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Der Alpdruck des gestrigen Abends war von Hilde gewichen, aber friedlich war ihre Seele im sonnigen Neujahrsmorgen doch nicht. Weg mit dem grünen Kranz, der sie an den Abend erinnerte!
Da fiel ihr ein, wie grauenhaft ihr von dem Kranz geträumt hatte. Wie war der Traum gewesen? – An einer Waldquelle der Heimat saß sie im lichten Maien, und froh über das Gewind im Haar sang sie ein Lied aus ihrer Kinderzeit. Da kam ihr Vater mit seiner Zeichenmappe den Waldweg daher, erst lächelnd, dann ernst und blaß. »Wie magst du singen, arme Hilde, du blutest ja unter deinem Kranz hervor!« Da merkte sie, daß in dem Gewinde Dornen saßen und ihr tief ins Haupt gedrungen waren, schmerzend und brennend. Sie riß den Kranz von der Stirn. In warmen Bächlein rann ihr das Blut übers Antlitz. –
Nein, nicht mehr daran denken, den schweren Traum in den Wind schlagen, mit ihm abschütteln, was sie dazu noch von der Indierin geträumt hatte, von ihrem Augenspiel und ihrem granatroten kleinen Mund, und die abergläubische Anwandlung überwinden, die ihr die Seele schnürte! Es war doch so natürlich, daß der tolle Abend sich in tollen Träumen weitergespielt hatte – und nun freudig Siegfried Kulbach erwarten! Die innere Freudigkeit wollte sich aber nicht einstellen. Hilde kam eben über Erlebtes nicht gleich hinweg. Das überraschende Schmollis mit Dombaly und sein Stirnkuß gaben ihr zu denken. Wie manche feine und unsichtbare Schranke zwischen Mann und Weib wird durch das vertrauliche »Du« niedergerissen, wie manches darf durch das kleine Wort von Seele zu Seele fluten, was das förmliche »Sie« wie ein zartes Sieb zurückbehält. Überhaupt, wie stand sie mit Dombaly? – War in Zukunft noch das schöne, kameradschaftliche Nebeneinanderarbeiten möglich, das sie bisher in einer untadeligen Herzlichkeit verbunden hatte? Manchmal war ihr doch, als ob in der ritterlichen und vornehmen Art, in der zarten Hochachtung, mit der er sie vor seinem übrigen leichtlebigen Damenverkehr auszeichnete, eine stille Verliebtheit verborgen wäre – vielleicht halb unbewußt und platonisch, die edelste, reinste Liebe, die er je für ein Frauenwesen empfunden hatte. Aber doch Liebe? Nein, da sei Gott vor! Aus vielen, vielen Gründen durfte zwischen ihr und Dombaly nur eine achtungsvolle Freundschaft bestehen, eine Freundschaft, die sich nur auf die Kunst und die Dankbarkeit gründete. Anderes fühlte sie für den leichtsinnigen Künstler nicht, der, wo immer sich ein schöner Mund darbot, ungescheut küßte. Wollte er einen Freundschaftsbeweis, selbst zum höchsten war sie bereit – wollte er von ihr ein Liebeszeichen, da versagte ihre Seele.
Ihre junge Liebe gehörte Siegfried Kulbach!
Seine Stimme drang vom Flur. Er fragte nach ihr – sie erglühte, ihr pochte die Brust schmerzhaft –, da war er! In einer fast kühl anmutenden norddeutschen Höflichkeit überbrachte er ihr zum Neujahrsgruß leuchtende Rosen, aber von seiner festtäglich gewählten, frischen Erscheinung strömte ein Hauch gesunden Menschentums, ein reinerer Odem auf sie über, als sie von dem nächtlichen Fest mit sich heimgetragen hatte, und ihr war, der liebe Gast schenke ihr eine Würde wieder, die sie gestern bei Dombaly unmerkbar verloren hatte.
Mit ein paar Worten erzählte sie ihm von der glänzenden Gesellschaft. »Aber daß Sie nur ja nicht denken, das sei meine Welt! Der Tag am Kesselberg war viel schöner!«
Die gemeinsame Erinnerung zerstreute die anfängliche gegenseitige Befangenheit.
»Und jetzt darf ich Sie zu einer Stunde Schlittschuhlauf im Englischen Garten abholen?« bat er. »Wieland ist bereits dort.«
»Gott, wie gern gehe ich an die frische Luft«, sagte sie mit einem halblustigen Seufzer.
Während sie nach ihren Schlittschuhen langte, ließ er einen forschenden Blick durch ihr Zimmer und auf ihre Bibliothek gehen.
»Ich wohne sehr einfach«, sagte Hilde, »meine Kunstanfänge gestatten mir noch nicht viel Besseres.«
»Aber Ihr Stübchen verrät doch die junge Dame von Gemüt und Geschmack, den wählenden Blick und die liebevollen Hände der Künstlerin.«
Hilde erbebte von innerem Glück beim Klang seiner stets wärmer werdenden Stimme, ihr war, als erfüllte sich ihre Dachkammer durch seine Worte mit Sonne. »Und dort der junge Goethe«, lächelte er. »Ist Ihnen Goethe so besonders lieb?«
»Ja, meine Bücher alle«, erwiderte sie. »Ehe ich Dombaly und durch ihn die Familie Herdhüßer kennenlernte, lebte ich sehr einsam. Da habe ich in vielen stillen Stunden erfahren, was für Freunde und Tröster die Bücher sind. Eine lange, hoffnungslose Zeit des künstlerischen Suchens und Tastens hätte ich ohne sie kaum überwunden. – Gehen wir, Herr Kulbach?« –
»Oh, die herrliche, sonnige Luft!« jubelte sie.
Er aber nahm das vorige Gespräch wieder auf. »Ich bin von Ihnen beschämt, Fräulein Rebstein«, sagte er nachdenklich. »Auf dem Gymnasium ließ ich mich seinerzeit auch mit der vollen Wärme der Jugend für die Literatur begeistern, dann geriet ich aber in den Bann der Technik und mußte manches brach liegenlassen, Literatur und Kunst.« Damit kam er auf Doktor Herdhüßer zu sprechen, der seine Teilnahme weit über die Schranken der Industrie hinaus künstlerischen, wissenschaftlichen und sozialen Bestrebungen widme. Ihm sei der Doktor ein Lebensvorbild, und wenn er erst einmal in den großen technischen Aufgaben Fuß gefaßt und ein eigenes Heim gegründet habe, dann gedenke auch er aus der Einseitigkeit der Facharbeit sich herauszuwinden, sich den Blick für die allgemein menschlichen Fragen zu weiten und frisch mit dem gesamten geistigen Leben in Verbindung zu treten.
Dabei gab er Hilde einen sonderbaren, fragenden Blick, und eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht.
Wie anmutig, wenn Siegfried Kulbach errötete! Der volle Zauber keuscher Männlichkeit, Gesundheit und Kraft webte um sein Wesen. Sie waren im Englischen Garten angekommen, und wie er sich mit ihr bei den Klängen eines Militärkonzertes auf dem See von Kleinhesselohe durch die festlichen Menschen wiegte – oh, darin lag eine tiefe Harmonie der Bewegungen und der Seelen, ein schönes, stummes Sichverstehen.
Ein paarmal war Gustav Wieland herangeschwärmt. Jedesmal wußte er Hilde mit gutem schwäbischem Humor etwas Fröhliches und doch Unverfängliches zu sagen, und als das Spiel der Musik nach einem Stündchen zu Ende ging, gab es sich wie von selbst, daß die beiden Freunde sie aufforderten, mit ihnen das Mittagsmahl in ihrer Pension einzunehmen.
»Sie müssen doch auch mal meine Arbeitsstube sehen«, bat Siegfried die Zögernde. –
Das Zimmer war eine Werkstätte schaffenden Geistes, unentwegten Fleißes, hoffnungsvollen Werdens; mit den vielen technischen Zeichnungen auf den Tischen und an den Wänden eine ihr vom Vater her vertraute Welt. Nur waren es keine Spinn- und Webstühle, wie dieser sie auf dem Kontor der Firma Glür u. Comp. gezeichnet hatte, sondern elektrische Lokomotiven, Wasserwerke und Übertragungsanlagen.
Sie las: »Dynamo für die Metropolitanbahn in Paris, zehntausend Pferdekräfte – Beleuchtungsanlagen in Buenos Aires«. – Nach Ägypten, nach Rußland und China, durch die gesamte Welt führten die Namen.
»Da zeichnen wir stets bis Mitternacht an unseren Plänen«, erklärte ihr Gustav Wieland. »Dafür hängt fast an jedem Namen für Kulbach eine große angebotene Stelle. Er darf nur wählen« – er spreizte die Hände –, »und jeder Finger bedeutet einen Direktortitel. Das ist Erfolg!«
»Und Sie?« fragte Hilde.
»Ich gehe im Herbst nach Württemberg zurück«, erwiderte Wieland, »wir haben dort eine eigene kleine Fabrik, die auszubauen mein Ehrgeiz ist.«
Aus einem Gefühl der Hochachtung für soviel Arbeit wurde Hilde stumm. Ihre Augen aber glänzten. Was sie hörte und sah, bewegte sie auf das tiefste, auch die Bilder aus Holstein, die ihr Siegfried wies: Vater, Mutter, Geschwister, das Herrenhaus von Holm. –
»Und dieses Fräulein hier ist eine Jugendfreundin von einem benachbarten Schloß.«
Marthe Burmester, durchzuckte es Hilde – ja, eine stolze und schöne Erscheinung.
»Frau Herdhüßer hat Ihnen von dem Fräulein gesprochen«, lächelte er etwas verlegen, »darum zeige ich Ihnen das Bild.«
Auch Hilde wurde verlegen.
»Es ist nur ein Erinnerungsstück«, sagte er bedeutungsvoll und legte es wieder in eine Truhe. »Begrabene Jugendpoesie, für die es keine Auferstehung gibt.« Seine Augen blickten voll milden Ernstes in die Hildes – zusichernd, beruhigend.
Sie war aber doch sehr erregt und froh, als die beiden Freunde vorschlugen, einen weiten Nachmittagsspaziergang zu machen.
»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Rebstein«, fügte Siegfried Kulbach hinzu, »besuchen wir gegen Abend die Familie Herdhüßer, um ihr noch unsere Glückwünsche darzubringen.«
Ja, daran hatte sie auch schon gedacht. Der Gang wurde um so schöner, als sich Gustav Wieland bald von ihnen trennte, besonders schön der gemeinsame Heimgang nach Schwabing. Sie schienen sich nur allein auf der Welt zu gehören, und aus dem Frage- und Antwortspiel, wieviel ihr die Kunst in ihrem Leben sei, ob neben der Kunst vielleicht auch einmal die Liebe Raum haben würde, ob sich ihr Schweizer Heimatsinn mit dem Gedanken versöhnen könnte, ein dauerndes Lebensglück auf deutscher Erde zu finden, aus jedem seiner Worte spürte sie sein Liebessuchen, vernahm sie den Drang seiner Seele, sich zu vergewissern, daß sie kein Nein für ihn hatte, wenn er einmal den größten aller Schicksalsentscheide von ihr forderte. Beim Abschied bat er sie, daß er dann und wann wieder nach ihr sehen dürfe.
Mit welch heimlich jauchzender Wonne wollte sie Siegfried erwarten!
Nein, ein Stürmer und Dränger war er nicht, aber ein feinfühliger Mann voll freudiger Lebenszuversicht. Was ihm aus männlich tiefem Gemüt erströmte, das atmete Ehrlichkeit und Treue, Klarheit und Wahrheit, die siegreiche Kraft eine Siegfriednatur. Sie konnte für sich auf Gottes Erde ein schöneres Los nicht denken, als das treue Weib des Mannes zu werden, der sich aus eigener Stärke einen großen und ehrenvollen Weg bahnte, als in seiner Liebe den Ersatz jener Herzensheimat zu finden, die sie mit dem Tod des Vaters in der wirklichen Heimat verloren hatte.
Selig träumte sie, in junger Liebe selig!