Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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Die Sonne sprühte auf fernen Berggipfeln zwischen Haufenwolken im Untergang. An hohem Waldsaum über der Schlucht der Aa stand Hilde. –

Es ist nicht leicht, zum letztenmal in die sinkende Sonne zu sehen. Nun war das Gestirn versprüht – nur an den Bergen hing noch sein Strahl. Hilde warf noch einen Blick auf das in blauen Schatten unter ihr liegende Dorf – eine Handbewegung, als ob sie Tränen, die nicht da waren, aus den Augen wischen wolle – und die einsame Wanderin schritt in die dämmerige Schlucht. Die große Angst, der große Kampf waren vorüber, wie in steinerner Ruhe ging sie ohne Hast, ohne Rast tief in sich versunken. Ihr war, jedes körperliche Gefühl, jede körperliche Schwere sei von ihr gefallen. Die Füße gingen ihr wie von selbst, und der Geist dachte und träumte still und hell, wie die denken und träumen mögen, die schon lange im Grabe liegen. Kinderlieder, die ihr viele, viele Jahre aus den Sinnen entschwunden waren, summten, sangen und klangen leise um sie, dazu das Lied, das die jungen Leute zu Weihnacht in der Herdhüßerschen Familie gesungen hatten:

»Das Müllirad ist broche –
Und d' Lieb, die hät en End!« –

Da stand die Buche mit dem glatten silbernen Stamm, in den Siegfried ihre Namen geschnitten hatte. Nun krampfte sich ihr doch die Brust. Sie ging hin, küßte die Züge und umschlang den Baum mit ihren Armen, als wäre es Siegfried. Sie ruhte. Eine verspätete Holzleserin und ihr Kind kamen unter schweren Bürden den Pfad daher. Sie blickte dem Paar nach, bis es im Waldesdunkel verschwunden war. Oh, wenn sie wie diese arme Mutter ein Kind hätte! Da ginge sie nicht in den Tod! Ihrer aber bedurfte niemand, um sie war die große, erschreckende Leere! –

Sie ging langsam ihres Weges.

Ob nun Siegfried, wenn er genesen war, die Marthe Burmester zum Weibe nahm? – Doch wohl! Aber sie durfte ihm deswegen nicht grollen. Von Anfang zu Ende ihres gemeinsamen schönen Traumes war er ihr ein lieber, edelmütiger und verständnisreicher Freund gewesen. Er ließ sie nicht leichtsinnig, sondern aus dunkel zwingender Macht. Keinen Schatten auf Siegfried! Seine Liebe glänzte ja doch wie versöhnende Weihe über ihrem jungen, zerschmetterten Leben.

Ein Stern fiel über dem Dunkel der Waldschlucht. In seinem Leuchten erglänzten die über Felsen und Blöcke sprudelnden Wasser der Aa. Warum muß ein Stern fallen, der seit grauer Ewigkeit durch die Himmelsräume zog und in Jahrtausenden nicht fiel? – Ein Rätsel! Über die schöne Erde geht so viel Mittelmäßigkeit und Nichtsnutzigkeit und lacht und scherzt und freut sich. »Ein feiner und gediegener Kerl« aber, der für sich nichts anderes als eine reine Lebensluft und eine treue Liebe begehrte, muß sterben! – Das größere Rätsel! – Hilde schrak zusammen. Zweige knackten. Eine Eule war vor ihr aufgeflogen. Wozu die Furcht? Wer so entschlossen den dunkelsten aller Wege geht, der hat die Furcht abgelegt!

Über einen Bergkamm hob sich der Lichtball des noch fast vollen Mondes. Da lag in seinem sanften Glanz auch schon der See, still wie ein Gebet – wie eine in Schönheitsgedanken, in Frieden und Ruhe aufgelöste Seele. Über das üppige Blätterwerk der Ahornbäume rieselten die Mondstrahlen. An hohen Bergspitzen schimmerte der Schnee. Auf den Wassern glänzten die geheimnisvollen, weißwächsernen Seerosen wie Geistertraum; und darin lag der morsche, ungeschlachte Fischerkahn.

Ein wenig ruhen! Auf dieser Bank war sie oft mit ihrem Vater gesessen – und am Abend vor dem Abschied mit Siegfried. Da hatte er mit ihr das Luftschloß von einem Ferienhäuschen in St. Agathen gebaut. »Und nun, Siegfried«, flüsterte sie, »sind es die sechs Bretter der langen, großen Einsamkeit!« – Sie horchte. – Nein, niemand kam sie suchen, niemand wußte um ihre Spur. Sie legte ihren Hut und ihr Tuch auf die Bank. Die morgen vorübergingen, mochten daraus erraten, welchen Weg sie gegangen war – und auf dem Gottesacker der Heimat würde sie bestattet, auf dem Kirchhof, der die Asche ihres Vaters barg, und über dem die abendroten Schneeberge leuchteten wie die Kündiger einer höheren und reineren Welt. –

Sie träumte lange, lange. Da horch! – Durch die Nachtstille kamen von St. Agathen wie Grüße, die nach ihr riefen, die dumpfen Elfuhrschläge. Ein leiser Jammer über ihr junges Leben bebte durch ihre Seele – wundersam weiche Stimmen baten und bettelten: Laß uns warten bis zum Sonnenaufgang!

Darüber erschrak sie. Sie kniete ins feuchte Gras. »Lieber Gott«, betete sie. »Ich danke dir, daß du denen eine Zuflucht gegeben hast, die nicht mehr leben können – du verstehst alles – du verzeihst alles – – – Vater! – Vater! – Hilf deinem armen Kind in der letzen großen Not!« – –

Sie erhob sich, schritt ans Ufer, löste den Kahn und trat hinein. Dann trieb sie ihn durch die Seerosen hinaus auf die mondsilberne Flut. – – –

Kreisende Ringe – –

Als aber die dumpfen Schläge der Mitternacht von St. Agathen herüber in die Berglandschaft klangen, waren die Ringe über dem lichten Spiegel der Wasser verebbt. Um den leeren Kahn lag der See still wie ein Gebet, wie eine in Schönheitsgedanken, in Frieden und Ruhe aufgelöste Seele.


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