Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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16

Schon war die Unterrichtsstunde vorbei, und Hilde hatte sich mit den Kindern zu einem geographischen Spiel gesetzt, bei dem das Dreiblatt einen winzigen Eisenbahnzug über eine tischgroße Landkarte laufen ließ. Die kürzeste Linie München–Lübeck? das war die Frage. Hermann, der schon etwas von der ritterlichen Art seines Vaters besaß, lächelte leise über Hilde: »Sie kommen ja mit Ihrem Zug nach Königsberg!« –

In der freudigen Erwartung Siegfried Kulbachs war es ihr fast unmöglich, die Aufmerksamkeit auf das Spiel zu sammeln – mit den Kindern lachte sie über ihre große Zerstreutheit.

Da trat Doktor Herdhüßer ins Zimmer. Er war eben von einem Ausgang heimgekommen, aus seinen Kleidern strömte noch der Winterduft.

»Ah, unsere Hilde! Sehr erfreulich! Aber die Kappe zu waschen habe ich Ihnen«, lachte er schalkhaft, und er schien ihr aufgeräumter und frischer denn je. »Was sind das für Geschichten, daß ich nicht erfahre, wenn Sie ein Werk zu verkaufen haben. Sie wissen doch, daß ich auch ein wenig Kunstliebhaber bin!« Der Vorwurf klang herzlich wohlwollend.

Sie waren in das Arbeitszimmer des Doktors gegangen.

»Ich wagte es nicht, Ihnen das Bild anzubieten«, entschuldigte sich Hilde.»Es ist doch noch ein sehr anfängerisches Werk!«

»Nanu, lassen Sie die anderen kritisieren!« versetzte der Doktor mit einem zerdrückten Lächeln, das froheste Laune verriet. »Und wer, denken Sie, hat das Blatt gekauft?«

»Ich guckte diesen Abend bei Kunz und Abel ins Schaufenster«, gestand Hilde, »da schien es ein bißchen die Neugier eines jungen Paares zu erregen.«

»Nun habe aber auch ich die Gewohnheit, auf meinen Spaziergängen durch die Stadt da und dort in einen Kunstladen zu treten und mir die neuen Eingänge anzusehen. So kam ich durch einen glücklichen Zufall kurz nach dem Paar, das sich von Ihrem Kinderköpfchen fesseln ließ, zu Kunz und Abel, fand das Bild von der Unterhandlung her noch auf dem Ladentisch, und unter Berufung auf unsere Bekanntschaft kaufte ich es dem Paar vorweg, das bis morgen Bedenkzeit erbeten hatte. Noch heute abend kommt das Blatt gerahmt ins Haus. Ob Sie mit dem Käufer auch so zufrieden sind, Hilde, wie ich mit der Erwerbung?«

Ein inniges Lächeln spielte um ihren Mund: »Ich danke Ihnen – ich könnte mein kleines Werk in keinen besseren und lieberen Händen wissen!«

Der Doktor sonnte sich an dem warmen Aufleuchten ihres Gesichts.

»Und nun bitte ich Sie doch lebhaft, wenn wieder eine Arbeit von Ihnen fertig wird, sie mir zuerst anzubieten«, sagte er. »Kaufe ich sie, so können Sie sich die Provision des Händlers ersparen; kaufe ich sie nicht, steht Ihnen der Markt noch offen. An der Zeichnung habe ich eine große Freude, weil sie unserer gesamten Familie ein Andenken an ein sympathisches Menschenkind sein wird und ein wirklich hoffnungsreiches Talent daraus spricht. Glauben Sie nicht, daß Sie eine besondere Begabung für das Kinderporträt haben?«

Der Doktor führte seine Unterhaltung, die Hilde wie Sonne zu Herzen drang, noch eine Weile fort, dann kündigte er ihr Unterrichtsferien bis in die ersten Tage des neuen Jahres an, rechnete mit ihr in einer Großmut, die sie still beglückte, und fragte sie nach ihren Weihnachtsplänen.

»Es geht mir so gut«, erwiderte Hilde, »daß ich mich schier vom Übermut zu dem Entschluß treiben lasse, die Meinen daheim mit einem Besuch zu überraschen. – Doch nein! Es würde mich zu schmerzlich berühren, die Weihnacht mit meiner wiederverheirateten Mutter in einer Familie zu verleben, die ich nicht kenne – ich verschiebe meinen Heimatbesuch auf den Frühling. Dann will ich mit meinem Bruder Adolf wieder einmal in unseren schönen Waldbergen umhersteigen!« Sie überlegte. »Dieses Jahr will ich Weihnachten noch in München feiern!«

»Wenn Sie sich nicht doch noch zur Heimfahrt entschließen«, versetzte der Doktor, »dann sind Sie selbstverständlich unser lieber Gast. Nein, auf den Heiligen Abend darf ich Sie nicht einladen, nach den Anschauungen meiner Frau sammelt sich um den Christbaum nur die engste Familie, aber am ersten Festtag erwarten wir Sie bestimmt. Da werden auch die Malersleute Steiger da sein – na, man wird ja sehen, wer noch. Sie wissen, daß Steiger bereits mit unseren Porträts beschäftigt ist?«

Hilde dachte etwas schmerzhaft an Dombaly. Da – ein Pochen!

Unter der Tür erschienen Frau Herdhüßer und – Siegfried Kulbach, der blonde, reckenhafte Nordländer.

»Fräulein Hilde Rebstein, eine Landsmännin meines Mannes – Herr Siegfried Kulbach, mein Landsmann«, stellte Frau Herdhüßer die beiden einander vor, und nur in einem flüchtigen Erröten, nur in einem raschen Aufglänzen der blauen Augen verriet sich die Freude Siegfried Kulbachs über die Begegnung.

Im stillen wunderte sich Hilde, wie konventionell sich das Wiedersehen dahinspielte, wie ruhig und gemessen sie beide dabei blieben. Sie hatte sich den Augenblick anders vorgestellt, aber wie eigentlich, wußte sie nicht. Und daß man gegenseitig Zurückhaltung beobachtete, war ja wohl auch das einzig Statthafte.

»Ich bin sehr erfreut, Fräulein, Ihre Spur wiederzufinden«, wandte sich Siegfried Kulbach mit einem ruhigen Lächeln zu ihr. »Mein Freund Gustav Wieland und ich fürchteten schon, daß Sie München verlassen hätten; nun aber weiß ich durch Hermann und Gertrud bereits, warum wir Sie auf dem Gang zum Mittagbrot nicht mehr sahen. Sie haben den Lehrer und damit den Weg gewechselt.«

Allmählich verlor sich das erste starke Gefühl der Befangenheit und des Fremdseins zwischen Hilde und Siegfried. Sie errötete vor Freude, als ein Laufbursche von Kunz und Abel das von einem einfachen mattgrauen Rahmen eingefaßte Bild der kleinen Ellen ins Haus brachte und der Doktor das Werk dem Gaste vorwies. Siegfried Kulbach sah daraus doch, daß sie keine Dilettantin, sondern eine heiß nach ihrem künstlerischen Ziel ringende Seele war.

Er ließ die starken blauen Augen in freundlicher Teilnahme auf dem Bild ruhen. »Ich wage dem feinen Lob des Herrn Doktors nichts beizufügen«, versetzte er, »und muß Sie um Entschuldigung bitten, Fräulein Rebstein, daß ich nicht kunstverständiger bin. Ich weiß wohl, daß eindringliche Kunstkenntnis ein wertvolles Stück allgemeiner Bildung ist, aber meine letzten Jahre waren durch die technischen Studien so ausgefüllt, daß mir selbst hier in München, an der Quelle der Kunst, die Zeit nicht blieb, mich in die Gemäldesammlungen zu vertiefen und zu einem eigenen Urteil über Kunstwerke zu gelangen.«

Das klang einfach und ehrlich, so recht wie die Sprache eines Mannes, der, seines inneren Wertes bewußt, nicht für mehr gelten will, als er wirklich ist. Was aber sein Mund verschwieg, das spürte Hilde aus seinem Blick: die herzliche Hochachtung für sie und für den Ernst ihrer Arbeit.

Frau Herdhüßer lud zum Abendbrot, der Doktor bot seiner Gemahlin den Arm, und sich an Hilde wendend, folgte Siegfried Kulbach dem Beispiel. Wie die Erfüllung eines Märchens kam es ihr vor, daß sie nun an der Seite des Mannes gehe, für den sie vom ersten Scheu an eine stille Zuneigung empfunden hatte. Je mehr sie aber die Stunde innerlich erlebte, um so stärkere Selbstbeherrschung und Ruhe bewahrte sie nach außen, und nur wenn das Wort an sie gerichtet wurde, nahm sie mit höflicher Antwort am Tischgespräch teil. Sie war auch Siegfried Kulbach, der sich mit dem Doktor angelegentlich über Fragen seines Studiums und der Technik unterhielt, dankbar, daß er es vermied, sie in ein tieferes Gespräch zu verwickeln. Dann und wann schweiften seine Augen ja doch zu ihr hinüber, wie wenn er erforschen wollte, ob auch sie einige Teilnahme für die Welt besäße, in der er lebte und von der er sprach. Und plötzlich lächelte er ihr zu: »Mit der Technik geht es Ihnen wohl wie mir mit der Kunst, Fräulein Rebstein – fremdes Land!«

»Oh, doch nicht ganz«, erwiderte sie. »Mein zu früh verstorbener Vater war Maschinenzeichner und Konstrukteur einer großen Fabrik. Da habe ich in meiner Kindheit häufig über technische Angelegenheiten sprechen hören, und Ihre Unterhaltung mit Herrn Doktor mutet mich schier wie Heimatgedanken an.«

Eine freudige Überraschung spielte in seinen Augen.

»Reizend! Das hätte ich bei unseren Begegnungen an der Leopoldstraße nie gedacht«, lachte er und ließ die großen starken Zähne blinken, »fast bereue ich es jetzt, daß ich stets einem Plan meines Freundes Gustav Wieland entgegengetreten bin, der unsere Bekanntschaft mit Ihnen schon früher herbeiführen wollte. Nur ein froher Schwabe kann auf solche Ideen kommen. Er beabsichtigte, sich Ihnen mal kurzweg auf der Straße vorzustellen. Wir im Norden denken aber über die Formen, die gegen eine Dame zu beobachten sind, strenger. Ich hielt ihn zurück. Und warum schon damals der Wunsch, Sie kennenzulernen? Wir sind eine Gesellschaft von Naturfreunden, Herren vom Polytechnikum und Damen, die wir aus der Pension kennen. Da stiegen wir je Sonntags, und zwar sommers und winters, wenn nur das Wetter nicht ganz schlecht ist, bald nach dieser, bald nach jener Gegend in das Gebirge aus. Und wie Sie so frisch und forsch durch Wind und Wetter gingen, vermuteten wir stets, daß Sie unsere Freude an Luft, Licht und Sonne teilen und den Sonntag wie wir lieber in Gottes freier Welt als in der Stadt verbringen würden. – Was hätten Sie wohl auf unsere Einladung erwidert, Fräulein Rebstein?«

Hilde errötete. »Ich weiß es im Augenblick nicht, aber wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich« – eine feine Schelmerei flog über ihre Züge – »wäre ich der Einladung gefolgt. Ich liebe die freie Gotteswelt, und ich habe sie bis jetzt nur einsam genießen können.«

»Da war es also doch ein kluger Gedanke, daß ich in die Familie Herdhüßer gekommen bin, um Sie wegen Ihrer Teilnahme an den Ausflügen zu sprechen und die Einladung nachzuholen«, versetzte Siegfried mit erwartungsvoller Höflichkeit.

Hilde sah die Doktorsleute fragend an.

»Wenn es Sie freut, warum sollten Sie nicht zusagen?« erwiderte Frau Herdhüßer. »Eine junge Dame kann sich unter keinen besseren Schutz stellen als unter den meines Vetters Siegfried.«

Ja, dessen war auch Hilde gewiß. Wie innig gefiel ihr Siegfried Kulbach, der in seinem Wesen eine ruhige, vornehme Klarheit mit dem Hochflug eines rasch kombinierenden Verstandes und mit seinem schönen Lebensernst zuweilen eine reizende Schalkhaftigkeit verband.

Freudig sagte sie sich für die Ausflüge zu.

»Ich weiß dir aber noch eine naheliegende Pflicht, Siegfried«, scherzte Frau Herdhüßer. »Du wirst doch heute abend Fräulein Rebstein das Heimgeleite geben. Ich beunruhige mich stets, wenn sie spät noch allein den Weg nach Schwabing unter die Füße nimmt.«

»Darf ich?« fragte Siegfried Kulbach, zu Hilde gewandt, »ich wohne ja selber auch dort draußen.« Und sie nahm dankbar an.

»Na ja«, lachte der Doktor, »kurzweiliger wird's ja schon sein, aber die Angst meiner Frau, wenn Fräulein Rebstein allein geht, verstehe ich nicht. Unsere hochgemute Hilde darf doch mehr wagen als andere. Sie gehört zu jenen, die den rechten Weg selbst um Mitternacht mit verbundenen Augen fänden.«

Siegfried Kulbach fühlte den tieferen Sinn des Wortes, und aus seinen blauen Augen glitt ein Strahl stummer Zustimmung über die Gestalt Hildes.

Sie verlebte einen wonnigen Abend, und als der Aufbruch kam, empfand sie den Heimgang an der Seite Siegfrieds in der stillen Winternacht als das Schönste, das ihr bisher im Leben beschieden war.

Nicht daß er merklich aus der Zurückhaltung herausgetreten wäre, mit der er sich im Haus Herdhüßer umgeben hatte. Er sprach von Weihnachten. Seine Zeit sei ihm zu kurz bemessen, die Reise zu weit, um an einen Besuch in der holsteinischen Heimat zu denken. Er habe nun Gustav Wieland versprochen, mit ihm auf den Heiligen Abend nach Stuttgart zu fahren und das Christfest im Elternhaus des Freundes mitzufeiern, am zweiten Festtag aber würden sie wohl beide wieder in München sein, und vielleicht ließe sich auf diesen Tag eine Fahrt ins Gebirge veranstalten.

»Das wäre herrlich«, kam es wie verhaltener Jubel von den Lippen Hildes.

»Ich werde mit Wieland, der stets der Leiter der Ausflüge ist, darüber sprechen – unsere Gesellschaft wird ja über Weihnachten schon etwas aus den Fugen sein, die einen verreist, die anderen sonst abgehalten, aber ein Trüppchen naturfroher Leute findet sich gewiß zusammen. Ich komme noch einmal vor Weihnachten in die Familie Herdhüßer und mache Ihnen darüber nähere Mitteilung.« –

Was lag doch für ein geheimnisvoller Reiz in der gemeinsamen Wanderung durch die Schneenacht – und wenn nur die Fahrt ins Gebirge zustande käme! – Darauf freute sich Hilde im stillen wie ein Kind.

Sie schritten am Siegestor vorbei. An der Stelle, an der sie sich früher täglich begegnet waren, sagte Siegfried Kulbach, der ein Weilchen schweigend neben ihr gegangen war: »Es hätte mir gar nichts Lieberes geschehen können, als daß ich Sie so unverhofft wiederfinden durfte!« Und durch seine Stimme bebte ein Ton, der sonst nicht darin lag – tiefverhaltene Herzensfreude.

»Auch ich freue mich«, hauchte Hilde etwas verwirrt. –

Nun war er mit einem schlichten Gutenachtgruß von der Tür ihrer Wohnung gegangen; sie aber spürte noch seinen Händedruck, sie sah noch seine blauen Augen in der Nacht, sie hörte noch seine Stimme: »Nichts Lieberes hätte mir geschehen können!« –

Auch ihr nichts Lieberes. – –


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