Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es erregte allgemeines Aufsehen, als an einem schönen Nachmittag drei junge Journalisten bei strahlendem Sonnenschein durch die Straßen der Stadt gingen, jeder in vertraulicher Unterhaltung mit einem Chinesen. Leute, welche die jungen Herren kannten, wandten sich scharf um und machten entsetzte Gesichter. Das seltsame Gespann dieser Sechs fand sich mit einem vielsagenden Lächeln in die Situation. Jeder der Mongolen trug ein phantastisches Musikinstrument; die Sorgfalt, mit der sie gekleidet waren, wies darauf hin, daß sie sich für einen ungewöhnlichen Zweck angezogen hatten. Der Anlaß war auch interessant genug; er war sozusagen ein Ereignis in der Geschichte des Romantizismus von Cincinnati.
Mr. H. Edward Krehbiel, von der Gazette, hat sich seit einigen Jahren dem Studium orientalischer Musik und der Lieder der alten Ostvölker gewidmet. Es gibt wirklich wenig Studien, die ein so tiefes Interesse erwecken wie das der frühen Musikgeschichte; sicherlich gibt es keines, das dem Sammler merkwürdiger Überlieferungen eine so reiche Ernte an Legenden bietet. Mr. Krehbiel fand die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ebenso fesselnd wie neu und hatte mit einer sehr bemerkenswerten Sammlung schöner Melodien einigen Erfolg – hebräischer, indischer und chinesischer –, es waren Bruchstücke von Melodien, die sicher schon im Tempel Salomos, vielleicht schon zuzeiten der ägyptischen Knechtschaft erklungen waren; Weisen, die schon vor der babylonischen Gefangenschaft auf Posaunen und Schalmeien geblasen wurden; Vedenhymnen, alt wie die Kasten Indiens; Hymnen für Krishna und Mahadeva, für Siva und die dunkle, einer Lotosblume auf dem Ganges entborene indische Venus; Gesänge, welche die Parsen der aufgehenden Sonne, die Schlangenbeschwörer ihren verhüllten Cobras sangen; und Musik, gekannt in allen Städten des Kaiserreichs China, noch ehe Apollo seine Lieder zur Leier sang. Und für diese romantischen Nachforschungen hatten die journalistischen Freunde des Sammlers ein nicht geringes Interesse.
Im Verlauf der Vorbereitungen für eine Essayserie über die merkwürdigen Melodien des Ostens hatte Krehbiel eines Tages die romantische Idee, die Musik Catheys müsse eigens für ihn auf dem San-heen, dem Yah-hin und anderen Instrumenten des östlichen Ostens gespielt werden, nicht von Musikern der indogermanischen Rasse, sondern wirklich von Männern, deren Haut goldfarben wäre, und die unter dem Schatten der Chinesischen Mauer gelebt hätten. Und über diesen Wunsch sprach er mit uns und anderen vom Geist der Romantik Erfüllten.
Da erinnerten wir uns, während unserer langjährigen Praxis als Neuigkeitenjäger in den Polizeibureaus einmal verschiedene chinesische Instrumente von fremdartiger Gestalt gesehen zu haben, die ein hartherziger Beamter zeitweise beschlagnahmt hatte. Darunter war ein San-heen (Banjo), das wie die bodenlosen Baßtrommeln der Aztekenpriester in eine schuppige Schlangenhaut gehüllt war. Dann war ein Yah-hin (Kreischfidel) da, das uralt war. Ein Instrument war noch da, das im Englischen »moon-guitar« (Mondgitarre) genannt wird, aber im Chinesischen einen Namen hat, den man weder aussprechen noch mit einiger Zuverlässigkeit richtig schreiben kann. Es könnte Yah-hwang heißen. All dies, erinnerten wir uns, war Hab und Gut des Wäschers Char Lee; und bald hatten wir die kleine chinesische Wäscherei und ihren Inhaber gefunden. Die Luft war dick und schlafgeschwängert vom Opiumrauch, der aus den Pfeifen der schläfrigen Wäscher aufstieg. Sie lagen nebeneinander auf einem Holztisch, und eine kleine Lampe brannte trüb zwischen ihnen. Char Lee sagte ein Wort des Grußes, aber der andere hob nur halb seine opiumschweren Augen und fuhr fort, an seiner Pfeife zu ziehen, bis der gelbe Gummi am Kopf mit einem knisternd-knirschenden Wehlaut platzte.
Wir überredeten Char Lee, sein San-heen herunterzunehmen; die bernsteinfarbenen Schuppen der Schlangenhaut erglänzten auf seinem heiligen Körper wie rohe Einlegearbeit. Und daß wir von der Schönheit seines Tons bezaubert würden, spielte er kunstfertig darauf, – auf die klassische Art der Alten mit einem kleinen elfenbeinernen Plectrum. Das San-heen sang eine fremde Klage und erzählte einen fernen Kummer, es beschwor Träume in uns von einem Herzen, das sich nach dem Anblick der Pagodenstädte und der Teegärten sehnt; Träume von den zackigen Segeln träger Dschunken und von der ewigen Trauer des Yang-tse-Kiang.
»Char Lee,« sagte der Musiker, »kennst Du dieses kleine chinesische Lied?« Und er sang langsam die uralte Melodie von Muhli-wha (Die Jasminblüte).
Der Opiumraucher, der bis nun so teilnahmslos gewesen war, legte seine schwere Pfeife weg und erhob sich in eine sitzende Stellung. Allmählich begann er anerkennend mit dem Kopf zur Musik zu nicken und fiel schließlich mit schrillem Falsett in den Gesang ein. Die lächelnden Gesichter der beiden Chinesen verrieten plötzlich ein Interesse, das an Begeisterung grenzte; und die Kontraste des Bildes waren wahrhaft malerisch. Auf der einen Seite der stattliche junge Arier, rot geworden vor Freude über den Triumph seiner Kunst, welche die natürliche und alte Kluft zwischen Mongolen und Ariern siegreich überbrückt hatte; auf der anderen Seite jene gelbhäutigen, weibisch aussehenden Fremdlinge, die ein Echo ihrer eigenen Musik in einem fernen Lande mit so heftiger Freude begrüßten, daß es in Anbetracht ihres sonst phlegmatischen Wesens fast abnormal erschien. Und er sang die feierliche Weise, die heute noch wie vor dreitausend Jahren in den Pagoden zu den heiligen Instrumenten gesungen wird. Sie wußten es, und ihre Gesichter wurden feierlich wie der Gesang selber.
Damals versprach Char Lee, in den Musical Club zu kommen und noch andere chinesische Musiker mitzubringen, um die Musik Cathays auf Instrumenten zu spielen, die aus dem Blumenlande stammten. Das ist die Geschichte des Zuges, von dem eingangs erzählt wurde.
Als die Chinesen im Club anlangten, führte man sie zu behaglichen Sitzplätzen, und dann sahen die Clubmitglieder sich neugierig die Instrumente an. Krehbiel verteilte unter den Zuhörern Programme, die zierlich auf gelbem Papier gedruckt waren; darin standen chinesische Musikcharaktere, chinesische Lieder mit Text und Musik und Auszüge aus der chinesischen Geschichte und aus den Sprüchen Confucius', welche die Philosophie der chinesischen Musik erläuterten.
Es war eine künstlerische Idee, die Programme auf gelbem Papier zu drucken. Denn Gelb ist den Chinesen die heilige Farbe. War die Farbe der jungfräulichen Erde nicht gelb? Und ist nicht das Prinzip der Urkraft, die physikalische Grundlage des Lebens, das Protoplasma des Universums in der chinesischen Naturphilosophie Gelb genannt? Und ist nicht der Grundton der Musik vor undenklichen Zeiten in China mit dem Namen Gelbe Glocke benannt worden? So dachten wir, während unser Blick auf dem Programm ruhte, an unzählige gelbe Dinge; gelbe Teerosen und zierliche gelbe Frauen; gelbe Gewänder und die gelben Barette der Mandarine; gelb bemalte Pagoden und das Kaiserliche Gelb der chinesischen Herrscher; gelbe Seiden und die gelben Zeitungen, die gegründet wurden, ehe die Kaiserreiche Europas bestanden; die gelben Helme der chinesischen Reiterei und die Fahne des Gelben Drachens; und der Gelbe Fluß, der allezeit drachengleich dem Gelben Meer sich entgegenwindet.
Mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschte das kleine Publikum in den Räumen des Musical Club den Ausführungen Krehbiels über Geschichte und Wesen der chinesischen Musik; und der Vortrag, wenn auch zum größten Teil aus dem Stegreif gehalten, war des Auditoriums würdig. Der Vortragende hatte sehr viele höchst merkwürdige Kenntnisse für sein Thema gesammelt, Kenntnisse von Dingen, die sogar seinen musikalisch gebildeten Zuhörern unbekannt waren; jeder Satz seiner Ansprache brachte etwas Neues und Sonderbares. Er schilderte die Eigentümlichkeiten der chinesischen Tonleitern, zeichnete ihre Noten auf, erklärte die Bedeutung ihrer Namen – Kung, Tschang, Kio, Tsche, Yu – und machte besonders auf das Fehlen des vierten und des siebenten Tones unserer Skala in der chinesischen Tonleiter aufmerksam. Dann sprach er von der Geschichte ihrer Musik, die bis in das Zwielicht der Fabel zurückreicht; über ihre Mythen und ihre seltsamen Tatsachen. Besonders interessant war seine Behandlung des Gegenstandes: die chinesische Musikphilosophie – die schönste und umfassendste vielleicht, die irgendein Volk besitzt – im Vergleich mit ihren praktischen Musikbegriffen. Er sprach von jener chinesischen Laute, die nur dem Tugendhaften und Herzensreinen, wie es heißt, erklingt, und von den heiligen Instrumenten in den Tempeln, von den tönenden Steinen, und dem Holztiger mit den klingenden Eingeweiden; von den siebzehn Arten der Trommeln, dem donnererzeugenden Gong und der fünfzigsaitigen Harfe.
Es war nicht unsere Absicht, viel aus der Fülle der lehrreichen Dinge anzuführen, die Krehbiels Vortrag brachte; ist dieser doch nur Glied einer Serie ebenso interessanter Essays über orientalische Musik, die noch nicht der Öffentlichkeit übergeben sind. Aber die Legende vom Ursprung der chinesischen Tonleiter ist schön genug, um, auch in unsere Worte gekleidet, einige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Vor fast fünftausend Jahren erhob sich Hoang-ti gegen den Kaiser Tsche-yeu, schlug und tötete ihn und herrschte an seiner Statt.
Hoang-ti liebte Männer, die Worte der Weisheit sprachen, die Philosophen und Denker; und er setzte sie als Lehrer über das Volk und gab ihnen hohe Stellen in seinem Reich.
Auch die Musik liebte er, – den Schall der Gongs und der Trommeln; den Klang der Fiedeln und der Harfen.
Und er befahl dem weisen Ling-lun, daß er durch das Land zöge, den Menschen Gesetze der Musik zu geben, und die Reinheit der Musik zu wahren, damit das Volk nicht verderbt werde.
So begab sich Ling-lun in die äußersten Gebiete des Reiches – in das Land Si-yung –, den Geburtsort des Hoang-ho, und er hörte das ewige Rauschen des Gelben Flusses.
Er schnitt mit seinem Messer einen Bambus, der am Flusse wuchs, und indem er hineinblies, bildete er mit seinem Atem einen Ton.
Und der Ton war wie der Klang einer tiefen Stimme und traurig – die Stimme des Gelben Flusses – die Stimme des Hoang-ho.
Und er vernahm auch die Lieder der Wundervögel, Fung-Hoang, der singenden Vögel der guten Vorbedeutung.
Fung, der männliche Vogel, sang in sechs Tönen; Hoang, der weibliche, antwortete ihm mit sechs anderen.
Und da er lauschte, erkannte er, daß nur einer der zwölf Töne war wie der Klang seiner eigenen Stimme und wie der Schall von des Flusses Rauschen.
Dann nannte er des Vogels Fung tiefsten Ton, der gleich war dem Klang von des Flusses Stimme, Kung; er schnitt zwölf Bambus' von verschiedener Länge und erzeugte in ihnen mit seinem Atem all die Töne, welche die Vögel Fung-Hoang gesungen hatten.
Und da er alle Töne über dem Grundton Kung fand, machte er sich ein genaues Gesetz der Musik, indem er die ganzen Töne vom männlichen Vogel und die halben vom weiblichen nahm.
( Schüchterne Anmerkung: Sollte vielleicht die Unvollständigkeit der chinesischen Tonleiter, das Fehlen unseres vierten und siebenten Tons darauf zurückzuführen sein, daß die Vögel Fung-Hoang diese nicht bilden konnten oder wollten?)
Nach dem Vortrag spielten die drei Chinesen uns ihre uralten Lieder auf dem Yah-hwang, Yah-hin und San-heen vor; erst einzeln, dann alle drei zusammen. Die fremdartige Melodik dieser Musik erinnerte in ihrem Wesen ganz entfernt an jene Weisen, die der Hochländer seinem brummenden und schrillenden Dudelsack entlockt. Beim Zusammenspiel aber war die Melodie nur schwer herauszuhören, und die Fiedel kreischte, als ob der Geist der Katze, welche die Saiten geliefert hatte, im Gehäuse noch sein Wesen triebe. Fast alle Weisen waren schwermütig; sie beschworen eine Trauer herauf, – die gramvolle Resignation eines großen, in seiner Unterdrückung hoffnungslosen Volkes; immer erschien der Klang der Musik alt wie die Stimme wandernden Wassers; es war, als erzähle er von einem Erleben, das schon vor der Sintflut vergessen war; ihre geisterhafte Melancholie ließ ein Weh ahnen, das in verschollenen Tagen ein ganzes Volk heimgesucht hatte – in einer Zeitenferne, die selbst der Gelehrsamkeit verbietet, elegante Theorien zu ersinnen. Und plötzlich kam uns die Opiumphantasie De Quinceys in den Sinn – » Ein junger Chinese kommt mir wie ein in unsere Zeit versetzter vorsintflutlicher Mensch vor.«
Als aber die gelbhäutigen Musikanten geendet hatten, bekamen wir auf Bitten Krehbiels eine wundervolle moderne Interpretation chinesischer Musik zu hören: das Vorspiel zu Turandot. C. M. v. Weber hat die alte Melodie des Lien-ye-Kin in diese Ouverture eingeführt, aber er gab ihr die Pracht seiner Harmonien und die Fülle seiner Empfindung.
Und da auf einmal glaubten wir die Seele chinesischer Musik zu verstehen; die dunkle Rede der chinesischen Weisen, die das Yah-hin und San-heen uns nicht erschließen konnte, sie ging uns auf wie das Licht des Mittags in der großartigen Deutung des europäischen Meisters.
Es war uns, als hätte der Mann das Denken des Kindes erfühlt und zum Ausdruck gebracht, als hätte der Redebegabte die Gedanken des Stummen erraten und ausgesprochen. Das Instrument erbrauste in der vollen Gewalt seiner Töne, und es sang durch vielfache Variationen eine Melodie, vielleicht so alt wie der Zug der Arier aus dem Schatten der Himalajaberge, aber süß und einfach wie manche unserer alten Volksweisen, und in Harmonien gebettet, tief und voll wie der Klang dunkeltönender Münsterglocken. Die Chinesen lauschten; doch sie hörten nur die Melodie, von der Harmonie erfaßten sie nichts, so wie uns vorher die Melodie zur Hälfte verloren war, ehe sie einen indogermanischen Interpreten fand. Und am Klavier stehend sangen die drei mit schrillem Falsett das Lied Lien-ye-Kin.