Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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5

Der Ausflug ins Isartal hatte Hilde doch sehr wohlgetan. Als sie am Morgen die Ludwigstraße entlang gegen die innere Stadt ins Atelier ging, federten ihr die Glieder vor Jugendkraft. Sie fühlte sich auch innerlich frisch und frei und verstand gar nicht mehr, wie sie gestern über das Maß hinaus die Beute trüber und schwerer Gedanken hatte werden können. Die Gegenwart war für sie wohl ernst, ein Menschenkind aber wie sie, das konnte doch nicht verlorengehen! Das mußte im Lebenskampf siegreich bleiben. Jugendmut schwoll und drängte in ihr.

Als sie eine Gruppe Studenten in den Vorhof des Universitätsgebäudes schwenken sah, wandten sich ihre Gedanken zu Kuno Glür. Am Sonntag wollte er bei ihr vorsprechen. Das war morgen. Was verschaffte ihr wohl die Ehre? – Sie war doch neugierig.

Ihre Sinne gingen in die Heimat. Da hatten sich die Glür aus einfachen Verhältnissen und bescheidenen Anfängen durch den Fleiß, die Tüchtigkeit und geschäftliche Umsicht dreier Geschlechtsfolgen zu einer schon wegen ihres Reichtums weit und breit angesehenen Fabrikantenfamilie aufgeschwungen. Die Eltern Kunos wohnten gut bürgerlich in einem gartenumschützten Biedermeierhaus. Sein Vater, der sich jetzt vom Geschäft zurückgezogen hatte, war ihr Pate, eine Würde, aus der sich der Fabrikherr allerdings nie viel gemacht hatte und die er meist durch seine Frau vertreten ließ. Die besondere Sorge der frommen, strengen Dame war eine Missionsbüchse mit der Inschrift: »Für arme Heidenkinder.« Warf man einen Nickel hinein, so wackelte ein auf der Büchse aufgestellter Negerknabe mit dem Kopf, und ehe er nicht gewackelt hatte, war Frau Glür für ihre Besucher, selbst für das Patenkind, ein wenig taub. Sie ließ es seine sämtlichen auswendig gelernten Gebete hersagen, dann durfte es sich setzen und erhielt unter vielen Ermahnungen zur steten Frömmigkeit ihr gemessenes Patengeschenk. Als aber Klein-Hilde verständiger geworden war, widerstrebte es ihr, das landesübliche Neujahrsangebinde mit einem Nickel für den Neger und mit langen Gebeten zu erkaufen. Die Glückwunschbesuche wurden ihr sauer, sie unterließ sie, und stillschweigend löste sich das Patenverhältnis mit der Fabrikantenfamilie, das nie ein inniges gewesen war; doch nicht ohne daß ihr Ausbleiben etwas übel vermerkt worden wäre.

Es war also keine erhebende Erinnerung, die sie mit dem Haus des Schweizer Studenten verband.

Das junge Geschlecht freilich, zwei ältere Brüder, zwei Schwestern Kunos und er selber, waren anderer Art als die Mutter. Die Brüder, hervorragende Industrielle, die in prächtigen Villen wohnten, brachten ihre Geschäftstüchtigkeit sehr gut mit modernem Lebensgenuß in Einklang; die Schwestern waren gesellschaftsfreudige junge Damen; und Kuno, mit seinen achtundzwanzig Jahren schon ein bemoostes Haupt unter den Studenten, hatte im Volksmund von Jugend auf als verzogenes Sorgenkind und heimlicher Schlingel gegolten.

Hilde hatte ihn in der Heimat nur vom Sehen gekannt, und auch hier in München beschränkte sich ihr Verkehr mit ihm auf einen oberflächlichen Austausch von Heimatgedanken. Jedenfalls kostete er die Freuden der Universitätsjahre gründlich durch. Fragte man ihn nach seinen Studien und ihrem praktischen Ziel, antwortete er etwas schlau-wichtig: »Ich habe ein sehr schweres Fach erwählt und bereite mich vor, als juristischer Beirat in die Firma Glür u. Comp. einzutreten.« Ob er aber ernsthaft an ein Examen dachte? Sein größerer Ehrgeiz war, als feiner Kenner des studentischen Ehrenkodex und seiner Subtilitäten zu gelten und sich bei akademischen Zwistigkeiten als unparteiischer Sachverständiger zuziehen zu lassen. An seine eigenen Händel erinnerten die sich kreuzenden Säbelnarben in seinem durch die Kneipfreuden etwas schwammig gewordenen Gesicht. Nein, ein hübscher junger Mann war er nicht, aber die äußere gute Manier wahrte er, ging stets elegant gekleidet, und durch eine gewisse Protzigkeit ließ er manchmal eine unaufdringliche Gutmütigkeit spielen, die ihm dann etwas Gewinnendes gab.

So weit kannte Hilde ihren studentischen Heimatgenossen.

Was für einen Zweck hatte aber sein angekündigter Besuch? – Aus ihren flüchtigen Begegnungen mit ihm wußte sie, daß er so gut wie andere Männer Augen für sie besaß. Wenn die Neugier nach ihren Zeichnungen nur der Vorwand für eine Annäherung, für die Einleitung einer Liebelei sein sollte, dann würde er sehen, wie er ablief! Doch da hatte sie den alten, großen Bau erreicht, in dem die Schule Professor Waldhiers lag. Die Tür führte in halbdunkle, lange Gänge, in denen die Papierballen einer Buchdruckerei und die Körbe einer Eßwarenhandlung aufgestapelt waren, und über ausgelaufene Treppen ins zweite Stockwerk empor. Da war das geräumige, aber für eine Bildungsstätte der Kunst außerordentlich nüchtern ausgestattete Atelier. Sein einziger Schmuck waren eine Anzahl Gipsmodelle, die das graugrüne Einerlei der Wände unterbrachen, ziemlich bestaubte Nachbildungen klassischer Werke, einige realistische Totenmasken von Männern, Frauen und Kindern sowie die Abgüsse von Händen und Füßen, das Übungsmaterial für diejenigen Schülerinnen, die am äußersten künstlerischen Anfang standen. Das Atelier war wegen des halbentblößten Modells stets überheizt, und da die Fenster auf einen großen, häßlichen Hof gingen, aus dem die Dampfwolken einer Lohnwäscherei emporstiegen, war die Luft immer schlecht.

Als Hilde wenige Augenblicke nach acht Uhr mit dem unter den Schülerinnen üblichen knappen »Guten Tag« in den Saal trat, saßen oder standen vor den dreißig Staffeleien, die um das Modell gruppiert waren, schon ein halbes Dutzend Damen fleißig bei ihrer Arbeit. Da war ihre Nachbarin, eine Schwedin, die sie wegen ihrer Wahrheitsliebe und goldenen Rücksichtslosigkeit besonders schätzte, dort stand die blondgescheitelte Hotelierstochter aus dem Schwarzwald, die erst kürzlich in die Schule eingetreten war, um eine ausgegangene Brautschaft in der Kunst zu vergessen, neben ihr die schöne kleine Schülerin aus Frankfurt, die nicht eine Spur Talent, aber ein so allerliebst zierliches Figürchen besaß, daß man sie am liebsten selbst auf den Modellschemel gestellt hätte. Auch das überlange norddeutsche Fräulein, der Gardeoffizier, wie es wegen seiner straffen Haltung und seines soldatischen Schrittes genannt wurde, war schon da und ihr Gegenstück, eine dicke, kugelige Dame aus irgendeinem Bodenseestädtchen, die, vierzig Jahre alt und halb ergraut, sich noch von den Träumen künstlerischen Ehrgeizes hatte überraschen lassen.

Nun war der Kranz der künftigen Malerinnen, unter denen Hilde manche bloß dem Namen nach kannte, vollständig, und um die dreißig in den verschiedensten Stellungen, doch im emsigsten Fleiß auf ihre Kartons hingebeugten Gestalten schwebte die eigenartige Stille und das eigenartige feine Geräusch der Arbeit. Dann und wann hob sich wie instinktiv ein Scheitel, lehnte die eine der Damen den Oberkörper zurück, trat eine andere etwas vor- oder rückwärts, um das Modell, das alte Blumenweib, besser zu sehen. Arbeit – eindringliche Arbeit!

Als Hilde das Werk der letzten vierzehn Tage überprüfte, wich das frische Kraftgefühl, das sie vom gestrigen Ausflug in Seele und Gliedern trug, einer tiefen Niedergeschlagenheit und stummen Verzweiflung. Gott, das war ja wieder keine Arbeit, der Professor Waldhier ein Lob erteilen konnte! Unnütz, an dem verfehlten Bild weiterzuarbeiten, und nur um nicht vor den Mitschülerinnen durch ihren Unfleiß aufzufallen, zog sie die zwei Stunden, bis der Professor zur Korrektur kam, Striche in das Bild des Blumenweibes, die nichts verbesserten und nichts verdarben.

Woran lag's, daß die Zeichnung gar so erbarmungswürdig geraten war? Diesmal, wie schon oft, am Modell! Sei es, daß Professor Waldhier sich nicht genug Mühe gab oder wirklich Schwierigkeiten begegnete, für die Klasse stets etwas Passendes und Geeignetes zu finden, er setzte seinen Schülerinnen die geringsten Modelle, die in München aufzutreiben waren, zur Darstellung vor, wiedergenesende Kranke aus den Spitälern, alte, arbeitsunfähige, oft auch abgetrunkene Männer und jene frechen jungen und alten Weiber, die das Modellstehen von Kindheit als Beruf trieben und, nachdem sie durch die Künstlerateliers gepeitscht waren, endlich in die Schulen herniedersanken. Erst wenn die Schülerinnen wegen der geringen Modelle in ein anderes Atelier davonzulaufen drohten, stellte er endlich wieder einmal ein ansprechendes oder selbst in seiner Häßlichkeit anregendes Modell auf den Schemel; nachher kam wieder das Elend. Aber noch nie hatte er seinen Schülerinnen ein so abstoßendes Modell vor die Augen gebracht wie dieses alte Blumenweib, freilich mit dem Versprechen, die Damen nachher durch ein jugendlich hübsches Modell zu entschädigen.

Das Modell trug die Spuren ehemaliger Schönheit im verwüsteten, doch nicht einmal häßlichen Gesicht, das von einer Menge kleiner Löckchen umgeben war. Im Anfang, als Hilde in dem Weib nur die Reste einst blühender Jugend sah, hatte sie mit gutem Erfolg gearbeitet. Je schärfer sie aber in die Züge des Modells eindrang, desto deutlicher spürte sie darin den Ausdruck der Gemeinheit. Das von allen Leidenschaften verdorbene Gesicht und die schlaffen, fettweichen Formen nun Tag um Tag und zwei Wochen lang mit zeichnerisch scharfen Augen betrachten zu müssen, war für einen schönheitssinnigen Menschen Sträflingsarbeit. Doch nicht genug! Wenn das Modell zur Erholung von seinem Schemel steigen durfte, war es eine unleidliche Schwätzerin. Halb unterwürfig, halb frech erzählte es den Damen mit einer widrigen Süßlichkeit der Stimme und mit dem Ausdruck lüsternen Nachgenießens von den Liebesabenteuern ihrer Jugend. Als sie hörte, daß Hilde eine Schweizerin sei, da zwang das Weib auch sie zur Aufmerksamkeit, sprach mit falschem Entzücken von den Schweizerbergen, die sie auf einer Sommerfahrt mit einem jungen, adligen Studenten kennengelernt habe. Im Sprechen rückte sie Hilde stets näher. Das Weib hatte einen stechenden Atem. – Ekelhaft!

Hilde seufzte. Aus der Stickluft des Ateliers, dem Zwang der konventionellen Schulaufgabe, der Langeweile und dem Widerwillen, den das aufgedrängte Modell erregte, flogen ihre Gedanken in die schönen Landschaften des bayrischen Gebirges. Bei Bauersleuten eingemietet, hatte sie ein paarmal an den Gestaden der Bergseen in wohltätiger Einsamkeit und Freiheit Ferien verlebt. Da waren ihr aus herzlicher Teilnahme am Leben, an Freude und Leid des Volkes, die Lust am Sehen, der schöpferische Trieb, die reiche künstlerische Phantasie, wie nie im Atelier, erwacht, und aus den stillen, arbeitsreichen Tagen in Dorfstuben und Bauerngärten hatte sie ihre besten, reifsten Zeichnungen und gemalten Bilder mit sich in die Stadt zurückgebracht. Neben Landschaftlichem auch Figürliches; eine auf dem Felde rastende Mutter und ihr Kind; einen Bauern, halb Geizhals, halb Philosoph; die Großmutter, die in die Sterne guckt; allerlei Anmutiges, allerlei Ernstes und, wenigstens nach ihrem Empfinden, jedes Bild beseelt vom Vollgehalt der Stunde und der Stimmung, jedes ein Zeugnis unmittelbarer Schaukraft.

Die Schöpfungen aus freier Wahl boten ihr einen deutlichen Fingerzeig, welchen Weg ihre junge Kraft einschlagen sollte. Aus Trieb und Stimmung nach Modellen schaffen, die ihrem künstlerischen Bedürfen und ihrem Schönheitssinn entsprachen – das wäre das Vorwärtskommen! Der Haken bei dem freien Gestalten war nur: wer korrigierte ihr die Arbeiten? Selbständig genug, um der Führung und Kritik eines Lehrers zu entraten, fühlte sie sich doch nicht. Und da mußte sie dankbar anerkennen, daß ihr gerade Professor Waldhier in seiner Art ein vorzüglicher Lehrer war. Seine Urteile, selbst wenn sie zuweilen ihren stillen oder offenen Widerspruch erregten, waren stets überlegt, gehalt- und wertvoll. Wenn er nur die lehrreichen Korrekturen nicht in den schmalen acht- oder vierzehntägigen Tropfen gegeben und der Klasse ansprechendere Modelle gestellt hätte!

Die Modelle waren die wunde Stelle ihres Schulschaffens. Sie wußte sich in fast peinigender Weise von ihnen abhängig. Vermochte irgendein Merkmal der Gestalt, die sie zeichnete, ein edles Lineament, der belebte Bau, der seelische Ausdruck eines Gesichtes oder der anmutige Schwung eines Zackens oder einer Schulter ihren Schönheitssinn zu fesseln, dann waren auch die Quellen ihres Könnens ausgelöst. Wenn aber eine Modellfigur abstoßend auf sie wirkte – und wie oft war es in der Klasse der Fall –, dann versagten ihr in beklemmender Weise Auge, Hand und Stift. Doch noch nie wie vor diesem Blumenweib! –

»Fräulein Rebstein, Sie machen ja ein Gesicht, als ob Sie eben dem Untergang Jerusalems beigewohnt hätten.

Wozu gut?« unterbrach die Schwedin plötzlich und lachend Hildes Träumerei.

Das Scherzwort, in seiner befreienden Fröhlichkeit ein seltener Vogel im Atelier, fand einen Widerhall in der gesamten Klasse. Hilde selber lachte aus Verzweiflung tapfer mit, aber bald beruhigte man sich über die erheiternde Unterbrechung wieder im Ernst der Arbeit. Ja, die Schwedin! Einer ihrer trocken dahinscherzenden Bemerkungen getreu: »Wer ans Ziel kommen will, darf den Kot nicht scheuen«, hatte sie von allen Schülerinnen am meisten aus dem Blumenweib zu gestalten verstanden. Hilde hatte den Kot gescheut.

»Guten Tag, meine Damen!« Professor Waldhier schob sich durch die Tür. Und jeder von den dreißig Schülerinnen pochte das Herz stärker.

Waldhier war ein kleiner und zierlicher Mann, dessen Erscheinung die Mitte zwischen künstlerischer Leichtigkeit und bürgerlich gediegener Ruhe hielt. Nur der Kopf war an ihm bedeutend, bedeutend trotz des dünnen Haares und Bartes, die in einer nichtssagenden Mißfarbe zwischen Blond und Rot spielten. Seine geistige Kraft lag in den starkgebauten Stirnecken und in dem nicht großen, aber sehr lebhaften und durchdringenden Augenpaar. Schon hatte er diesem, wie stets bei der Korrektur, den goldenen Zwicker vorgeklemmt und die Arbeit bei der blondgescheitelten Schwarzwälderin mit einem zurückhaltenden »Nicht übel!« begonnen.

Je nachdem er nun den Kreis nahm, war Hilde in der Reihenfolge der Korrektur die Dritte oder die Zweitletzte. Wenn sie nur die Dritte wäre, damit die nervöse Spannung, die sich ihrer vor der schlechten Zeichnung bemächtigt hatte, rasch vorüberging! Na, wenn er Nachsicht mit der Schwarzwälderin übte, deren Können noch vollständig in den Windeln lag, dann durfte auch sie auf ein gnädiges Urteil hoffen, obgleich er an sie unter allen Schülerinnen stets den strengsten Maßstab legte. Jetzt aber bekam die Schwarzwälderin nach ein paar kärglichen Worten der Befriedigung ein niederschmetterndes Kapitel von Aussetzungen zu hören: »Ganz falsche Verhältnisse – nur da und dort eine verstandene Form. Das Gesamte aber doch hart und unmöglich. Na, gut, daß das Frauenzimmer nur gezeichnet ist; wenn es lebte, würde ihm der Kopf wehmütig über die knochenlose linke Schulter hinuntersinken.« Der Strom seiner kritischen Bemerkungen lief hastig fort, es war fast unbegreiflich, wieviel er in ein paar Augenblicken in einer Schülerzeichnung sah.

»Aber mein Zeichnungslehrer in St. Blasien hat gesagt –«, wollte die Schwarzwälderin einwenden.

Da stand aber Waldhier schon hinter der Schwedin. »Was Ihr Zeichnungslehrer in St. Blasien sagt, das geht mich gar nichts an. Die Zeichnungslehrer draußen in der Provinz sollte man alle in Spiritus setzen. Schmecken ein halb Jahr nach München herein, und nachher hat ihre Dummheit und Einbildung kein Ende«, grollte er nach der Schwarzwälderin zurück. Die Berufung auf andere Lehrer verdarb ihm stets die gute Laune. Fast stumm und nur mit Strichen, aber augenscheinlich von der Arbeit befriedigt, korrigierte er das Bild der Schwedin mit ungewöhnlicher Sorgfalt.

Jetzt kam er zu Hilde. Schweigend betrachtete er ihr Werk, unheimlich lang schweigend. Eine verräterische Röte stieg in sein Gesicht. »Sie sehen allerdings das Modell durch eine so eigenartige künstlerische Individualität an, daß ich Ihnen nicht mehr zu folgen vermag«, versetzte er mit einer Anspielung auf eine ihrer Antworten von früher in verletzender Kälte. »Was denken Sie denn selber über Ihre Arbeit?«

»Sie ist schlecht«, antwortete Hilde in zitternder Ruhe. Der Augenblick war jetzt gekommen, Professor Waldhier zu sagen, was sie gegen das Modell auf dem Herzen hatte, aber vor diesem selber konnte sie doch nicht sprechen. Sie wollte mit dem geringen Weib keine Händel. Wenn sie es Waldhier französisch sagte. Aber er verstand nicht Französisch.

Und er mißverstand ihr überlegendes Schweigen – und hielt es für Trotz.

»Sie können ja nicht einmal den Kopf auf den Akt setzen«, stieß er vor Ärger erbleichend hervor. »Ich habe Sie mit Erwartungen in mein Atelier aufgenommen, aber Sie sind mir eine große Enttäuschung geworden.«

»Darf ich Ihnen einmal die Bilder zeigen, die ich in den Ferien gezeichnet habe?« stammelte Hilde.

»Was gehen mich die Bilder Ihrer Ferien an«, erwiderte Waldhier wegwerfend und machte sich bereits mit der Zeichnung der kleinen Frankfurterin zu schaffen.

»Dann gestatten Sie mir, daß ich Ihr Atelier verlasse«, bebte die gequälte Stimme Hildes.

»Ich halte Sie nicht«, versetzte Waldhier, die Schulter zuckend.

Über dem Wortwechsel entstand eine mächtige Bewegung in der Klasse.

»Oh – oh, Fräulein Rebstein – das tut uns aber leid!« rief die Schwedin, und »der Gardeoffizier«, die lange Norddeutsche, stieß in der Aufregung so stark an ihre Staffelei, daß diese mit dem aufgespannten Rahmen unter krachendem Gepolter zu Boden fiel. Dadurch wurde die Verwirrung noch allgemeiner. Sämtliche Schülerinnen blickten nach Hilde, jede nach ihrer Art, verwundert oder scheu, teilnahmvoll oder schadenfroh. Solange sich die Damen erinnerten, war es ja nicht vorgekommen, daß der Professor eine Schülerin so leicht hatte gehen lassen. Und nun gar Fräulein Rebstein, die in der Klasse doch stets als die tapferste und begabteste Kollegin angesehen worden war.

Ihr Kopf glühte, aber sie bewahrte die äußere Ruhe. »Ich werde meine Materialien durch einen Dienstmann abholen lassen«, wandte sie sich an Waldhier. In höflicher Kürze verabschiedete sie sich von ihm und den bisherigen Mitschülerinnen und verließ mit hoch und stolz erhobenem Haupt und in scheinbarer Gelassenheit das Atelier.

Zum Zusammenbrechen war ja noch Zeit genug!


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