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Der Brief ist die fingierte Arbeit eines Rhetorenschülers. Über das Motiv vgl. das in der Literaturzusammenstellung aufgeführte Buch von Weinreich.
Laß mich dir erzählen, welchen Frevel Kimon verübte – in jeder Stadt, an jedem Strand, er, der keinen heiligen Brauch scheut und kein Gesetz. Ich war nach Ilion gekommen, um das Land dort zu beschauen und das Meer. Unendliches gäbe es von dem zu erzählen, was ich dort sah. Aber laß mich davon schweigen, denn ich fürchte, du hältst mich für geschmacklos, wenn mich die Redseligkeit der Dichter überfällt. Drum zurück zu Kimon: nicht zehn Zungen reichten aus, um seinen maßlosen Frevel genügend zu schildern.
Wir verweilten also schon viele Tage in Ilion und konnten uns an den Gräbern der Heroen nicht satt sehen; ich hatte nämlich die Absicht, so lange zu bleiben, bis ich am Grabe jedes einzelnen Helden die Verse gelesen hätte, die in der Ilias von seinen Taten berichten. Da fiel gerade in unseren Aufenthalt jener Tag im Jahre, an dem sich die ilischen Mädchen, die das Alter erreicht haben, zur Ehe weihen. Und es gab gerade damals dort viele mannbare Mädchen. Nun besteht im troischen Lande der Brauch, daß die mannbaren Mädchen an diesem Tage zum Skamander gehen, sich in ihm baden und dann die heilige Formel sprechen: »So nimm denn, o Skamander, meine Jungfernschaft!« Damals nun kam unter den anderen Jungfrauen auch Kallirrhoe, ein stattliches Mädchen, wenn auch keinem vornehmen Geschlecht entsprossen, zum heiligen Bade. Es ist aber üblich, dem Festzug und dem Bade der Jungfrauen von fern her zuzuschauen. Dort in der Ferne also standen auch wir unter den Angehörigen der Mädchen und dem übrigen Volk. Unser wackerer Kimon aber verbirgt sich währenddes am Skamanderufer im Gebüsch und bekränzt sich mit Schilf. Offenbar hatte er sich schon seit geraumer Frist diesen Anschlag gegen die schöne Kallirrhoe ausgedacht. Wie nun das Mädchen badete und – ich konnte es nicht hören, erfuhr es aber später – die übliche Formel sprach: »So nimm denn, o Skamander, meine Jungfernschaft!« da sprang Kimon-Skamander aus dem Gebüsch und rief: »Nun wohl, so sei es! Ich, der Skamander, nehme dich an, o Kallirrhoe, und will dir viel Gutes erweisen.« Und mit diesen Worten zieht er das Mädchen mit sich fort und entschwindet den Blicken der Zuschauer.
Aber was nicht verborgen blieb, das war seine Freveltat. Vier Tage später zogen, wie das der heilige Brauch will, die nunmehr Neuvermählten in feierlicher Prozession zum Tempel der Aphrodite. Wir aber standen wieder unter dem Volk und sahen der Prozession zu. Wie aber das Mädchen den Kimon sah, der neben mir stand, als ob er sich keiner Schuld bewußt wäre, da warf es sich demütig vor ihm nieder und sprach zu der Amme, die neben ihr ging: »Siehe da, o Amme, den Skamander, dem ich meine Jungfernschaft dahin gab.« Als aber die Amme das hörte, schrie sie laut auf, und so ward die Tat ruchbar. Wie ich dann wieder nach Hause kam, treffe ich dort den Kimon und behandle ihn, wie er es verdient. Ich nenne ihn einen gottlosen Frevler, der uns alle ins Unglück gestürzt habe. Der aber zeigte gar keine Furcht und auch keine Scham über seine Tat. Im Gegenteil, er erzählte lange Märchen von solchen, die anderswo ähnliche Taten verübt, deretwegen sie den Tod auf dem Rad verdient hätten. So habe in Magnesia ein Jüngling von dort genau dieselbe Geschichte am Mäander ausgeführt, und deshalb bilde sich noch heute der Vater des Athleten Attalos ein, sein Sohn sei nicht sein eigener Sproß, sondern der des Flußgottes, und deswegen stehe er so gut im Fleisch und habe so starke Knochen. Wenn der nun in einem Wettkampf versagt und weidlich verprügelt zurückkommt, so meint der Vater, der Gott grolle ihm, weil Attalos sich, wenn er siegt, nicht als Sohn des Mäander ausrufen lasse. So hat denn dieser Glückliche auch im Falle einer Niederlage eine Ausrede. Ebenso sei in Epidamnos der Musikus Karion in seiner Dummheit völlig davon überzeugt, daß Herakles der Vater seines Kindes sei, das in Wirklichkeit einem Ehebrecher sein Dasein verdanke. »Ich aber,« so fuhr Kimon fort, »habe doch kein Kind erzeugt, sondern nur ein Schäferstündchen gefeiert mit einem zur Liebe schon überreifen Mädchen, das ich mit seiner Amme im Bade betraf. Außerdem erschien es mir angebracht, am Skamander so etwas wie eine Komödie in Szene zu setzen, damit wir uns nicht ganz in der furchtbaren Tragik der Iliade verlieren.« Ich wollte meinen Ohren kaum trauen und stand da stumm wie ein Stein und wartete nur, wann diese unverschämte Rederei ein Ende nähme. Der aber setzte gerade dazu an, mir eine dritte Verführungsgeschichte – unter der Maske des Apollo oder Dionysos oder wer weiß welches Gottes – zu erzählen, da sah ich, daß sich ein Volkshaufe unserer Türe näherte. »Da kommen sie schon,« rief ich, »um uns bei lebendigem Leibe zu verbrennen!« und nun ging's auf und davon, durchs Hinterhaus zum Melanippides und von da abends ans Meer und dann hinaus in die Weite. Ein ungastlicher, stürmischer Wind trug uns hinweg, dem sich wohl keiner anvertraut hätte, der nicht vor einem »kimonischen Frevel« Wohl Nachahmung einer bekannten Wendung vom »kylonischen Frevel«. Kylon und seine Anhänger waren um 620 v. Chr. von den Alkmeoniden unter Bruch des Treuworts, zum Teil sogar an den Altären der Burg von Athen, niedergemacht worden. floh.
Diese meine Leiden wollte ich dir schreiben, in der Hoffnung, du werdest dem Kimon noch mehr zürnen als ich. Aber vielleicht lachst du ja nur von Herzen darüber.
Der Eingang ist ergänzt, vgl. die Einleitung S. XXI. Die kurze inhaltliche Rekonstruktion von Wendland – Antike Geister- und Gespenstergeschichten in der Festschrift der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde zur Jahrhundertfeier der Universität Breslau 1911, S. 34 – ist mir erst nachträglich bekannt geworden.
[So hat sich auch in Amphipolis am Strymon eine Geschichte zugetragen, die beweist, daß Tote ihren Gräbern entsteigen und mit Lebenden Umgang pflegen können. Sie ist bezeugt durch einen Brief eines gewissen Hipparchos, den Philippos Arrhidaios, des Königs Philippos Sohn, als seinen Stellvertreter in Amphipolis eingesetzt hatte, an eben diesen Philippos Arrhidaios. Es ist außerdem noch der Bericht des Philippos Arrhidaios an seinen Vater über diesen Vorfall bekannt. Aber ich glaube, es genügt, wenn ich nur den ersten Brief mitteile. Dieser aber lautet so:
Hipparchos grüßt den Philippos.
Es ist in unserer Stadt ein wunderbares Ereignis vorgefallen, das sicherlich durch das Gerücht bald überallhin verbreitet werden wird. Damit Du nun in der Lage bist, dem Könige, Deinem Vater, Auskunft zu geben, will ich Dir den Vorgang ausführlich berichten.
Es lebt hier in unserer Stadt ein reicher Bürger Demostratos, der von seiner Frau Charito eine Tochter Philinnion hatte. Diese Philinnion war, wie Du vielleicht gehört hast, mit Krateros Der Feldherr Alexanders des Großen. vermählt, starb aber kaum fünf Monate nach der Hochzeit. Sie wurde seinerzeit mit allen üblichen Gebräuchen bestattet, und die Familie lebte seitdem in Trauer. Aber schon damals munkelte man in der Stadt, das Mädchen sei von den Eltern zur Heirat mit einem ungeliebten Manne gezwungen worden, während es selbst einen anderen geliebt habe. Dies Gerücht hat nunmehr eine überraschende Bestätigung gefunden. Denn es ereignete sich in voriger Woche folgendes.
Seit alten Zeiten steht das Haus des Demostratos mit dem des Polyneikes in Pella in gastfreundlicher Verbindung. Der Sohn dieses Hauses nun, Machates, ging neulich auf Reisen und kam auch in unsere Stadt. Er war schon einmal hier gewesen und seit jener Zeit hatte Philinnion eine leidenschaftliche Liebe zu ihm gefaßt. Der Jüngling scheint damals nichts davon gemerkt zu haben und wußte auch jetzt weder etwas von der Heirat noch von dem Tode der Philinnion. So begab er sich, als er spät abends hier eintraf, unverzüglich in das Haus des Demostratos. Er ward von dem Vater freundlich aufgenommen und in das Gastzimmer geleitet, wo Demostratos der alten Schaffnerin, die einst Philinnions Amme gewesen war, für den Jüngling gut zu sorgen befahl. Diese ließ ihm durch Sklaven ein reichliches Mahl auftragen. Aber der ermüdete Jüngling berührte die Speisen kaum und schickte auch die Sklaven bald fort. Eben wollte er sich zum Schlaf aufs Lager werfen, als ihn ein Geräusch um sich blicken ließ. Da stand mitten im Gemach ein Mädchen von hoher Schönheit in weiße Gewänder gehüllt, das ihn mit glühenden Augen ansah. Erstaunt trat Machates zu ihr und fragte sie, wer sie sei. »Ich bin Philinnion, dieses Hauses Tochter,« entgegnete sie, »die ein finsteres Geschick von diesem Orte verbannt hat. Heute hat mich ein gütiger Dämon an diese Stelle zurückgeführt, da du hier weilst, zu dem ich heiße Liebe empfinde, seitdem ich dich vor Jahren hier gesehen habe.« So sprach sie ohne Erröten, und zugleich ergriff sie den Becher, der noch voll Wein auf dem Tisch stand, und trank ihn gierig leer. Dann lagerte sie sich am Tische und forderte den Jüngling auf, ein gleiches zu tun. Es schien ein magischer Zauber von ihr auszugehen, dem sich Machates nicht zu entziehen vermochte. Sie scherzte und lachte und ließ sich die Liebesschwüre des rasch entflammten Jünglings gern gefallen. Er reichte ihr als Gabe einen schlichten Fingerring von Eisen und ein leicht vergoldetes Trinkgefäß, das er auf Reisen mit sich zu führen pflegte. Sie gab ihm ihrerseits einen goldenen Ring und verbrachte die Nacht mit ihm. Als sie sich im Morgengrauen seinen Armen entwand, versprach sie ihm auf seine Bitten am Abend zurückzukehren. Machates freute sich des holden Abenteuers und eilte am Abend bald auf das Gastzimmer, wo die Sklaven auf sein Geheiß eine Mahlzeit gerüstet hatten, wie am Tag vorher. Es war noch frühe, und er mußte so lange warten, daß er schon daran verzweifelte, das Mädchen wiederzusehen. Plötzlich aber stand sie wieder mitten im Gemache. Nun nahm das Abenteuer denselben Verlauf wie die Nacht vorher, und wieder versprach sie ihm ein neues Zusammensein in der dritten Nacht. Aber die Sklaven waren inzwischen darauf aufmerksam geworden, daß in dem Gastzimmer nachts etwas Ungewöhnliches vor sich gehe. So paßten sie diesmal auf und als sie Stimmen aus dem Gemache hörten, spähten sie durch die Türritze und bemerkten, daß der Fremde drinnen ein Mädchen bewirtete, das ihrer verstorbenen Herrin Philinnion ganz wunderbar glich. Sie wußten lange nicht, was sie tun sollten. Endlich kamen sie überein, es der Schaffnerin zu melden, die ja einst Philinnion groß gezogen hatte. Die Alte fuhr sie erst höhnisch an und verlachte sie als Gespensterseher, die sich durch eine von der Straße aufgelesene Dirne täuschen ließen. Aber ihre wiederholten Versicherungen, es sei Philinnion, machten doch endlich solchen Eindruck auf sie, daß sie sich entschloß, sich selbst zu überzeugen, was geschehen sei.]
Sie eilte zur Tür des Gastzimmers und sah beim Schimmer des Lichtes das Mädchen neben Machates sitzen. Da ertrug sie den wunderbaren Anblick nicht lange, sondern lief zur Mutter und rief mit lauter Stimme: »O Charito und Demostratos, erhebt euch und kommt mit mir zu eurer Tochter. Durch Götterfügung ist sie wieder zum Leben erwacht und sitzt bei dem Gastfreund im Gastzimmer.« Als Charito diese wunderbare Botschaft hörte, wurde sie erst von der Aufregung der Amme angesteckt und ganz verwirrt. Dann aber erinnerte sie sich wieder daran, daß ihre Tochter gestorben sei, und brach in Tränen aus. Schließlich aber schalt sie die Alte eine rasende Törin und hieß sie sich davonmachen. Als aber die Amme leidenschaftlich widersprach, sie sei ganz gesund und bei Sinnen, und es sei bloß Angst, wenn Charito ihre Tochter nicht sehen wolle, da ließ sich Charito nach und nach von der Amme überreden und ging mit an die Türe des Gastzimmers, um wenigstens zu erfahren, was eigentlich vorliege. Es war aber darüber viel Zeit verflossen – mehr als eine Stunde – und so kam Charito zu spät, denn jene hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Die Mutter beugte sich vor und spähte durch die Türritzen. Die Kleider und auch die Umrisse der Gestalt glaubte sie zu erkennen, aber da sie die Wahrheit so nicht ermitteln konnte, beschloß sie sich ruhig zu verhalten. Denn sie hoffte, das Mädchen am Morgen zu überraschen, wenn es weggehe. Käme sie auch dazu zu spät, so wollte sie den Machates nach allem ausfragen. Denn sie konnte sich nicht denken, daß er sie bei einer so ernsten Sache belügen werde. Deshalb ging sie schweigend davon. Als es aber dämmerte, verschwand das Mädchen, sei es durch göttliche Fügung, sei es aus eigenem Antrieb, ehe jemand es merkte. Nun kam die Mutter und verlangte leidenschaftlich Aufklärung von dem Jüngling. Sie erzählte ihm alles von Anfang an und bat ihn mit Tränen, ihr die Wahrheit zu sagen und ihr nichts zu verhehlen. Machates war anfangs verwirrt und kämpfte einen Kampf mit sich selber. Endlich aber ließ er sich den Namen entschlüpfen, ja, es sei Philinnion gewesen. Nun erzählte er, wie sie zu ihm hereingekommen sei und ihm ihre Liebe gestanden habe und auch, daß sie ohne Mitwissen ihrer Eltern zu ihm komme. Um seine Worte glaubhaft zu machen, öffnete er sein Reisebündel und nahm die Dinge heraus, die er von ihr besaß, den goldenen Ring, den er von ihr empfangen hatte und ein Brustband, das sie in der letzten Nacht verloren hatte. Als aber Charito diese Zeichen sah, schrie sie laut auf, zerriß ihre Kleider, löste das Haarnetz und raufte sich die Haare. Sie fiel zur Erde nieder, umfaßte die Andenken an ihre Tochter und klagte, als sei ihr Philinnion eben erst entrissen worden. Als der Fremdling das sah und bemerkte, wie alle Anwesenden leidenschaftlich in die Klage einstimmten, als ob man das Mädchen eben erst bestatten wollte, da geriet er in Erregung, sprach ihnen zu und bat sie einzuhalten. Er versprach, ihnen das Mädchen zu zeigen, wenn es wiederkäme. Die Mutter ließ sich überreden und ging wieder in ihre Gemächer, nachdem sie ihn beschworen hatte, ihre Hoffnung nicht zu täuschen. Wie es nun Nacht wurde und die Stunde da war, in der Philinnion zu dem Gastfreund zu kommen pflegte, warteten alle auf sie. Sie erschien auch wirklich; sie kam zur gewohnten Stunde und lagerte sich am Tisch. Machates ließ sich nichts anmerken und war entschlossen, der Sache auf den Grund zu kommen. Es schien ihm nämlich ganz unglaublich, daß er eine Tote umarmt haben sollte, die so voll Lebenslust immer zur gleichen Stunde erschienen wäre. Wie sie so miteinander speisten und sie ihm zutrank, erschien ihm die Sache immer unwahrscheinlicher. Er vermutete, Räuber hätten das Grab erbrochen und die Kleider und den Goldschmuck der Philinnion dem Vater des Mädchens verkauft. Um nun Gewißheit zu erhalten, gab er heimlich den Sklaven einen Wink, sie sollten die Eltern rufen. Sofort erschienen Demostratos und Charito. Als sie das Mädchen sahen, waren sie zunächst sprachlos und wie gelähmt von dem Wunder. Dann aber schrien sie laut auf und wollten die Tochter in die Arme schließen. Philinnion aber sprach: »O Mutter und Vater, warum mißgönnt ihr mir, daß ich drei Tage mit dem Gastfreund im Vaterhause zusammenkam? Das ist schlecht von euch gehandelt, denn ich habe ja dabei Niemand ein Leid angetan. Um eurer Neugier willen werdet ihr jetzt den Schmerz der Trennung von neuem fühlen, ich aber gehe weg an den mir bestimmten Ort. Denn nicht ohne göttliche Fügung kam ich hierher.« Als sie so gesprochen, ward sie zur Leiche – vor aller Augen lag der Körper lang ausgestreckt und totenstarr auf dem Lager. Mutter und Vater warfen sich über sie und klagten, das ganze Haus geriet in Aufruhr über dies unerhörte Wunder, und das unbegreifliche Ereignis wurde bald in der ganzen Stadt berühmt.
So kam die Nachricht auch an mich. Ich ließ das Haus absperren und die Nacht durch bewachen, damit das Gerücht nicht gar noch zu Unruhen Anlaß gäbe. Aber schon bei Morgengrauen füllte sich das Theater In hellenistischer Zeit dienen diese auch für Volksversammlungen.. Dort ward die Angelegenheit nach allen Seiten hin durchgesprochen. Man beschloß zunächst, wir sollten das Grab öffnen und feststellen, ob die Leiche noch auf ihrem Lager ruhe oder ob der Platz leer sei. Denn es war noch nicht ein halbes Jahr seit dem Tode des Mädchens verflossen. Als wir nun die Gruft öffneten, in der die Mitglieder der Familie der Reihe nach beigesetzt waren, fanden wir auf den andern Steinbänken die Körper der Verstorbenen oder von den schon länger Abgeschiedenen doch noch die Gebeine. Auf dem Lager aber, wo Philinnion beigesetzt worden war, lag nur der eiserne Ring des Fremdlings und der vergoldete Becher, den sie von Machates am ersten Tage erhalten hatte. Nun eilten wir voll Schrecken und Verwunderung wieder zu Demostratos, um festzustellen, ob der Leichnam des Mädchens wirklich noch dort sei. Wir fanden ihn noch am Boden liegen und gingen dann von neuem zur Volksversammlung. Denn die Begebenheit erschien uns sehr wichtig und fast unglaublich. Zuerst tobte das junge Volk so, daß man zu keiner Entscheidung kommen konnte. Dann aber erhob sich Hyllos, der bei uns für den besten Seher, den klügsten Deuter aller Vorzeichen und auch sonst in allem für einen Meister in seiner Kunst gilt. Der befahl, das Mädchen außerhalb der Grenzen unseres Landes zu verbrennen, denn das tue nicht gut, wenn man sie wieder innerhalb unserer Landesgrenzen bestatte. Dann müsse man dem Hermes Chthonios und den Eumeniden Den Gottheiten, die die Verletzung der Rechte der unterirdischen Götter rächen. ein Sühnopfer darbringen, daß sie von uns wichen. Das ganze Volk müsse entsühnt werden, die Heiligtümer müßten neu geweiht werden, und die üblichen Feiern für alle Gottheiten der Unterwelt müßten abgehalten werden. Das sagte er laut vor dem Volke. Mit mir aber sprach er insgeheim, was im Namen des Königs und von Staats wegen geschehen müsse. Man müsse dem Hermes opfern, dem Zeus als Schützer des Gastrechts und dem Ares. Und das alles müsse sehr ernst genommen werden. Als er uns so seine Meinung kundgetan, vollzogen wir alle seine Weisungen. Inzwischen aber hatte sich der Fremdling Machates, der, den das Gespenst heimgesucht hatte, selbst getötet; denn er war überzeugt, daß er doch nicht am Leben bleiben würde.
Bist Du nun der Meinung, daß über diese Dinge dem König Bericht erstattet werden soll, so schreibe mir sofort, damit ich Dich über die Persönlichkeiten, die dabei in Betracht kommen, genauer informiere. Lebe wohl.