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Aesopische Tiermärchen / Fabeln und Schwänke

Prosafabeln

 

1. Der Adler und der Fuchs

Adler und Fuchs machten Freundschaft und beschlossen auch, nahe beieinander zu wohnen. Denn das, glaubten sie, würde die Freundschaft nur stärken. Der Adler baute nun sein Nest in den Wipfeln eines hohen Baumes, und der Fuchs schuf seinen Jungen ein Lager unter einem nahegelegenen Busche. Als aber der Fuchs einst jagen gegangen war, fehlte es dem Adler an Nahrung für seine Jungen. Da schoß er denn herab in den Busch, raubte die kleinen Füchslein, und er und seine Jungen verzehrten sie. Der Fuchs kam heim und sah, was vorgefallen war. Mehr noch als der Tod seiner Jungen schmerzte es ihn, daß er sich nicht rächen konnte. Denn wie sollte er, der Erdbewohner, den Vogel verfolgen? So tat er denn das, was auch den Schwachen möglich ist: er stand von ferne und verfluchte seinen Feind. – Aber nicht lange darauf sollte der Adler dafür büßen, daß er die Freundschaft verraten hatte. Landleute opferten nämlich auf dem Felde eine Ziege. Da flog der Adler herbei und raubte vom Altar ein Stück des Opfertiers, ohne zu bemerken, daß er auch ein glühendes Holzscheit mitschleppte. Als er die Beute in sein Nest geworfen hatte, sprang ein frischer Wind auf, und bald stand das Nest, das aus dürrem Reisig gebaut war, in hellen Flammen. Die jungen Adler aber, die noch nicht flügge waren, fielen halb verbrannt zu Boden. Da eilte der Fuchs herbei und fraß sie alle auf vor den Augen des Adlers.

 

2. Der Adler und der Mistkäfer

Ein Adler verfolgte einen Hasen. Da er sonst nirgendswo einen Helfer sah, wandte sich der Hase schutzflehend an einen Mistkäfer. Der sprach ihm Mut zu, und als der Adler kam, verlangte er von ihm, er solle seinen Schutzbefohlenen in Frieden lassen. Der aber verlachte den kleinen Käfer, gab ihm mit seinen Flügeln einen Schlag und zerriß den Hasen. Der Mistkäfer aber flog ihm nach und spähte aus, wo des Adlers Nest war. Und als er es gefunden hatte, flog er hinein und wälzte des Adlers Eier wie seine Mistkugeln über den Rand des Nestes, daß sie zur Erde fielen und zerbrachen. Der Adler war erzürnt über diese Frechheit und brütete ein zweites Mal an einem höheren Ort. Aber auch dorthin drang ihm der Mistkäfer nach und zerstörte wiederum die Brut. Nun war der Adler ratlos und flog hinauf in den Olymp zu Zeus. Auf dessen Knie legte er die dritte Brut und flehte den Gott an, sie zu beschützen. Der Mistkäfer aber ballte eine Kugel aus Mist, flog in die Höhe und ließ sie auf die Brust des Zeus niederfallen. Zeus aber sprang auf, um den Schmutz abzuschütteln, und dachte dabei nicht mehr an die Eier des Adlers. So fielen diese herab und zerbrachen. Dann aber erzählte der Mistkäfer dem Zeus den Grund der Fehde, und wie der Adler nicht nur ihn beleidigt, sondern auch gegen den Zeus, den Beschützer des Gastrechts, gefrevelt habe. Wie nun der Adler kam, sagte ihm der Gott, der Mistkäfer habe recht gehandelt, denn er sei schwer von ihm gekränkt worden. Da Zeus aber auch nicht wollte, daß das Geschlecht der Adler aussterbe, riet er dem Mistkäfer dazu, sich mit dem Adler auszusöhnen. Da aber jener nicht darauf einging, verlegte er die Brutzeit des Adlers. Und daher kommt es, daß, wenn die Adler brüten, keine Mistkäfer schwärmen.

 

3. Der Fuchs und der Bock

Ein Fuchs fiel in einen tiefen Brunnen und wußte nicht, wie er wieder herauskommen sollte. Da kam ein durstiger Ziegenbock auch zum Brunnen, sah den Fuchs und fragte ihn, ob das Wasser gut sei. Der aber verhehlte sein Mißgeschick und sagte: »O, das Wasser ist ausgezeichnet, klar und wohlschmeckend, komm nur auch herunter!« Da sprang der Bock, ohne sich zu besinnen, hinab. Als er nun seinen Durst gelöscht hatte, fragte er den Fuchs: »Wie wollen wir aber wieder herauskommen?« Da sagte der Fuchs: »O, das werde ich schon machen. Stelle dich auf deine Hinterbeine, stemme die Vorderbeine gegen die Wand und mache deinen Hals lang. Dann werde ich über deinen Rücken und deine Hörner auf den Rand des Brunnens klettern und auch dir heraushelfen.« Der Bock tat, wie ihm befohlen war, streckte sich aus, und der Fuchs kletterte auf seine Hörner und sprang von dort mit einem gewaltigen Satz auf den Brunnenrand. Dort blieb er, tanzte vor Freuden und verhöhnte den Bock. Der aber machte ihm Vorwürfe, daß er den Vertrag nicht eingehalten hätte. Da sagte der Fuchs: »O Bock, wenn du so viel Gedanken im Kopfe hättest, wie Haare im Bart, so wärst du nicht heruntergestiegen, ohne vorher zu untersuchen, wie du wieder herauskönntest.«

 

4. Der Hirsch und der Weinstock

Ein Hirsch entfloh den Jägern und verbarg sich in einem Weinberg. Als nun die Jäger vorbeigegangen waren, glaubte er gerettet zu sein und fing an, die Blätter des Weinstocks abzunagen. Aber einer von den Jägern hörte das Knistern der Blätter und vermutete richtig, daß dort ein Tier verborgen sei. Er wandte sich um, warf seinen Spieß dorthin und traf den Hirsch. Als dieser nun im Sterben lag, sprach er zu sich selbst: »Mir geschieht recht; warum habe ich mich an meinem Retter vergriffen!«

 

5. Der Fuchs und der Affe

Auf einer Versammlung der Tiere tanzte der Affe. Und da er das gar so schön machte, wählten sie ihn zum König. Der Fuchs aber war neidisch auf ihn und führte ihn an eine Stelle, wo ein Stück Fleisch in einer Falle lag. »Das habe ich gefunden,« sagte er, »aber ich habe es mir nicht selbst angeeignet, sondern dir, o König, als Ehrengabe zugedacht. So nimm es denn an dich.« Täppisch griff der Affe zu und saß in der Falle gefangen. Da wehklagte er und nannte den Fuchs einen hinterlistigen Verräter. Der aber sagte: »Du willst über die Tiere herrschen, o Affe, und bist so töricht?«

 

6. Die Schildkröte und der Adler

Die Schildkröte sah einen Adler fliegen und bat ihn, auch sie diese Kunst zu lehren. Der Adler redete ihr vergeblich zu, das sei gegen ihre Natur. Sie setzte ihm immer heftiger zu, bis er sie endlich in seine Fänge nahm, hoch in die Luft hinauftrug und dann fallen ließ. Sie aber schlug auf einen Felsen auf und ward zerschmettert.

 

7. Die Katze und der Hahn

Die Katze hatte den Hahn gefangen und wollte ihn unter einem guten Vorwand verzehren. So klagte sie ihn denn an, er sei den Menschen lästig, da er nachts krähe und ihnen den Schlaf vertreibe. »Das tue ich zu der Menschen Nutzen,« sprach der Hahn, »damit sie aufwachen und an die gewohnte Arbeit gehen.« Da hatte die Katze einen neuen Grund, der Hahn sei gottlos, da er es wider die Natur mit seiner eigenen Mutter und seinen eigenen Schwestern halte. Der aber antwortete: »Auch das tue ich zu meiner Herren Nutzen, denn so werden viele Eier für sie gelegt.« Da sprach die Katze: »Und wenn du noch so viel schönklingende Ausreden hast, so werde ich deswegen doch nicht hungrig bleiben.« Und damit biß sie dem Hahn den Kopf ab.

 

8. Die Hähne und das Rebhuhn

Ein Mann hielt sich Hühner in seinem Hofe. Als er nun ein zahmes Rebhuhn feilbieten sah, kaufte er das, um es mit den Hühnern zusammen aufzuziehen. Diese aber empfingen den Neuling übel und verfolgten ihn mit scharfen Schnabelhieben. Da ward das Rebhuhn traurig und meinte, das geschehe ihm so, weil es von einem andern Stamm sei als die Hähne. Kurz darauf aber sah es, wie die Hähne aufeinander einhieben und nicht eher abließen, als bis Blut floß. Da sprach es zu sich selbst: »Nun will ich auch nicht länger trauern. Denn ich sehe, daß die Hähne nicht einmal einander verschonen.«

 

9. Des Löwen Anteil

(societas leonina) Nach dieser Fabel heißt das Bündnis mit einem Mächtigeren, bei dem der Schwache zu kurz kommt, im Sprichwort und anderswo societas leonina.

Löwe, Esel und Fuchs schlossen einen Bund und gingen zusammen auf die Jagd. Als sie nun reichlich Beute gemacht hatten, befahl der Löwe dem Esel, diese unter sie zu verteilen. Der machte drei gleiche Teile und forderte den Löwen auf, sich selbst einen davon zu wählen. Da aber wurde der Löwe wild, zerriß den Esel und befahl nun dem Fuchs zu teilen. Der nun schob fast die ganze Beute auf einem großen Haufen zusammen und ließ für sich selbst nur ein paar kleine Stücke über. Da schmunzelte der Löwe: »Ei, mein Bester, wer hat dich so richtig teilen lehren?« Der Fuchs antwortete: »Das Los des Esels!«

 

10. Der Löwe / Der Fuchs und der Wolf

Der alte Löwe lag krank in seiner Höhle, und die Tiere machten ihm ihre Aufwartung; nur der Fuchs fehlte. Da gedachte der Wolf die gute Gelegenheit zu benutzen und verklagte den Fuchs beim Löwen. »Er allein, o König,« sprach er, »kümmert sich nicht um dich, der du unser aller Herr bist. So ist er auch nicht einmal gekommen, um dir seine Aufwartung zu machen.« Währenddessen kam der Fuchs und hörte gerade noch die letzten Worte des Wolfes. Grimmig brüllte ihn der Löwe an, der Fuchs aber bat um die Erlaubnis, sich zu verteidigen. »Wer, o Herr,« hub er an, »hat sich denn mehr um dich bemüht, als ich? Überall bin ich herumgelaufen und habe die Ärzte um ein Heilmittel für dein Leiden gefragt, und schließlich habe ich auch eins gefunden.« Sofort befahl ihm der Löwe, das Heilmittel zu nennen. »Laß den Wolf«, sprach der Fuchs, »lebendig schinden und hülle dich in seinen Pelz, solange er noch warm ist.« Gleich darauf lag der Wolf tot am Boden, und der Fuchs sprach lachend: »Man muß den Herrscher zum Wohltun antreiben und nicht zum Übeltun.«

 

11. Die Fledermaus / Der Tauchervogel und der Dornstrauch

Die Fledermaus, der Tauchervogel und der Dornstrauch waren ursprünglich Menschen und gründeten zusammen eine Handelsgesellschaft. Die erste nahm Geld auf gegen hohe Zinsen, der zweite steuerte eine Menge Kupfer bei und der letzte einen ansehnlichen Posten Kleider. Damit rüsteten sie ein Schiff aus und fuhren los. Aber als sie auf der hohen See waren, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und das Schiff kenterte. Sie verloren all ihr Hab und Gut und retteten sich nur mit Mühe an den Strand. Die Götter aber hatten Mitleid mit ihrer Verzweiflung und verwandelten den ersten in eine Fledermaus, den zweiten in einen Tauchervogel und den letzten in einen Dornstrauch. Seit der Zeit taucht am Strande der Tauchervogel unablässig in die Tiefe, in der Hoffnung, endlich einmal sein Kupfer wiederzufinden. Die Fledermaus hat Angst vor ihren Gläubigern; deshalb ist sie tags unsichtbar und geht nur in der Dunkelheit auf Raub aus. Der Dornstrauch aber hält alle Vorübergehenden an den Kleidern fest, um zu sehen, ob er nicht sein Eigentum wiedererkennt.

 

12. Der Hund und der Wolf

Der Hund schlief sorglos vor dem Gehöfte, da überfiel ihn der Wolf und schickte sich an, ihn zu zerreißen. Da aber bat der Hund den Wolf mit diesen Worten: »Laß mich heute gehen, denn jetzt bin ich noch mager und dürr. Nun aber wollen meine Herrn ein Hochzeitsfest feiern. Dabei werde ich dick und fett werden, und dann magst du mich fressen.« Der Wolf ließ sich betören und gab ihn frei. Als er aber nach einigen Tagen den Hund auf dem Dach des Gehöftes schlafen sah, erinnerte er ihn an die Abmachung und befahl ihm, herauszukommen. Der Hund aber antwortete: »Wolf, wenn du mich noch einmal draußen schlafend findest, so warte nicht erst ab, bis Hochzeit gewesen ist.«

 

13. Der Fuchs und der Holzhauer

Ein Fuchs floh vor den nachsetzenden Jägern und kam zu einem Holzhauer, den er um Rettung anflehte. Der aber hieß ihn sich in seiner Hütte verbergen. Kurz darauf erschienen auch die Jäger und fragten, ob nicht hier ein Fuchs vorbeigelaufen sei. Der Holzhauer leugnete es zwar mit Worten, deutete aber gleichzeitig nach seiner Hütte, wo der Fuchs verborgen war. Die Jäger aber achteten nicht auf diesen Wink, sondern nur auf seine Worte, und gingen weiter. Als aber der Fuchs sah, daß sie abgezogen waren, kam er hervor und wollte sich schweigend davonmachen. Da machte ihm der Holzhauer Vorwürfe, daß er ihm nicht mit einem Worte dafür danke, daß er ihm das Leben gerettet habe. Der Fuchs aber sprach: »Ich hätte dir wohl gedankt, wenn nur die Werke deiner Hand den Worten deines Munds entsprochen hätten.«

 

14. Die Füchse am Mäander

Einst standen die Füchse am Mäander zusammen und hätten gerne aus ihm getrunken. Weil der Fluß aber sehr reißend war, wagte keiner zuerst hineinzugehen, und jeder wollte dem andern den Vortritt lassen. Einer aber war keck, wollte seinen Mut zeigen und die andern wegen ihrer Feigheit verspotten. So sprang er denn mutig hinein. Wie ihn nun aber die Strömung nach der Mitte des Stromes hintrieb, riefen die andern vom Ufer aus: »Laß uns doch nicht im Stiche, sondern kehre zurück und zeige uns die Furt, damit auch wir gefahrlos hineinsteigen und trinken können.« Doch der antwortete noch im Forttreiben: »Ich habe einen Auftrag in Milet auszurichten. Wenn ich zurückkomme, will ich euch die Furt zeigen.«

siehe Bildunterschrift

Dichter mit Theatermasken.
Relief nach Brunn-Bruckmann

 

15. Der Bauer und die Schlange

In eines Bauern Hof hauste eine Schlange, und der Bauer erwies ihr alle Ehre, denn er glaubte, sie bringe ihm Glück. Eines Tages aber biß die Schlange des Bauern Sohn, so daß er starb. Da ergrimmte der Bauer und stellte sich mit einem Beil an den Felsen, unter dem die Schlange ihr Loch hatte, und lauerte ihr auf. Wie nun die Schlange ihren Kopf hervorstreckte, schlug er nach ihr mit dem Beil. Aber die Schlange fuhr rasch zurück, so daß er mit dem Beilhieb nur den Felsen zertrümmerte. Später aber bekam er Angst, die Schlange könnte ihn verderben. Daher stellte er Milch und Honig vor ihre Höhle und sprach zu ihr, sie solle sich wieder mit ihm versöhnen. Die Schlange aber sprach: »Zwischen uns wird keine Versöhnung sein können, solange ich den zertrümmerten Felsblock an meiner Höhle sehe und du das Grab deines Sohnes.«

 

16. Der Hirte und das Meer

Ein Hirte weidete seine Herde nahe am Meer. Wie er nun sah, daß die See so spiegelglatt war, bekam er Lust, mit Schiffahrt viel Geld zu verdienen. Daher verkaufte er seine Herde und belud ein Schiff mit Datteln und fuhr los. Als er aber auf der hohen See war, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und sein Schiff kenterte. Er verlor all sein Hab und Gut und rettete sich mit Mühe an den Strand. Wenige Tage darauf stand er wieder am Meeresstrand, und einer, der gerade vorbeiging, lobte die See, wie sie so spiegelglatt und windstill sei. Da sagte der Hirt: »Ja, das Meer hat offenbar wieder Lust nach Datteln.«

 

17. Der Esel

Ein Esel diente bei einem Gärtner, wo es viel zu schleppen gab, aber wenig zu essen. Er flehte also zu Zeus, er solle ihn von dem Gärtner befreien und einem andern Herrn überweisen. Zeus schickte den Hermes zu dem Gärtner und befahl ihm, den Esel an einen Töpfer zu verkaufen. Bei dem aber mußte der Esel noch viel schlimmere Lasten tragen und wandte sich daher wieder an Zeus. Da bewirkte dieser, daß er ein letztesmal verkauft wurde, und zwar an einen Gerber. Als der Esel aber sah, was sein Herr für ein Handwerk betrieb, sagte er zu sich selbst: »O, hätte ich doch bei meinen früheren Herren Mühe und Hunger ertragen und wäre nie hierher gekommen. Denn hier werde ich auch nach dem Tode kein ehrliches Begräbnis finden.«

 

18. Die zwei Hunde

Ein Herr hatte zwei Hunde und zog den einen als Jagdhund groß, den andern aber als Hofhund. Wenn nun der Jagdhund draußen etwas erbeutet hatte, so warf der Herr abends auch dem Hofhund ein Stück von der Beute hin. Das nahm der Jagdhund übel und schmähte den Genossen: »Ich muß mich den ganzen Tag abmühen, du aber faulenzest und genießt dann die Früchte meiner Arbeit!« Der aber antwortete: »Tadle nicht mich, sondern den Herrn. Denn der hat mich gelehrt, mich nicht selbst anzustrengen, sondern nur von fremder Mühe zu leben.«

 

19. Der Freund der Wahrheit

Bekanntlich pflegt man auf Seereisen Malteserhündchen und Affen mitzunehmen, um sich mit ihnen unterwegs die Zeit zu vertreiben. So brachte auch einst einer einen Affen mit an Bord. Als sie nun aber beim Sunion, dem Vorgebirge Attikas, waren, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und das Schiff kenterte. Alle suchten das Land durch Schwimmen zu erreichen und so trieb auch der Affe in den Wellen. Ein Delphin sah ihn und nahm ihn auf seinen Rücken, um ihn zu retten, da er ihn für einen Menschen hielt. Wie sie sich nun dem Piräus, dem Hafen Athens, näherten, fragte der Delphin seinen Schützling, ob er aus Athen sei. Der Affe antwortete: »Natürlich! Ich stamme aus einem der ersten Geschlechter Athens.« Der Delphin fragte dann weiter, ob er denn auch den Piräus kenne. Der Affe meinte, jener rede von einem Menschen und sagte: »Jawohl, das ist einer meiner allerbesten Freunde.« Da aber ergrimmte der Delphin über eine so unverschämte Lüge und tauchte unter, so daß der Affe ertrank.

 

20. Pferd / Rind / Hund und Mensch

Als Zeus den Menschen schuf, gab er ihm nur kurze Lebenszeit. Der aber brauchte seinen Verstand, und als der Winter herannahte, baute er sich ein stattliches Gehöfte. Wie es nun kalt wurde und Zeus den Regen vom Himmel herabgoß, konnte das Pferd es im Freien nicht mehr aushalten. So kam es denn im Galopp zu des Menschen Behausung heran und bat um Aufnahme. Der sagte: »Ich will dich aufnehmen, aber unter der Bedingung, daß du mir einen Teil deiner Lebensjahre abtrittst.« Das Pferd war es zufrieden und erhielt Stallung und Futter. Kurz darauf kam das Rind und noch später der Hund, und mit beiden schloß der Mensch den gleichen Vertrag. So kommt's, daß der Mensch, solange er in den Jahren steht, die ihm Zeus selbst verliehen hat, friedlich und gut ist. In den Jahren aber, die er vom Roß hat, ist er hochmütig und üppig, in denen, die er vom Rind hat, ist er ein gewaltiger Schaffer, und in denen, die ihm der Hund abtrat, mürrisch und bissig.

 

21. Der Satyr und der Mensch

Ein Satyr und ein Mensch schlossen Freundschaft miteinander. Wie sie nun so beieinander waren, hauchte der Mensch in seine Hände, um sie zu erwärmen, denn es war Winter und kalt. Da fragte ihn der Satyr: »Was tust du da?« »Ich wärme mir die Hände«, sagte der Mensch. Kurze Zeit darauf setzten sie sich zum Mahle. Da nun die Speise zu heiß war, führte der Mensch sie zum Munde und blies darauf. »Was tust du da?« fragte wiederum der Satyr. »Ich kühle die Speise ab«, entgegnete der Mensch. »Ich aber«, sprach der Satyr, »sage dir die Freundschaft auf. Denn ich will nichts zu tun haben mit einem, der aus demselben Munde Wärme und Kälte hervorkommen läßt.«

 

22. Die Wanderer und die Platane

Zur Sommerszeit wurden einst Wanderer von der Mittagssonne arg geplagt und waren froh, als sie eine Platane fanden, unter der sie sich lagern konnten. Als sie aber so ausruhten und in die Zweige der Platane hinaufblickten, sagten sie zueinander: »Wie nutzlos ist doch dieser unfruchtbare Baum für die Menschen!« Da sprach die Platane: »Wie undankbar seid ihr doch, ihr Menschen! Noch während ihr meinen Schatten genießet, schmäht ihr mich unfruchtbar und nutzlos.«

 

23. Taube und Krähe

In einem Taubenschlag lebte eine Taube, die hatte viele Kinder. Als sie einst davon ein großes Rühmen machte, sagte die Krähe zu ihr: »Höre doch auf, so zu prahlen. Je mehr Kinder du großziehst, um so schmerzlicher wird dir später ihr Verlust sein.«

 

24. Prometheus und die Menschen

Auf Zeus' Befehl schuf Prometheus Menschen und Tiere. Als aber Zeus sah, daß der Tiere weit mehr waren als der Menschen, befahl er ihm, aus den Tieren einige zu Menschen umzuformen. Prometheus tat es, und so kommt es, daß mancher eine menschliche Gestalt hat, aber eine tierische Seele.

 

25. Momos als Kritiker

Personifikation der Tadelsucht, ein Sohn der Nacht. Er barst vor Ärger, daß er an Aphrodite nichts auszusetzen fand. Schiller: »Den lauten Markt mag Momus unterhalten.«

Zeus hatte den Stier geschaffen, Prometheus den Menschen und Athene das Haus, und nun verlangten sie von Momos sein Urteil. Der aber war neidisch auf die Schöpferkraft der andern und sagte: »Ihr habt es alle versehen. Zeus hätte dem Stier die Augen an die Hörner setzen sollen, damit er auch sieht, wohin er stößt. Prometheus hätte das Innere des Menschen nach außen kehren sollen, damit die Schurken nicht die andern betrügen können. Schließlich hätte Athene das Haus auf Räder stellen sollen, damit einer rasch weiterziehen kann, wenn er einen schlechten Nachbar hat.« Da ergrimmte Zeus über den hämischen Spötter und warf ihn aus dem Olymp.

 

26. Herakles und der Reichtum

Als Herakles unter die Götter erhoben war und zum erstenmal an des Zeus Tafel Platz nahm, begrüßte er jeden der Götter mit großer Herzlichkeit. Als aber zuletzt Plutos [der Gott des Reichtums] eintrat, bückte sich Herakles zur Erde nieder und wollte nicht von ihm gesehen sein. Da wunderte sich Zeus und fragte ihn, warum er von allen Göttern nur den Plutos nicht begrüße. Herakles aber sagte: »Ich wende mich deshalb von ihm ab, weil ich ihn, während ich da unten bei den Menschen weilte, meist die Schlechten beschützen sah.«

 

27. Aesop und die Schiffsbauer

Als der Fabulist Aesop einst gerade Muße hatte, ging er auf einen Werftplatz. Sofort machten sich die Schiffbauer an ihn, verspotteten ihn und forderten ihn auf, ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Da sprach Aesop: »Erst war nur das Chaos und die Gewässer. Zeus wollte aber auch das trockene Element zu seinem Rechte kommen lassen und forderte die Erde auf, zu dreien Malen das Wasser in sich einzuschlürfen. Die Erde tat so, und beim erstenmal erschienen die Berge, beim zweitenmal auch die Ebenen. Wenn sie aber zum drittenmal ansetzt und das Wasser gänzlich einschlürft, so wird eure Kunst unnütz sein.«

 

28. Die Theatermaske

Ein Fuchs kam in eines Künstlers Werkstatt und durchspürte dort alles. Da fand er auch eine tragische Maske, nahm sie zwischen die Pfoten und sagte: »Welch ein Kopf – und gar kein Gehirn darin!«

 

29. Die Frau und die Mägde

Eine Witwe, die sehr hinter der Arbeit her war, pflegte ihre Mägde noch in der Nacht beim ersten Hahnenschrei zu wecken und an ihr Tagewerk zu treiben. Da diese nun der ewigen Mühe satt wurden, beschlossen sie, den Haushahn zu töten. Denn diesen hielten sie für den Urheber ihrer Leiden, da er noch in der Nacht die Herrin aufwecke. Als sie aber so getan hatten, gerieten sie nur in noch ärgere Not. Denn die Herrin kannte nunmehr die Stunde des Hahnenschreis nicht mehr und weckte sie noch viel tiefer in der Nacht.

 

30. Die Zauberin

Eine Frau behauptete, sie verstehe sich darauf, die Götter zu beschwören und auch ihren Zorn zu beschwichtigen. Sie hatte viel Zulauf und erwarb viel Geld und Gut. Schließlich aber wurde sie religiösen Frevels bezichtigt, vor Gericht gestellt und auch zum Tode verurteilt. Als nun einer sah, wie sie abgeführt wurde, rief er ihr zu: »Du rühmtest dich ja, du könntest die Götter besänftigen, und nun konntest du nicht einmal den Ränken der Menschen entgehn.«

 

31. Die Feinde

Zwei Leute, die miteinander verfeindet waren, fuhren auf demselben Schiff. Um nun ja weit voneinander weg zu sein, ging der eine auf das Vorderdeck, der andere auf das Hinterdeck, und dort blieben sie. Plötzlich erhob sich ein gewaltiger Sturm, und das Schiff drohte zu kentern. Da fragte der auf dem Hinterdeck den Steuermann, welcher Teil des Schiffes wohl zuerst sinken würde. Der sagte: »Das Vorderteil.« »Nun wohl,« entgegnete der Fahrgast, »mir ist der Tod nicht schmerzlich. Denn ich sehe ja meinen Todfeind vor mir ertrinken.«

 

32. Der Prahler

Ein Mann kam aus der Fremde wieder in seine Vaterstadt zurück. Nun erzählte er seinen Landsleuten viel von seinen Großtaten in allen möglichen Ländern und so auch, daß er in Rhodos einen Weitsprung getan habe, wie ihn noch keiner seiner Zeitgenossen fertiggebracht habe. »Und wer das nicht glaubt, fuhr er fort, kann in Rhodos nachfragen. Die Rhodier werden mir das gerne bezeugen.« Da sagte einer der Umstehenden: »Höre du, wenn das wahr ist, braucht es keine Zeugen! Wohlan, hier ist Rhodos – wohlan, so springe denn!«

 

33. Der Schuldner in Nöten

Als in Athen einst ein Schuldner von seinem Gläubiger aufgefordert wurde, das ihm geborgte Geld endlich zurückzuzahlen, verlangte er zunächst einen Aufschub. Als der aber nicht darauf einging, trieb er das einzige Schwein, das er noch besaß, in Gegenwart des Gläubigers zum Verkauf auf den Markt. Als nun ein Käufer kam und fragte, ob das Schwein auch brav Junge werfe, sprach er: »Jawohl, und wunderbarerweise zur Zeit der Mysterien immer weibliche und zur Zeit der Panathenäen immer männliche Ferkel.« Als nun der Käufer ganz verdutzt dastand, setzte der Gläubiger hinzu: »O wundere dich doch darüber nicht. Dies Schwein wird dir an den Dionysien sogar Zicklein werfen.« Also gerade die Opfertiere, die bei den athenischen Staatsfesten verlangt wurden.

 

34. Der Vater und die Töchter

Ein Mann hatte zwei Töchter; die eine verheiratete er an einen Gärtner, die andere an einen Töpfer. Nach einiger Zeit besuchte er nun die Gärtnersfrau und fragte sie: »Wie geht's dir, und was machen eure Geschäfte?« »O,« sprach die Tochter, »ich bin ganz zufrieden. Nur darum flehe ich die Götter an, daß ein ordentlicher Regen kommt, damit das Gemüse besser wächst.« Der Vater nahm Abschied und ging zu der Töpfersfrau. Auch diese fragte er: »Wie geht's dir, und was macht euer Geschäft?« »O,« sprach die Tochter, »uns fehlt sonst nichts. Nur darum flehe ich die Götter an, daß das helle Wetter anhält, damit unsre Töpfe gut austrocknen.« Da sprach der Vater: »Du willst Sonnenschein, und deine Schwester will Regen – mit welcher von euch soll ich nun meine Gebete vereinigen?«

 

35. Der durchschaute Spötter

Ein schlimmer Geselle war eine Wette eingegangen, er wolle nachweisen, daß auch der Gott in Delphi sich irren könne. Als er nun vor das Orakel trat, hielt er unter dem Gewande einen Sperling in der Hand und fragte den Gott: »Apollon, ist das lebendig oder leblos, was ich in der Hand halte?« Antwortete nun der Gott: »Leblos!«, so wollte er den Vogel lebend hervorholen, antwortete er aber: »Lebendig!«, so wollte er ihn erwürgen und tot zum Vorschein bringen. Der Gott aber durchschaute seine Arglist und sprach: »Halt ein, mein Guter! Es liegt in deiner Hand, ob du, was du hältst, tot oder lebendig zeigen willst.«

 

36. Hermes und der Bildhauer

Hermes wollte einst in Erfahrung bringen, in welchem Ansehn er bei den Menschen stünde. Er nahm daher Menschengestalt an und trat in den Laden eines Bildhauers. Dort sah er das Bild des Zeus und fragte: »Was kostet das?« Der Bildhauer sagte: »Eine Drachme.« Da mußte Hermes lachen, daß Zeus so wohlfeil sei und fragte nach dem Preis einer Herastatue. Der Bildhauer nannte einen etwas höheren Preis. Nun dachte Hermes, er selbst werde als Götterbote und Schützer jedes gewinnbringenden Handels bei den Menschen in hoher Ehre stehen und fragte nach dem Preis eines Hermesbildes. Der Bildhauer aber sagte: »Wenn du die beiden andern nimmst, gebe ich dir den obendrein.«

 

37. Hermes und Teiresias

Hermes wollte einst die Sehergabe des Teiresias auf die Probe stellen. Daher stahl er ihm zunächst seine Rinder und kehrte dann in Menschengestalt bei ihm ein. Als Teiresias gerade den Gast bewirtete, wurde ihm der Rinderdiebstahl gemeldet. Er ging nun mit Hermes in das Freie, um dort aus dem Vogelflug ein Zeichen über den Diebstahl zu erhalten. Dort verhüllte er sein Haupt und bat den Hermes, ihm zu sagen, was für Vögel er sähe. Hermes sah zuerst einen Adler, der von links nach rechts vorbeiflog, und meldete das dem Seher. »Der geht uns nichts an«, sagte Teiresias. Dann sagte Hermes: »Ich sehe eine Krähe auf einem Baum sitzen, die bald gegen den Himmel, bald wieder auf die Erde herniederblickt.« »Nun wohl«, sprach Teiresias, »diese Krähe schwört bei Himmel und Erde, daß ich meine Rinder wieder erhalten werde, sobald du es willst, o Hermes!« Der Schwank benutzt die Sprache der Auguraltechnik, der Deutung des Vogelflugs. Der Adler zeigt an, daß Götter im Spiel sind. Die Krähe verrät dann den Hermes.

 

38. Die unverträgliche Frau

Ein Mann hatte eine streitsüchtige Frau, die sich mit niemand in seinem Haus vertrug. Nun wollte er erproben, ob sie auch mit ihren eigenen Verwandten nicht besser auskomme, und schickte sie unter einem glaubhaften Vorwande zu ihrem Vater. Als sie nach einigen Tagen wieder zurückkam, fragte er sie, welche Aufnahme sie bei den Ihrigen gefunden habe. Sie sagte: »Die Hirten meines Vaters waren unfreundlich zu mir.« Da rief der Mann aus: »Weib, wenn du mit denen gehadert hast, die frühmorgens ihre Herde austreiben und spät abends heimkehren – wie wirst du es erst mit den andern gehalten haben, mit denen du den ganzen Tag zusammen warst?«

 

39. Schlechter Trost

Ein Kranker wurde vom Arzt gefragt: »Wie geht's?« Als er antwortete: »Ich habe mehr geschwitzt als mir recht scheint«, sagte der Arzt: »O, das ist ganz gut.« Später kam der Arzt wieder und fragte ihn von neuem, wie es gehe. Als der Kranke nun antwortete: »Ich leide an Schüttelfrost und friere sehr«, sagte der Arzt: »Auch das ist ganz gut.« Wie der Arzt nun zum drittenmal kam und wieder nach seinem Befinden fragte, sagte der Kranke: »Mich hat die Wassersucht befallen.« Da sprach der Arzt: »Auch das ist ganz gut.« Nun kam einer der Hausgenossen und fragte den Kranken, wie es um ihn stehe. Der aber antwortete: »Vor lauter Gutem komme ich noch um.«

siehe Bildunterschrift

Silen vor der Sphinx.
Vasenbild nach Overbeck, Galerie heroischer Bildwerke

 

40. Das »ehrliche Handwerk«

Zeus befahl dem Hermes, er solle allen Handwerkern Lügengift zu trinken geben. Der rieb das Gift in einer Schale an und ließ dann jeden die gleiche Portion trinken. Nun hatten alle getrunken bis auf den Schuster, aber es war noch eine Menge Gift übrig. Da ließ Hermes den Schuster den ganzen Rest trinken.

Daher kommt es, daß alle Handwerker lügen, am meisten aber die Schuster.


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