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In der Familie Selle ging offen alles nach dem Geheimrat. Der strenge Geist waltete immer, solange der alte, sehr gerade aufrechtgehende Herr im Hause war. Und nichts war zu spüren, daß von Bluts wegen in des Geheimrats Hause im Grunde noch immer etwas von einem ganz fremden Geiste und Leben umging. Außenhin waren die Selles, wenn man sie auch da und dort neckend die Zigeuner nannte, eine ganz vornehme Familie. Bis auf den gelbbraunen Hautton von Frau Selle und die lässig trägen Bewegungen jeder einzigen dieser vier dunkelfarbigen Töchter, die sich in den teppichweichbelegten Zimmern am Klavier oder vor einem Malwerk halbtätig amüsiert herumdehnten, hätte man beim ersten Eintreten ins Haus an nichts anderes denken können.

Herr Selle hatte alles Phantastische durchaus ferngehalten.

Der Flur war fast zu voll gestellt. Der Eintretende, wenn er sich beim Ablegen des Mantels oder so auch nur eine Linie weiter ausrecken mußte, lief Gefahr, Leuchter oder Schirmlampen oder eine Hutschachtel oder Vase gar mit Blumen, die dort im Verborgenen kümmerlich blühten, herabzureißen. Das sah durchaus nicht phantastisch aus. Eher, wie das Entree bei einem Händler, der gleich im ersten Eindruck verrät, daß nun erst drinnen in allen Räumen Schränke und Schübe mit gutem Hausrat überfüllt sind.

So schlimm war es nun innen nicht. Da brachte doch der vergilbte, blaue Plüsch im Mittelraume, der auf einem großen Sofapolster und zwei Sesseln sich ausgebreitet, ein wenig Buntheit. Und gar im Salon der Frau Selle daneben zeigte der weiche, große Teppich, der noch ziemlich neu war, eine riesige, blaue Blumenstaude mitten in den gelben Spiegel eingewoben, was man kaum hätte denken sollen, weil Herr Selle selbst diesen Teppich zum Geburtstag für Frau Selle ausgesucht und gekauft hatte.

In diesem Salon stand auch ein Schreibtisch für Frau Selle, obwohl Frau Selle selbst eigentlich nie schrieb, und so nur die Töchter, die sich sogar im Hause Briefe schrieben, um ihren Lebensdrang heimlich auszutoben, sich um den Platz davor zanken oder barsch anfahren konnten.

Alle Phantasmen waren aus diesen Räumen und von diesen Menschen sichtbarlich völlig fortgetrieben, solange der strenge Blick des Herrn Selle alles zusammenhielt und beherrschte. Es kam dazu, daß in dem Arbeitszimmer des Herrn Geheimrat selbst lange Reihen Bücher in gleicher Uniform, unermeßliche Registerreihen von A bis O oder Z standen, kalt papieren gebunden in Grau, so daß nur die Rückenschilde grün oder rot zu glänzen wagten. Und an den wenigen schmalen Wandflächen, die frei geblieben, hingen kleine Medaillonbildchen, gelehrte, steife Gesichter mit Brillen auf der Nase, die aussahen, als hätten sie auch schon ewig in Registern und Buchstaben herumgesucht. Denn Herrn Selles Vater war ein berühmter Altertumsforscher gewesen, ein versunkengrabender Kenner aller ehrwürdigen Dokumente deutscher Vergangenheit. Herr Selle liebte diese Tatsache mit strengem Stolz in der Familie zu betonen. Er selbst bedauerte dabei hundertmal im Leben, sich in diesen Quellen nicht haben gründlich erquicken zu können.

»Aber bei mir zu Hause hieß es, verdiene bald! Wir waren zwölf Kinder. Bei meinem ehrwürdigen Herrn Vater gab es dann gar keine Unklarheit, keine Fata morgana. Er sah und bestimmte. Da gab es kein Widerreden. Und schließlich kann ein tüchtiger Mensch sich an jedem Platze bewähren,« sagte er dann mit einer entfernten Genugtuung. So waren aus solcher Erinnerung auch die Namen der Kinder bis auf den ersten, der von Frau Selles Pflegemutter stammte, deutsch geworden. So hießen die Kinder also: Johanna, Katharina, Einhart, Rosa und Emma. Denn mit Knaben war es bei Einhart geblieben.

Und es lag unter Namen, die »aus dem deutschen Altertume« stammten, und unter dem strengen, farblos-gleichmäßigen Pflichtenleben, und in dem phantasielosen Gehäuse, darein Herr Geheimrat Selle und die ganze, dunkle Geheimratsfamilie eingefangen war, der alte, unversiegliche Quell Sehnsucht und Traum der Seele ganz verschüttet.

Sicherlich ganz verschüttet.

Denn schon Frau Selle war als Mädchen von kleinlich-mahnender, innigversorgter Bürgerliebe umgeben gewesen, hatte es nur zu gut gehabt, hatte sich schmücken und einzig tun können, und hatte in solchem leichtsinnig-schwärmerischen Flitterleben die heimlichen Flammen ihres hüpfenden Blutes verflackern lassen. Schon ihre Augen und Seele hätten nicht gewußt, wo für ihre Sehnsuchten groß anderes finden? Nun gar die der vier Mädchen, die eines Geheimrats Töchter waren.

Der Feuerbrand der alten, treibenden Natursehnsucht, die Atemnot in engen Räumen, die Lust ins Unbestimmte hinaus, wie Vögel ziehen nach südlichen Paradiesen, oder wie Winde ziehen, in Wipfeln zausen und mit vom Knospendufte vollgesogenen Kuß lustig weiter wirbeln über Heide und Weide und Waldtäler, in Traumfetzen regten sie sich in den Geheimratsdirnen, in den trägen Bewegungen der jungen, jachen Leiber, in einem flüchtigen Blick wie im Hasse und Streite kam daran eine Erinnerung. Aber alles wäre auch hier wie in der Mutter ohne Deutung und Sinn gewesen, ohne Drang, ohne Hoffnung, ohne Nachhall und Darstellung, solange das Jungvolk eitel der Wohlhabenheit starre Ehren genoß –: wäre nicht eben unter dem Namen Einhart ein rechter Nimmersatt von Traum und Verachtung, ein unheilbar Unbürgerlicher, einer, dem es aus langem Wandertum der Urväter mit heißen Purpurbildern im Blute umging, verborgen gewesen.

Herrn Geheimrat Selle schien dieser Bengel bald hoffnungslos. Man kann sagen, die ganze Geheimratsfamilie wäre wie ein erstarrtes Idyll in Dunkelfarben erschienen: Der Herr ein grauer Kraterrand und drumherum viele stille, lockende Blumen auf der erstarrten Lava erwachsen. Wenn nicht Einhart im Grunde ein brennendes Feuer, eine ohne Absicht ungebändigte, ziellos aufquellende Lebenssucht heimlich mit sich getragen hätte, aus Ehre und Schranken der grauen, eingeschnürten, kleinen, sonnenlosen, getünchten Pflichtenwelt auf irgendeine, ihm selbst in dieser Jugend noch völlig unklare Weise zu entfliehen.

Wie dieser Junge mit seinen sechzehn Jahren schon allein aussah! Schlank, fast wie wenn er Vogelglieder hätte. Ganz gerade gewachsen. Aber auch einen schmächtigen Vogelhals. Und fettes, rabenschwarzes Schlichthaar, davon Strähne immer in die Stirn fielen. Das Gesicht sehr mager und gelb. Die Augen in Dunkelweiß so tief funkelnd, wenn er haßte oder in Abwehr aufblitzte, obwohl er meist eine fast lächerliche Gutmütigkeit und scheue Einfalt zeigte, und fast nie wußte, ob er gelebt oder nur geträumt, was er redete.

Heimlich rauchte er, wo er konnte, gleichgültig was.

Die Schwestern steckten ihm allerhand zu, und die Mutter desgleichen.

Eine feine, schmale Stirn, daran eine leichte Aderschwellung in Zeiten der Freude, hatte er, eine feine, schmale Nase und gerade, schmale, frohe Lippen, aus denen die vom Rauchen leicht gelben Zähne sahen.

Wer ihn so betrachtete, war entsetzlich erstaunt, daß dieser junge Mann Einhart hieß, und noch mehr darüber, daß er eines strengen Geheimrats Sohn war.

Man konnte ihm anschaffen, was man wollte. Alles war gleich hin. Man konnte ihn mahnen, sorgfältig und auf seine Reinlichkeit achtsam zu sein. Es gäbe keinen, der in solchen Träumen leben und noch hätte wissen können, wofür man Seife und Wasser brauchte und wie die Traumdinge reiner waschen? Er selbst ging vor sich im Traume hin, und hatte nie ein Gefühl, daß er je und je Schmutz an Haaren und Halse, Nägeln und Händen, und an seinen Kleidern mit sich brachte, wo er ging und stand. Nun, daß da gerade Herr Selle nicht glücklich war über solches zuchtloses Leben, kann man begreifen. Es gab jetzt ewig Szenen um Einhart. Man mußte sich allmählich schämen, wenn er einmal von den Schwestern unbemerkt unter Besuche hereingekommen. Draußen putzten und säuberten ihn dann erst die Schwestern. Und er lachte kindlich dazu.

Die Mutter hatte heimlich einen Hang zu ihm. Wenn sie ihn auch nur sah, strich sie ihm immer flüchtig die gelbgraue Wangenhaut. Der Mutter gegenüber war auch er immer geradezu wie ein demütiger Hund. Es lag in ihr für Einhart etwas, was er sinnlos und wie nichts in der Welt liebte. Und für sie schien sich in Einhart wiederherzustellen, so ins Unbestimmte, was sie immer verloren gefühlt. So sah Frau Selle mit träger Verachtung fast, wenn sie alle erst um den Tisch saßen, zu Vater, aber zu Einhart mit jäher, heimlicher Glut in den Mienen, die so graugelb waren, wie seine, nur welk und alt.

Und Frau Selle hatte es oft für sich amüsiert, wenn er das Essen verpaßt, draußen in der Sandkuhle gelegen, Igeln nachgetrachtet im Weizenfelde, mit Kindesblicken ewig einer Lerche Jubel zugestarrt bis zum Blenden, und statt des Kalbsbratens mit trüber, dünner Soße daheim einfach Ähre um Ähre vom Weizenfelde ausgekörnert und mit seinen Zähnen, unter Traumen oben im Hirn, zermahlen hatte.

Dann hatte er ihr alles umständlich erzählen müssen, daß Frau Selles Augen unaufhörlich dabei lachten. Auch wenn es schon Auftritte gegeben mit Vater. Wobei Mutter natürlich gar nicht erst hatte wagen können, gegen dessen Wünsche und Bestimmungen aufzukommen.

Aber heimlich, da hatte man beisammen gesessen, wenn der Herr Geheimrat geraden Ganges mit dem Schirm unter den Armen die Straße entlang gegangen, und man ihn um die Ecke hin endlich hatte verschwinden sehen. Da kam jede einzelne der Schwestern, um Einhart um den Hals zu nehmen. Rosa zuerst, die ihn ein Stück drollig hinzog, wobei er noch immer absichtlich ein dummes Gesicht behielt. Auch wenn der Tusch noch jetzt manchmal mit Handgreiflichkeiten geendet. Alle kamen, Johanna, Katharina, und die Jüngste, Emma, und faßten ihn um den Hals von hinten oder von vorn. Und Rosa küßte ihn phantastisch auf die Augen, die dann pfiffig lachten, als wie dem Sturmwind des Vaters und seiner Würde mit Drolligkeit nach. Und Mutter, versorgt und geängstigt noch, begann, selber immer lustiger werdend, ihn auszufragen, wenn sie die schon belustigten Schalksblicke sah, mit denen Einhart seine versonnenen, Vergessen bringenden Fahrten draußen in Heide und Wildnis spürsinnig zu erzählen und Buntes und wie aus märchenschönen Dingen Erlesenes hineinzuweben wußte. Dann standen die vier Schwestern mit Staunen und sahen in Einhart etwas, wie ein unglaublich neckisches, wagsames Rätselwesen, das sie liebten, das ihnen unter die armgrauen Ereignisse des herkömmlich-bürgerlichen Geheimratlebens ein ganz neues Fühlen und neue Feste brachte. Sie lachten über den ungekämmten, ungewaschenen Jungen, dessen Augen Diebe schienen, und über die zerrissenen und verwitterten Kleider und die verwetzten, verwahrlosten Stiefeln. Und jede wußte jetzt auch, daß man ohne solche Opfer nichts dergleichen erleben könnte. Eine jede der vier dunkelfarbigen Dirnen hätte es dann am liebsten gleich auch versucht. Alle, auch Mutter, trug trotz der verborgenen Pein des Zerwürfnisses immer ein Glück fort aus diesem das Leben so wegwerfenden Jüngling.

Einhart war bald ein Jüngling, so dürftig und schmächtig er auch mit seinen Jahren noch aussah. An solchem Tage sahen alle heimlich auf den Herrn Geheimrat, wie auf eine langweilige Gesetzestafel, die streng verfügte, was man längst tausendmal kannte. Und wenn er erst wieder heimgekommen, fühlte man es in allem, daß es eine jede der Damen, alt und jung, heimlich entrüstete, wie die harte Würde dem grünen Wucherreis mit dem glutäugigen Sanftblick blind und mißlaunig alles frohe Treiben knicken wollte. Da hatte Herr Selle keine seiner Töchter in seiner Arbeitsstube hocken, wie sonst gewöhnlich. Niemand empfing ihn. Er mußte am Tische stumme Münder unter den sammetnen, gesenkten Blickten sehen. Alles war da nicht, als wenn sie draußen auf der Wiese und im Walde und glückliche Menschen wären, wie es einem Fernen so erschienen. Hier saß der Herr Selle, steif und gehalten, mit strengen Blicken, nun auch sichtlich geärgert. Aber mit bestimmter Verachtung dessen und nur gewappnet, zu gebieten. Und dort saß die ganze, junge Brut, enttäuscht und voll Entsagung. Daß nur Frau Selle dann und wann, als wenn sie sich aus Träumen plötzlich besönne, dem würdigen Herrn etwas an Fleisch oder den Brotkorb, wenn sie seine Augen am Tische suchen sah, hinreichte. Und Einhart saß dann unter ihnen immer mit einem verlorenen, einfältigen Lächeln.


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