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Willatz und seine Mutter sind abgereist. Es hatte das übliche Essen bei Leutnants stattgefunden, und Holmengraas waren zugegen gewesen. Da es sich diesmal um einen Wendepunkt in Willatz' Lebensschicksal handelte, so war die Rede, die der Vater an ihn richtete, sehr viel ernster geworden: es gebe zwei Arten, seinen Namen der Nachwelt zu erhalten, man könne ihn in ein luftdicht verschlossenes Grab legen, dann werde jemand ihn nach zweitausend Jahren wiederfinden, oder man könne ihn über die Menschen hin wie im Sturm ausspielen, dann werde die Geschichte sich ihn merken! Es wurde schnell gegessen, und wenngleich es diesmal keinen Distriktsarzt Muus gab, der Mißstimmung hätte verursachen können, war das Schweigen fast noch unbehaglicher. Allen ging der Abschied nahe. Herr Holmengraa – rücksichtsvoll und teilnehmend wie immer – hatte am Kai Frau Adelheids Hand in der seinen gehalten und hatte beinah flüsternd gesagt: Kommen Sie bald wieder!
Jetzt waren schon mehrere Monate vergangen, und Frau Holmsen war immer noch nicht heimgekehrt; woher mochte das kommen? Der Leutnant bekam Briefe, worin sie um Aufschub bat – gut, eingewilligt, keine Überanstrengung, der Heimkehr halber! Und der Leutnant sagte sich, wenn es böser Wille von mir wäre, könnte es ja auch gleichgültig sein, er begann sich damit abzufinden, er begann eines Tages zu summen; – ja, er summte wieder. Daverdana, die nun abermals sein Stubenmädchen war, brachte die Neuigkeit in die Küche hinunter, und alle miteinander lauschten. Sie hörten nichts, gar nichts, der Leutnant summte so leise, so unhörbar, oh, noch mehr zum Privatgebrauch als das vorige Mal. Und was hatte es groß zu bedeuten, wenn er nun wirklich summte! Es hatte wohl keinen andern Grund, als daß sein Haus jetzt offiziell musikalisch geworden war.
Nach einer Weile kam wieder ein Brief. Seine Frau bat noch einmal um Frist, für den ganzen Herbst noch. Ein demütiger Brief, ein Bitten; jetzt witterte der Leutnant Unrat. So, den ganzen Herbst? Und wenn der vorbei war, vielleicht den ganzen Winter? Dahinter steckte etwas. Ihre Ehe war nicht besser gewesen als viele andere Ehen, irgendein Unglück hatte sie nicht heimgesucht, aber ein ständiges Sichunglücklichfühlen hatte darüber gebrütet. So war es. Ein Unglück – Bagatelle! Ein Unglück hat ein Ende, das geschieht einmal und ist dann vorbei; schlimmer ist es, tagaus tagein, Jahr um Jahr Glück entbehren zu müssen. Ein Engel kann böse werden und beißen – gut! Aber wenn ein Engel niemals beißt, nur murrt, ein Engel, der mit einem ewigen leeren Lächeln grinst? Gut, auch das, man ist Philosoph, man denkt Gott sei Dank ein bißchen mit den Humanisten. Die Mücke ist eine große Plage, sie singt mit Glasschwingen, i-i-i, singt sie; im Anfang ist sie eine Prüfung für den Verstand – nur im Anfang. Glück, was ist das? Man muß die Unwichtigkeit alles Glücks erkennen. Übrigens war die Holmsensche Ehe in der letzten Zeit wahrhaftig zum Aushalten gewesen, sie hatte sich gebessert, war halbwegs gut geworden, Gott sei gelobt. Gegenseitige Achtung war immer dagewesen, jetzt war geradezu Herzlichkeit dazugetreten, sogar ein aufrichtiges Lächeln konnte vorkommen. Der Leutnant hatte angefangen, auf eine Art Genugtuung für sie beide zu hoffen, auf ein neues Leben jetzt gegen das Alter zu. Adelheid hatte ja in den letzten Wochen hier zu Hause ganz offen Zuneigung für ihn bewiesen; es war so, als ob sie nicht mehr das alte, vergnügte Wohlbehagen daran fühlte, ohne ihn zu sein – jetzt im Alter. Und nun reist sie fort und will fort bleiben!
Dem Leutnant dämmert die Möglichkeit auf, daß irgend etwas in ihrem Leben ihr noch unerträglicher geworden sein könnte als ihre Ehe.
Was mochte das sein? Gott allein weiß es, aber sicher nichts Geringes. Da stand in ihrem letzten Brief, daß sie sich gegen ihn vergangen hätte – nun, das waren Redensarten, Schmeicheleien, um sich einen Aufschub für die Heimreise zu erwirken. Gleichwohl, Adelheid wurde von einer Pein verzehrt. Und der Leutnant hörte auf einmal mit dem Summen auf, es gefiel ihm nicht mehr. Jawohl, es war ein kurzes Gesumme gewesen, das unschuldigste, das sich ein Mann in Abwesenheit seiner Frau leisten konnte.
Aber der Leutnant wollte mehr tun, er tat nichts halb. Befand sich Adelheid in irgendeiner Krisis, so ziemte es sich für ihn nicht, teilnahmslos zu bleiben; er wollte ihr bei ihrer Heimkehr eine Freude bereiten, er wollte wahrhaftig die Arbeit mit der Orgel wieder aufnehmen. Jetzt sollte diese Orgel beschafft werden – auf Tod und Leben.
Oh, wäre es nur die Orgel gewesen! Aber wo war die Galerie, die sie tragen sollte? Und wo gab es Raum für eine Galerie? Die Kirche mußte umgebaut werden. Aber durfte der Leutnant ohne weiteres Bauholz hierzu in seinem verpfändeten Walde zusammensuchen? Er war gebunden, er mußte wieder hinaus und in Herrn Holmengraas Augen lesen.
Der Herbst verging, und seine Frau kam immer noch nicht. Nein, jetzt schrieb sie und bat, noch länger bleiben zu dürfen, noch einige Zeit – den Winter über, Willatz würde sonst so allein sein –, ja, und das würde auch sie selbst dann sein. Die beiden richteten sich übrigens äußerst vernünftig ein, sie verbrauchten wenig Geld und trieben Musik.
Das war vielleicht von der Vorsehung so bestimmt, der Leutnant sollte Zeit zu seinen Bauangelegenheiten haben, bevor Adelheid heimkehrte.
Herr Holmengraa fragte oft nach den beiden, nach Mutter und Sohn in Berlin, und das war aus mehreren Gründen merkwürdig: erstens hatte er nicht nach Willatz gefragt, als er in England war, zweitens kam ja doch der kleine Gottfred dann und wann zu Holmengraas, zu Mariane, mit einem Brief von Willatz. Sie leben, und es geht ihnen gut? konnte Herr Holmengraa fragen. Sie leben, und es geht ihnen gut, hatte der Leutnant jedesmal geantwortet. Heute sagte er das gleiche und fügte hinzu: Meine Frau wünscht noch einige Zeit in Berlin zu bleiben.
Er fing an von der Kirche und sagte:
Das kleine Gotteshaus – Ihr Betrieb hat so viele Leute hierhergezogen, daß die Kirche zu klein geworden ist.
Ja, sagte Herr Holmengraa, ja, das ist so –
Aber er war wohl mit etwas anderem beschäftigt, und sein Gesicht war voll tiefer, unleserlicher Schrift. Der Leutnant sprach nicht mehr von der Kirche, der feinfühlige Mann hörte sofort auf, als habe er einen Wink bekommen.
Ja so, die Kirche war also nicht so himmelschreiend zu klein? Und an den großen Kindtaufsonntagen oder wenn sich das Volk sonst treffen wollte? Man könnte sich wohl auch vorstellen, wie es beim nächsten Gottesdienst gehen würde, wenn der neue Diener des Herrn, L. Lassen, kommen sollte, um seinen Dorfgenossen zum ersten Male zu predigen. Ja, ja, das ist so, antwortete Herr Holmengraa nur. Der Leutnant dachte wohl bei sich, hätte er nur seine alte Macht noch besessen, dann wäre er einfach durch seine meilenweiten Wälder geritten und hätte seinen Holzfällern befohlen, Bäume für noch eine halbe Kirche zu fällen. Und weiter dachte er wohl: Gebrauchte ich mein Recht, so würde ich heute noch um Bauholz aus Namsen telegraphieren. Das dachte er wohl, denn seine Miene war in diesem Augenblick zahlungsfähig und stolz. Oh, Macht besaß er immer noch, er hatte das Geld für den Fluß, und wäre das nicht für die beiden, Mutter und Sohn in Berlin, bestimmt gewesen, so hätte es gerne draufgehen können. Diese lächerlichen Kronen, diese Massen von grützenkleinen Münzen, die keine Taler waren.
Die Frage, die Herr Holmengraa schließlich stellte, und die Antwort, die er bekam, war beider Herren vollkommen würdig:
Ich bin nie in Berlin gewesen, aber ist es nicht teuer für Ihre Frau, dort zu wohnen? sagte Holmengraa zum Leutnant.
Es ist nicht teuer für meine Frau, in Berlin zu wohnen, sagte der Leutnant zu Holmengraa.
Darüber war kein Irrtum möglich, in den folgenden Wochen kam ein etwas anderer Ton zwischen dem Herrn auf Segelfoß und dem zugezogenen Herrn Holmengraa auf. Fernerstehende merkten das nicht, aber der Leutnant war nicht im Zweifel darüber, und jetzt entstand in seinem steilen Araberkopf ein Plan, über den er Tag und Nacht brütete: Er ging auf verpfändetem Grund und wohnte in einem verpfändeten Hause – er wollte ausziehen. Es war gut, daß Adelheid und Willatz im Ausland waren, er wollte sie auffordern, dort zu bleiben, wo sie waren, so brauchte er nur sich selbst ein neues Schicksal aufzubauen.
Es steht ungefähr am Schluß von Pastor Windfelds Bericht geschrieben, daß Frau Adelheid nach dem Ausland gereist und fortgeblieben sei – so uneinig seien die Eheleute gewesen. Jawohl, so einig wurden also die Eheleute jedenfalls in dieser Frage. Bleibt vorläufig dort, wo ihr seid! schrieb der Leutnant an seine Frau. Und damit sie sich deswegen nicht von Dankbarkeit gegen ihn bedrückt fühlen möchte, erklärte er ihr alles der Wahrheit gemäß, daß er einen Plan gefaßt habe, während dessen Durchführung er allein sein müsse.
Wohin er ziehen sollte? – Da stand ja die alte Ziegelei, die hatte er nicht verkauft, sie war auch nicht im Flußhandel miteinbegriffen gewesen; die Ziegelei war zwar verpfändet, wie alles andere, jawohl, aber sie konnte ausgelöst werden; es war undicht, zugig in der Ziegelei, aber sie konnte abgedichtet und zu einer menschlichen Behausung eingerichtet werden.
Der Leutnant bekam es eilig mit diesem Plan. Er war niemals während all dieser Niedergangsjahre sorglos gewesen oder hatte den Dingen freien Lauf gelassen, das lag seiner Natur fern. Sein Zustand peinigte ihn, doch er konnte ihm nicht abhelfen. Wodurch sollte er ihm auch abhelfen? Etwas verdienen. Werte schaffen? Er? Dieser Mensch, der nichts konnte als verschwenden und bezahlen, ein Verprasser, ohne Reichtum hinter sich zu haben, ein unfruchtbares Genie, ein Wunder in der Kunst, sich Ausgaben zu machen. Er war seiner Väter Sohn und lebte in seiner Väter Schatten.
Von dem Tage an, da er den wirklichen oder eingebildeten Wink von Herrn Holmengraa bekommen hatte, begann es sich vor ihm aufzutürmen: er vergaß oder übersah mit Willen sein ganzes bewegliches Eigentum, sein volles Haus, seine Einrichtung, die Kunstwerke, die Bibliothek, das Vieh, die Pferde, die Boote, die Gerätschaften, die Maschinen – daran dachte er nicht. Als der Ordnungsmensch, der er war, konnte er sich natürlich nur wenige Schritte vom Zusammenbruch entfernt glauben.
Der alte Leutnant – seht, er war einer höheren Macht preisgegeben! Sollte er sich an seine Schwestern in Schweden wenden? Nein, das konnte ihm niemals einfallen; zwischen ihm und den Schwestern hatte es seit zwanzig Jahren kein festes Band mehr gegeben, und seit dem Tode der Mutter schrieben sie sich nicht einmal mehr. Er hätte vielleicht seine Lebensweise vereinfachen können, seine Dienerschaft vermindern, die jährlichen Rechnungen von den Kaufleuten in Bergen einschränken? Hierauf würde er sich selber antworten, das sei der größte Unsinn, von dem er je gehört habe, und er hätte nicht einmal Lust, darüber nachzudenken. Bei den beiden im Ausland sollte wohl der Verdacht rege werden, daß es hier zu Hause auf Segelfoß knapp zuginge! Daran waren sie nicht gewöhnt, und das verdienten sie nicht. Klein-Willatz sollte doch wohl keinen anderen Eindruck von seinem Vater bekommen, als ihn der Leutnant von seinem Vater bekommen hatte: daß man stets eingreifen konnte und helfen, weggeben oder kaufen, was man wollte, daß man stets Herr sein konnte, ein Willatz Holmsen. Und was die Dienerschaft betraf – gab es jetzt vielleicht mehr Knechte und Mägde in dem Gesindehaus als in den Tagen seines Vaters? Der kleine Gottfred, stand er jemand im Wege? Oder war vielleicht seine Schwester Pauline nicht die einzige, die kleine süße Antworten für den Leutnant hatte und vor ihm wie vor einem Vater knixte, wenn er vorbeiging? Auch konnte er sich jetzt, während der Abwesenheit seiner Frau, nicht von der Hausjungfer trennen. Nichts konnte geändert werden.
Die Hausjungfer? Ein geschicktes und fleißiges Wesen, von ihrer Herrin während vieler Jahre angelernt, führte sie jetzt die Hauswirtschaft wie auswendig. Wann knarrte es, wann knackte es unter ihren Händen? Nein, die mußte bleiben!
Jungfer Salvesen schien selbst nicht der Meinung zu sein, daß sie Not leide; sie hatte ja auch ein leichtes Wirtschaften, der große Hof gab den größten Teil von dem her, was zum Haushalt nötig war, und Wein und Delikatessen und Kolonialwaren kamen jetzt wie früher aus Bergen. Es fehlte an nichts. Und deshalb war Jungfer Salvesen auch immer munter und zufrieden mit ihrem Los und zog oft einen schiefen Mund und lachte und erzählte den Mädchen lustige Geschichten.
War sie nicht das Oberhaupt auf Segelfoß? Aber war das alles? Der Lagermeister machte ihr ja den Hof und wollte sie zur Frau haben. Ja, das wollte er. Und der Lagermeister sang noch dazu so unterhaltende Lieder. Schon im Frühjahr war zwischen ihnen alles so gut wie abgemacht gewesen; aber da begann auch Rechtsanwalt Rasch ihr den Hof zu machen und bewarb sich um sie, und das war etwas ganz anderes. Ja, Herr Rasch wollte es so machen, wie sein Vater und sein Großvater und sein Urgroßvater es vor ihm gemacht hatten: eine Familie gründen und eine Anstellung suchen und sein Leben in Kultur verbringen. Die Zukunft des Lagermeisters würde eine viel ungewissere sein, er war Geschäftsmann und konnte nichts anfangen ohne Geld. Nein, den Lagermeister durfte man nicht mit dem Rechtsanwalt vergleichen, nein, das wäre ja zum Lachen gewesen. Aber es war der Hausjungfer Salvesen nicht unangenehm, daß sie an jeder Hand einen Anbeter hatte.
Sie hatte sich mit Frau Irgens, geborene Geelmuyden, befreundet und ging oft des Abends hinüber in Holmengraas Haus, um mit ihr ein wenig zu plaudern. Als Rechtsanwaltswitwe gab auch Frau Irgens Herrn Rasch den Vorzug – oh, das sollte man doch meinen, ein Mann von Bildung, und der andere konnte ja höchstens einen Laden aufmachen. Weisen Sie Rasch nicht ab!
Wenn er nur nicht wieder abschnappt! sagt Jungfer Salvesen.
Abschnappt – ein studierter Mann? Niemals. So was tut ein solcher Mann nicht. Irgens hat das auch nicht getan.
Wie haben Sie es eigentlich hier im Hause? fragt Jungfer Salvesen.
Hier? Frau Irgens wiegt den Kopf, hier sei das reinste Paradies. Ich habe nie so gute Tage gesehen, einzig dastehend. Irgens hätte nur hier sein sollen.
Wissen Sie, was ich glaube, Frau Irgens? Ich glaube, daß Herr Holmengraa nicht immer der ist, der er zu sein scheint.
Wie? Was ist er nicht?
Hat er Sie jemals um die Taille gefaßt?
Gott bewahre Ihren Mund, Jungfer Salvesen!
Ja, das hat er bei mir getan.
Sie um die Taille gefaßt?
Ja, vor ein paar Abenden.
Aber jetzt ist Frau Irgens gekränkt und sagt: Ich darf wohl annehmen, daß er keine andere so um die Taille gefaßt hat wie mich; aber nur in den letzten Wochen, da hat er sich gleichsam ein wenig verändert. Aber das muß ich zu seiner Ehre sagen, er geht nie zu weit. Ganz bestimmt nicht. Und mit Ihnen, Sie kennen ihn ja nicht, wird es wohl noch weniger auf sich gehabt haben. Was hat er mit Ihnen getan, was sagten Sie? Ich bin entsetzt über Sie.
Die beiden Damen plauderten weiter, und Jungfer Salvesen ist nun auch gekränkt. Ja, denn Frau Irgens läßt sich dahin aus, daß es ja viele Arten gebe, sich umarmen zu lassen, man könne sich einem Mann ja mitten in den Weg stellen, wenn er vorbei müsse, wo soll er da mit seinen Armen bleiben, wie, Jungfer Salvesen?
Nein, kommen Sie mir nur nicht mit so was, aber wie geht es eigentlich bei euch auf dem Hof, muß ich jetzt wirklich fragen? sagt Frau Irgens.
Bei uns? antwortet Jungfer Salvesen und ist sehr verletzt, furchtbar verletzt. Sehen Sie, ihr könnt ja hier meinetwegen spaniolisch und reich sein, so viel ihr wollt, aber gegen uns auf dem Hof drüben könnt ihr ja doch nicht aufkommen, damit können Sie Herrn Holmengraa grüßen. Ich habe hier im Hause noch keine Schüsseln und Schalen und Platten aus purem Silber gesehen, aber bei uns gibt es so was, und ich habe hier auch noch keine echt vergoldeten Henkel an silbernen Kuchenschalen gesehen, aber bei uns gibt es so was. Ja.
Aber liebe Jungfer Salvesen, sie ist ja von ihm weggereist?
Ist sie das? Das ist Ihr Mund, den Gott vor Klatsch und Geschwätz bewahren mag, Frau Irgens, und nicht mein Mund, der das behauptet. Was sagen Sie! Sie hat ihren eigenen Sohn nach Deutschland begleitet, und der soll Komponist studieren. Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich glaube es herzlich gern, daß ihr euch hier sozusagen etwas verändert habt. Aber ich für meinen Teil, ich hoffe als ein anständiger Mensch zu leben und zu sterben, und Konsul Coldevin zum Beispiel hat mich noch nicht um die Taille gefaßt, damit können Sie Herrn Holmengraa grüßen.
Die beiden Damen plauderten weiter. Es hörte sich so schnurrig an, abwechselnd dumm und klug. Wenn diese Menschen unter vier Augen miteinander sprachen und sich vor niemand in acht zu nehmen brauchten, so gingen ihre Zungen mit ihnen durch, und ihre Sprache wurde wieder natürlich, wie sie es von zu Hause gewohnt waren, sie sagten das Unglaublichste.
Endlich hatte Pastor Windfeld dem Naturgesetz der Beamtenversetzung gehorchen müssen und sich um eine Stelle im Süden beworben. Er tat es nur widerwillig, dieser alte, verbrauchte Mann, ja, denn er hatte es im Grunde genommen so gut und gemütlich hier oben, und dazu eine volle Kirche und eine friedfertige Gemeinde. Aber was konnte das alles nützen! Ihr Lieben, irgendwo in Östland verlangten die Menschen ja schon sehnsüchtig danach, zu genießen, was von Pastor Windfelds Seelsorgetalenten noch übrig geblieben war; er konnte nicht länger ausbleiben. Und er bekam einen Ruf nach dem flachen und naturschönen Smaalenen.
Und dann kam der Vikar. Es war zwar nicht gerade der Stiftskaplan – den hatte man leider noch nicht auftreiben können –, aber es war doch eine aufopfernde Seele, die bis auf weiteres der Gemeinde dienen wollte. Man mußte sich behelfen, so gut man konnte, und dankbar sein, daß ein wirklicher Pastor hier im Norden überhaupt arbeiten wollte, wenn auch nur für einige Wochen.
Und was für ein Pastor! Ein herrlicher Mann im schwarzen Gehrock und mit gestärkter Wäsche. Keiner konnte sich darüber täuschen, man sah es seinen Händen an, die vom Blättern in Büchern und Schriften dünngewetzt worden waren, seiner zuverlässigen Gestalt – er konnte ein Lamm auf jeder Schulter in die Herde hineintragen –, den geräumigen Stiefeln für zwei Paar Strümpfe mit den Gummischuhen darüber. Er hatte keinen Bischofsstab – noch nicht, aber er trug langes Haar und eine gelehrte Brille, so gelehrt war er. Es war Lars Manuelsens Sohn, L. Lassen.
Jetzt war er Pastor. Er kam heim, um sich zu zeigen. In den mexikanischen Bergen kann man nicht glänzen, nur daheim kann man das.
Er kam mit einer Haushälterin und einigen Kisten und Möbeln an und hielt sofort seinen Einzug in das Pfarrhaus des Kirchspiels. Die Pfarrgehilfen hatten ihn empfangen und standen ihm von jetzt ab mit größtem Ehrgeiz zur Seite. Denn sein Ruhm war ihm ja schon jahrelang vorausgeeilt – wer hatte nicht von L. Lassen gehört!
Möchte es Euch nur bei uns hier oben gefallen, und möchtet Ihr recht lange bleiben! sagten seine Pfarrgehilfen.
Nein, nein, ich bleibe hier nicht lange, antwortete der Pastor, aber ich hielt es für meine Pflicht, hier oben vorübergehend Dienst zu tun.
O nein, es gefällt Euch wohl bei uns nicht mehr.
Sagt das nicht, meine Freunde, aber es ist hier so abgelegen, ich kann in einem solchen entlegenen Ort nicht leben. Meine wissenschaftlichen Interessen weisen mir einen Platz im Süden an.
Ja, so ist es wohl so. Aber wenn Ihr Euch um unsere Pfarre bewerben wolltet, so würdet Ihr sie sicherlich auf das erste Wort hin bekommen.
Die Pfarre hier im Kirchspiel? Ja, aber ich will mich darum nicht bewerben. Mein Arzt verbietet mir, hier zu bleiben, ich vertrage das Klima nicht, sagt er, es ist zu nördlich.
Und dann predigte er in der Hauptkirche, und die war zu klein; aber er gebot, die Fenster herauszunehmen, damit die da draußen ihn auch hören könnten. Oh, ihr könnt glauben, das war eine Predigt.
Aber noch kleiner war ja die Kirche von Segelfoß, als Herr Lassen dorthin kam – überhaupt kein Platz! Ihr Lieben, alle gingen ja heute zur Kirche, sogar Per im Laden ging zur Kirche, und nun standen sie da und konnten nicht hineinkommen. Nehmt die Fenster heraus, befahl der Pastor wieder, so werde ich mit Gottes Hilfe selbst die Fernsten erreichen! Und ihr könnt glauben, seine Stimme reichte bis zur Brücke hin, seine Stimme reichte bis zu den Häuslerhütten hin. Es war also überflüssig, zur Kirche zu gehen, und darum ging ein junges Paar aus alter Sonntagsgewohnheit hinunter zum Bootshaus hinter der Landzunge, und das Mädchen war sogar Daverdana, des Pastors Schwester, und der Bursche war der Gehilfe des Lagermeisters auf der Brücke.
Aber nach dem Gottesdienst war der Pastor hungrig, und weil weder vom Leutnant auf dem Hof noch von Herrn Holmengraa eine Einladung gekommen war, so ging Herr Lassen in Demut hin zu der Hütte seiner Eltern und bekam dort zu essen. Da saß er nun wieder einmal, der Knabe Lars, der Segen und das Wunder der Gemeinde. Seine kleinen Geschwister waren größer geworden, die Mutter noch mehr ergraut, aber der Vater war noch immer der gleiche rotbärtige Kerl, und Julius war ein Mann geworden.
Nun kommt es darauf an, ob du so ein Essen, wie wir es haben, hinunterkriegen kannst, sagt die Mutter.
O ja, danke, das ist frisches Fleisch, wie ich sehe, und gerade frisches Fleisch hat der Arzt mir verordnet.
Wir haben eine Ziege geschlachtet, sagte die Mutter.
Er war ein feiner Mann geworden und legte das Taschentuch unters Kinn und nahm sich Brot mit der Gabel; Julius sagte leise zu sich selbst: Teufel auch! Ja, das sagte er. Übrigens verschwanden nach und nach alle aus der Stube, damit Lars in Frieden bleiben könnte; die kleinen Geschwister, die nichts Besseres wußten, als in der Ecke herumzustehen, wurden vom Vater hinausgerufen.
Ja, der Vater war heute überwältigt, er war fast stumm vor Feierlichkeit; dazu kam, daß es seine Schuldigkeit war, dem Sohne zu zeigen, wie sehr die Predigt ihn zum Nachdenken gestimmt hatte, ja, auch deshalb war er stumm. Aber Julius, dieser Lump, dieser Sünder, er schlich sich wahrhaftig auf den Boden hinauf, wo er sich im voraus ein Guckloch durch die Decke gemacht hatte, und lag da und beobachtete den Bruder unten in der Stube. Sieh, wie er sich aufführt! Alle Erziehung war auf einmal wie weggeblasen, Lars sitzt da und frißt, was das Zeug halten will, läßt sich keine Zeit, frißt ungeschlacht, blind, schmiert sich voll, sudelt mit Fett um sich herum. Und er beeilte sich mit dem Hineinstopfen so, als gelte es, so viel wie nur irgend möglich hinunterzuschlingen, bevor jemand käme. Julius meinte wohl nach dieser Vorstellung, der Bruder sei nicht so fein, daß er mit ihm nicht hätte reden können.
Nachdem der Pastor gegessen hat, legt er sich auf das Bett seiner Eltern und schläft. Als er ausgeschlafen hat, kommt die Mutter mit Kaffee. Der Pastor fühlt sich neu gestärkt, er gähnt kräftig und dankt der Mutter für den Kaffee. Er nimmt von dem Bord unter dem Deckenbalken die zwei alten bekannten Bücher, die die Hütte besitzt, herunter, eine Postille und einen ›Spiegel des menschlichen Herzens‹, den der Vater einst auf dem Lofot gekauft hatte.
Dann kommen die anderen wieder herein, einzeln, die Kleinen, schließlich auch Daverdana. Der Pastor sieht nichts und hört nichts, er stöbert in den Büchern herum. Ja, der Lars und die Bücher! Und wie er in einem Buch blättern konnte, ohne einen Finger anzulecken, und wie er es in der Hand halten konnte, als sei es ein Schatz. Und die Mutter sah mit einem Blick des Wiedererkennens, daß der Sohn genauso heimatlich dreckige Hände hatte wie früher und auch genauso heimatlich dreckig um den Hals herum war.
Dann reißt er sich los und beginnt mit den andern zu sprechen, er entdeckt Daverdana und fragt nach dem Leutnant.
Ja, danke, es geht ihm gut.
Ich muß wohl ein Wörtchen mit ihm reden, sagt der Pastor, seine Frau ist ihm ja durchgegangen, wie ich höre.
Er fragt nach Willatz.
Ja, er ist bei einem Musiker in die Lehre, antwortet Daverdana.
Nichts als irdische Dinge.
Akkurat, was ich die ganze Zeit gemeint habe, bemerkt der Vater, Lars Manuelsen, dazu. Ich bin ein unwissender Mann in allem, was Bücher und Zeitungen heißt, aber das habe ich doch gelernt, daß Musik und Spiel und Tanz und Würfel alles miteinander Erfindungen des Teufels sind – vergib mir meine Sünde!
Wie lange bleibst du hier im Kirchspiel? fragt Julius.
Das weiß ich nicht, am liebsten so kurz wie möglich, antwortet der Pastor. Mein Bischof hat mir baldige Ablösung versprochen.
Weshalb willst du dich nicht um die Pfarre hier bewerben?
Weil ich vom Studieren überanstrengt bin und weil ich die Luft hier nicht vertrage. Ich muß mich im Süden aufhalten.
Die Luft? Was für eine Schweinerei ist denn hier in unserer Luft?
Du bist so ungebildet, Julius, sagt der Pastor zu seinem Bruder.
Aber Julius war im Grunde nicht so dumm, er sagte ganz einfach: Was, ihr Lieben, fehlt unserer Luft hier? Soll unser Kirchspiel etwa keinen Pfarrer haben?
Alle Nordlandpfarren teilen das gleiche Geschick, nämlich, es gibt keinen Pastor, der nach Nordland will. Nur meinem guten Herzen habt ihr's zu danken, daß ich hierherkam.
Die fromme und die gelehrte Dummheit vereinigen sich jetzt; die Mutter sagt, dem Platzen nahe vor Stolz über ihren großen Sohn:
Jaja, das war nun wirklich schön von dir, daß du bei uns wieder einmal vorsprechen wolltest.
Aber Julius ließ nicht locker.
Na, sollen wir denn hier im Nordland vielleicht keine Pfarrer haben?
Du schwätzst, Julius, brummt der Vater.
Der Pastor räuspert sich und antwortet:
Mein Bischof meint, das Volk hier oben im Norden könnte sich gut mit Pastoren behelfen, die nicht soviel studiert hätten. Und vor seiner Meinung hast du Respekt zu haben, Julius.
Julius hatte nie Respekt vor etwas, ausgenommen, wenn man ihm Angst machte, und hier war ja keine Gefahr. Übrigens hatte sein Respekt vor dem Bruder wahrhaftig einen Riß bekommen, es war ja fürchterlich gewesen, wie Lars ins Ziegenfleisch eingehauen hatte.
Was ist los? – Bist du krank? sagte er so, als habe er eben zum erstenmal davon gehört.
Ja, leider, ich habe zuviel studiert. Meine Brust ist angegriffen!
Aber Julius, der sich der Löwenstimme seines Bruders auf der Kanzel erinnerte, fragte wiederum verwundert:
Die Brust?
Ja, und die Augen. Ich bin kurzsichtig geworden.
Du hast den Lars gefälligst in Frieden zu lassen, Julius, warnte der Vater.
Was fehlt denn deinen Augen? fragte Julius.
Etwas, wofür man konkave Brillengläser nötig hat. Das verstehst du nicht.
Nein, das verstand Julius nicht, und er schwieg.
Der Pastor legte seine Hand auf die Bücher und sagte: Ihr habt hier zu Hause wohl doch nicht viel Verwendung für diese Bücher?
Nein, leider nicht, antwortete der Vater, es wird allzuwenig in Gottes Wort gelesen.
So kann ich sie wohl mitnehmen? fragte der Pastor.
Was willst du damit? fragte Julius.
Der Vater sah aus, als wollte er die Bücher nicht gern hergeben, aber er sagte:
Nimm sie nur mit, wenn du sie haben willst.
Deine Augen werden noch schlimmer werden, meinte Julius.
O nein, mit Gottes Hilfe werden sie wohl nicht schlimmer werden, antwortete der Pastor. Mein Arzt sagt, ich sähe jetzt besser als vor einiger Zeit.
Ich weiß noch ein anderes Buch, sagte Julius. Der Ole Johan hat ein altes Buch, von Jesper Brochmand.
Kannst du mir das verschaffen? fragte der Bruder.
Ja, ich glaube wohl, sagte Julius und ging hinaus.
Dann begann der Pastor von Herrn Holmengraa zu erzählen, daß er eine weltliche Seele sei, die nur an Geschäfte denke. Ist es wahr, daß er jetzt trinkt?
Holmengraa?
Der Pastor nickt:
Das habe ich mir erzählen lassen.
Die Mutter wiegte wieder den Kopf hin und her, oh, mein Gott, was ihr Sohn alles wußte!
Ich muß mit ihm wohl nächstens auch einmal ein Wörtchen reden, sagte der Pastor. Und die Kinder gehen zu Hause herum und werden, seit ich weg bin, mehr und mehr Heiden?
Ja, Felix will nichts lernen. Und jetzt will sein Vater ihn wieder nach Mexiko schicken. Das hatte Daverdana gehört.
Der Bruder wird aufmerksam:
Nach Mexiko? Und Mariane auch?
Nein, nur Felix. Mariane soll später nach Kristiania.
Nach Kristiania? So.
Die Rede kam auf Per im Laden; der Pastor wußte von allen etwas, seine Gehilfen waren ihm so eifrig zur Hand gegangen. Per im Laden wurde dicker und dicker, jeden Tag könne er vor Gericht kommen, wenn er mit seiner verdammten Fingerfertigkeit beim Wägen und Messen nicht Schluß machen würde.
Und dann der Telegraphist, ging der nicht nachts auf die Mädchenjagd? Und dann der Lagermeister, verhielt es sich so, daß aus ihm und Jungfer Salvesen ein Paar werden sollte?
Daverdana saß wie auf Kohlen; jetzt kam gewiß der Gehilfe des Lagermeisters an die Reihe, er, der ihr Liebster im Bootsschuppen war. Oh, nie mehr wollte sie ihn ansehen!
Da kam Julius zurück, er war drüben bei Ole Johan gewesen; er warf ein dickes, ungeheuer dreckiges Buch auf den Tisch. – Weiß Gott – er hatte es doch wohl nicht gestohlen?
Hier ist das Buch, sagte er.
Bekomme ich es? fragte der Pastor.
Du bekommst es.
Und die Mutter wiegte den Kopf: Nein, der Lars und die Bücher, der Lars und die Gelehrsamkeit.
Der Pastor legte die drei Bücher zusammen und streichelte sie.
Was wollte er nun eigentlich damit? Ja, L.+Lassen hatte angefangen, sich eine Bibliothek anzulegen, dazu plünderte er die Häuslerhütten. Hier lagen jetzt drei neue Bände, und vor allem dieser Jesper Brochmand würde so herrlich den Raum auf dem Bücherbrett ausfüllen.
Dann sagte Julius:
Ole Johan läßt fragen, ob du nicht eine Betstunde bei ihm abhalten wolltest, bevor du wegfährst.
Bei Ole Johan? Er hat ja nicht einmal eine Stube, die groß genug ist?
Wir könnten ja auch da die Fenster herausnehmen.
Pause.
Die Mutter bemerkt dazu:
Ich kann wirklich nicht glauben, daß du dich so gemein machen willst, bei dem Ole Johan eine Betstunde abzuhalten. Dann könnten die später herumgehen und sich damit wichtig machen.
Nein, sagt der Pastor. Und übrigens bin ich für heute auch zu müde, mein Hals – hm! Er legte die Hand auf den Mund und räusperte sich vorsichtig, räusperte sich hinsterbend.
Nein, das laß nur sein, sagte auch der Vater, Lars Manuelsen. Ole Johan soll nur nach dem leben, was er heute schon gehört hat!
Aber Julius ist ein Teufel:
Übrigens, wenn du heiser bist, sagt er, so braucht Mutter dir ja nur dein Zäpfchen im Hals mit einem silbernen Löffel hochzuheben. Das hat sie bei mir auch getan.
Du bist so fürchterlich ungebildet, Julius, sagt der Pastor zu seinem Bruder.
Er zog noch einen Mantel über seinen wankenden Körper, zog Gummischuhe an und ging aus. Er wollte sich wohl noch einmal die alten Plätze hier ansehen, bevor er sich nach seinem Pfarrhof zurückbegab. Daverdana und ihre kleinen Geschwister liefen ans Fenster, um ihm nachzusehen.
Und da ging nun L. Lassen draußen auf der bekannten Landstraße und hielt den Kopf etwas geneigt, weil er so schwer war und nicht gerade stehen wollte. Es machte nicht den Eindruck, als wenn er vor hätte, jetzt wegen irgend etwas auszubiegen – so gut und so sicher fühlte er sich wohl, und wenn er Leute traf, so fürchtete er, weiß Gott, nur eines: daß sie nicht grüßen würden. Denn es war doch nicht an ihm, zuerst zu grüßen: war er nicht der Pastor? Hier gingen so viele Menschen; einige waren ihm fremd, es waren wohl Arbeiter aus Holmengraas Betrieb; diese Leute starrte er an, ja bis zum letzten Augenblick, und manchmal trieb er es so weit, daß es zu gar keinem Gruße kam. Das war ja nun auch nicht richtig. Aber lieber dies, als zuerst grüßen.
Wahrhaftig, L. Lassen hatte das Zeug zu einem starken Mann der Kirche in sich, und er würde schon vorwärtskommen. Es war nicht undenkbar, daß er mit der Zeit sogar dazu kommen würde, Leutnant Willatz Holmsen auf die Schultern zu klopfen. Worauf übrigens ganz bestimmt etwas passieren würde.
Der Telegraphist sitzt an seinem Apparat und empfängt. Nun kommt ein Eiltelegramm aus Berlin, es ist nicht lang, aber so wichtig, daß der Telegraphist es selbst hinbringen will, er schlägt drei Punkte und einen Strich, erhebt sich und nimmt einen Schluck aus einer Flasche, die er auf einem Bord hinter einem Vorhang stehen hat, schließt ganz ungesetzlicherweise sein Kontor und geht. Er schlägt den Weg nach dem Hof ein. Er ist ein großer, schwerer Kerl mit schwimmenden Schultern.
Da er noch nie dort gewesen war, geht er zum Kücheneingang hinein, um jemand von der Dienerschaft zu treffen, er fragt ein Mädchen nach dem Leutnant, das Mädchen kommt mit der Hausjungfer heraus, und erst auf nachdrückliches Ersuchen des Telegraphisten wird der Leutnant geholt.
Dieser schien äußerst erstaunt zu sein und fragte, ob nicht jemand von seinen Leuten das Telegramm in Empfang nehmen könne.
Ja, das schon. Aber darum handelt es sich nicht. Ich wollte den Herrn Leutnant nur vorbereiten, es ist ein sehr wichtiges Telegramm.
Der Leutnant will es sofort aufreißen und lesen, aber der Telegraphist hält ihn zurück und sagt:
Warten Sie, bitte, ein wenig, lesen Sie es langsam. Es ist kein erfreuliches Telegramm.
Unter gewöhnlichen Umständen würde der Leutnant den Mann schön abgefertigt haben, jetzt blieb er verblüfft stehen und sah ihn groß an. Er kannte ihn nur vom Telegraphenamt her, es war ein diensteifriger und liebenswürdiger Mensch, er hieß Baardsen. Daß er jetzt hierher kam und ganz einfach lächerlich auftrat, verwirrte den Leutnant – was vielleicht auch die Absicht des Telegraphisten war. Als der Leutnant dann endlich das Telegramm geöffnet und gelesen hatte, machte es anfangs nur einen schwachen Eindruck auf ihn.
Mutter zu Schaden gekommen, stand da. Uff! sagte der Leutnant und lehnte sich gegen den Türpfosten. Zu Schaden gekommen beim Baden, stand da. Merkwürdig – konnte man beim Baden ernstlich zu Schaden kommen? Da stand noch mehr, aber das bedeutete weiter nichts.
Ich muß antworten. Warten Sie einen Augenblick, ich gehe mit Ihnen, sagte der Leutnant.
Er nahm seine Mütze in der Diele, und die beiden Herren gingen nach dem Telegraphenamt hinunter.
Beim Baden? sagte der Leutnant zu seinem Begleiter – er verstand das nicht.
Die gnädige Frau hat sich wohl gestoßen. Aber es klingt seltsam, antwortete der andere. Der Telegraphist sah übrigens aus, als ob er das Ganze ahnte, und er sagte etwas Dahinzielendes – vielleicht um noch etwas weiter vorzubereiten: Da muß etwas dahinterstecken.
Sie betraten die Amtsstube, und der Leutnant setzte sich hin, um eine Antwort mit vielen Fragen an Willatz abzufassen. Während er damit beschäftigt ist, sitzt der Telegraphist am Tisch und empfängt wieder.
Warten Sie ein wenig, sagt er, sich zurückwendend, hier kommt ein neues Telegramm. Und schon während er schrieb, bereitete er den Leutnant weiter vor: Jetzt wird es verständlicher – leider das ist eine Botschaft –
Frau Adelheid war beim Baden umgekommen.
Ein paar Tage darauf reist der Leutnant mit dem Postdampfer nach Süden, seinem Sohn entgegen, der bereits mit der Leiche seiner Mutter nach Norwegen unterwegs war. So bekam der Leutnant doch noch Verwendung für den neuen Mantel, den er sich einst für seine Reise nach England angeschafft hatte.
Aber er trug ihn jetzt nicht so araberflott.