gewesen. Er erhob den Astrologen in den erblichen Adelsstand. 69
Tief im Innersten bewegt wandelte König Gregor am Abend im Schloßpark, lauschte dem Gesang der Nachtigall. Frühling ringsum. – Aber was war das? Dies Jahr blieb der Lenz duftlos. Der Wald, die blühenden Wiesen rochen nicht, ebensowenig die Maiblumen und Narzissen, welche der König pflückte. Er eilte heim zu seiner Gemahlin, stürzte in ihre Gemächer, warf den Klavierlehrer zum Fenster hinaus und vergrub schluchzend die königliche Nase in den üppigen Busen.
»Aber Gregor! Reg dich nicht unnötig auf, wir haben nur einige Fingerübungen machen wollen«, tröstete die Königin. Der König stöhnte: »Nein, das ist es nicht. Schreckliches ist geschehen. Dein Busen duftete stets so ganz besonders, wie eine Mischung von Lilienparfüm und Wildpret. Ich rieche nichts mehr.« Die Königin eilte zum Toilettentisch, nahm eine Flasche Eau de Lis triple extrait und schüttete es dem Gemahl über den Kopf. Er brach in Tränen aus: »Nichts, 70 gar nichts kann ich riechen. Ich habe eine furchtbare Dummheit gemacht, ich habe mir meinen Geruchssinn stehlen lassen.«
Beim Frühstück schimpfte er: »Ihr habt mir Kaffee-Ersatz gegeben. Das ist Majestätsbeleidigung, alle sollen ins Gefängnis.« Es gelang schließlich, ihn zu überzeugen, daß der feine Mokka nur für ihn geruchlos blieb. Und beim Mittagsmahl war Schweinsbraten und Sauerkraut ohne den gewohnten Duft, der Moselwein ohne Blume. – Als dann der König am Nachmittag sein Leibregiment inspizierte und nichts mehr von dem wundervollen, säuerlichen Ledergeruch der Soldaten verspüren konnte, den er so geliebt hatte, brach er seelisch völlig zusammen. Er verurteilte den Astrologen zum Verlust des Adels und ließ ihn aufhängen.
Feierlich, vor versammeltem Ministerrat, erklärte dann der König: »Demjenigen, welcher mir meinen Geruchssinn wiederverschafft, verspreche ich zum Zeichen meines königlichen Dankes die Hand meiner Tochter.« – Sie war ein anmutiges, blondes Mädchen von siebzehn Jahren. Prinzessin Ludmilla hieß sie. So verlockend das Angebot war, fand sich niemand, der imstande war, seiner Majestät wieder das Riechen zu ermöglichen. Monate vergingen, der König verfiel in tiefe Melancholie. Stundenlang durchschlenderte er die Umgebung seiner Residenzstadt, nur von einem getreuen Diener begleitet.
Auf einer dieser Wanderungen sah er im Straßengraben einen Vagabunden liegen, mit verwildertem Haar und Bart, in schmutzige Fetzen gekleidet. Der goß sich gerade den Rest einer Flasche Schnaps in den zahnlosen Mund. »Was ist das für ein Kerl?« fragte der König den Diener. »Verzeihung, Majestät, das ist der alte Schmecks, ein stadtbekannter Armenhäusler. Aber die andern 72 Insassen dulden ihn nicht mehr im Armenhaus, denn er ist so unreinlich, voller Ungeziefer, versäuft jeden erbettelten Pfennig, läßt alles unter sich gehen und verpestet mit seinem penetranten Gestank die ganze Umgebung. Nun ist er wohl obdachlos, ein Landstreicher.« Der König ließ ihm einen Taler reichen. Da sprang der Zerlumpte auf, schwankte auf den gütigen Spender zu, um ihm zu danken. Der wich erschrocken zurück. Doch plötzlich blieb er stehen, lehnte mit verklärtem Gesichtsausdruck das Haupt zurück und sog die Luft durch weitgeöffnete Nasenlöcher ein. Er rief: »Schmecks, ich rieche dich. Du hast mich geheilt. Ich werde mein königliches Wort einlösen.«
Als der Prinzessin Ludmilla ihr Bräutigam vorgestellt wurde, hielt sie es zuerst für einen schlechten Scherz ihres Vaters. Aber 73 dann sah sie, daß es ernst war, stieß einen Verzweiflungsschrei aus und fiel in Ohnmacht.
Wieder wurde ein Ministerrat einberufen. Der beschloß, daß der Bräutigam auf Staatskosten chemisch gereinigt werden solle sowie entlaust. Auch ein Gebiß solle er erhalten. Schmecks war nicht entzückt von diesem Vorhaben, entwich heimlich aus dem Schlosse und wanderte nun wieder, frei und unbeschwert, auf den Landstraßen dahin.
Inzwischen war auch Prinzessin Ludmilla entflohen und hatte sich in den Schutz eines benachbarten Reiches begeben. Dessen junger Herrscher verliebte sich sofort in sie und führte sie zum Altar. Dadurch entstanden kriegerische Verwicklungen. König Gregor verlor Land und Thron.
Als »Gregor der Geruchlose« ist er im Buche der Weltgeschichte verzeichnet. 74