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Die ganze Nachbarschaft war einstmals ein Eigentum, und das, was jetzt den Hof Segelfoß ausmacht, war der Hauptsitz. Damals war Segelfoß nach nordländischen Verhältnissen ein ganzes Gut mit fünfzig Kühen, außerdem hatte es ein Sägewerk, eine Wassermühle, eine Ziegelei und viele Quadratmeilen Wald. Damals herrschte ein großes Leben von Dienstvolk und Häuslern und Müßiggängern auf dem Hofe, damals gab es auch Tiere im Überfluß, außer der großen Viehherde Pferde und Hunde, Katzen und Schweine, und längs der ganzen Rückseite der Scheune befand sich eine Stadt für Hühner und Gänse.
Ja, dazumal soll es hier flott zugegangen sein! sagen die alten Leute noch jetzt und erinnern sich dessen, was ihre Eltern aus ihrer Kindheit erzählten.
Der Besitzer war Herr Willatz Holmsen, ein dicker und geiziger Herr, der einmal Diener gewesen war. Er kaufte für billiges Geld einen Hof nach dem anderen in der Nachbarschaft auf und bekam am Schluß so das Gut zusammen. Er hatte schließlich auch einen großen Handels- und Schiffahrtsbetrieb, er legte die Ziegelei an, die Wassermühle und das Sägewerk – lauter nützliche Unternehmungen. Selbiger Herr Willatz Holmsen war ein Norweger, wie wir Norweger sind, aber er trug eine Uniform und sprach Dänisch. Während des Frühlings- und des Herbstthings saß er mit goldenen Schnüren und einem Säbel geschmückt da, er konnte lesen und schreiben, er war Richter, er richtete nach norwegischem Recht. Seine Frau war von überall her, aus Holland oder aus Holstein, vielleicht aus Schonen, vielleicht aus einem Märchen. Auch sie hatte wohl einmal bei einer Herrschaft gedient und viel Feines gelernt; es wurde ein breiter Weg nach Segelfoß angelegt, damit sie in einer Karosse zur Kirche fahren konnte. Ja, das waren reiche Leute, und sie wurden noch immer reicher. Daran war kein Zweifel, daß Herr Willatz Holmsen Geld vergraben hatte; denn, ihr Lieben, noch lange Zeit nach seinem Tode ging sein Geist um und spukte unten bei der Ziegelei.
Aber es ist erst der Sohn, Willatz Holmsen Nummer zwei, an den die alten Leute denken, wenn sie auf die Geschichten von dem Gute zu sprechen kommen. Er war ein wirklich großer Herr. Die Fischerei und den Schiffahrtsbetrieb gab er auf wie etwas, auf das er sich nicht verstand oder das er nicht treiben wollte, aber er baute ein neues Herrenhaus auf seinem Hof, mit Säulen, und setzte einen Turm darauf; er legte ein Treibhaus an, einen Teich im Park für Schwäne und einen Tummelplatz für alle seine Leute. Jetzt ist der Schwanenteich wieder zugeworfen, und der Tummelplatz ist zu einer grünen Futterwiese umgepflügt. Dieser Willatz Holmsen war es, der Segelfoß zu jener über alle Maßen prachtvollen Stätte erhoben hatte; einen Raum machte er zum Bildersaal, und einen anderen Raum füllte er mit Büchern vom Boden bis zur Decke. Blumen und schwere Silbersachen standen auf seinem Speisetisch und Figuren von Marmor und Bronze in seinen Stuben. Wenn seine Frau, die gnädige Frau des Hauses, vorüberging, war es Sitte und Gesetz, daß das Dienstvolk still stand, bis sie vorübergegangen war. Sie hatte ihr eigenes Gut in Schweden, sie sprach Französisch und hatte eine Kammerzofe. War man vornehm, so war man gründlich vornehm in jenen Tagen, der Herr und die Frau hatten jedes seinen Diener, jedes seinen Kutscher und jedes seine Stuben auf Segelfoß. Sie konnten sich am Morgen nicht selbst ankleiden und hatten es auch durchaus nicht nötig: Zieh mir die Weste an! sagte Herr Willatz Holmsen zu seinem Diener. Frisier mich! sagte die Frau zu ihrer Zofe.
Das waren vornehme Leute. Ein etwas abenteuerliches Paar, mit dem Nimbus jener Zeit.
In den ersten Jahren waren sie viel abwesend von Segelfoß. Im Herbst packten sie zehn Koffer und reisten mit ihren Kindern ins Ausland, im Frühling kamen sie zurück mit den Kindern und mit vielen neuen Koffern und neuen Sachen und füllten nach und nach ihr Haus mit aller jener Pracht. In den späteren Jahren wohnten sie mehr auf dem Gute, der Herr gab durchaus nicht zu, daß dies des Sparens wegen geschähe, der Herr äußerte vielmehr, er und seine Gemahlin kennten jetzt die ganze Welt und fänden keinen Gefallen mehr am Reisen. Es wurde eine Erzieherin und auch ein Lehrer für die drei Kinder gehalten – zwei Mädchen und einen Knaben, die in allem Möglichen unterrichtet wurden; im übrigen gab es die gleiche große Dienerschaft auf dem Hofe.
Seltsam genug war es, daß der Herr jetzt einige gute Gehöfte mit Wald verkaufte, die zum Gute gehört hatten. Der Herr gab ganz und gar nicht zu, daß er diese Gelder nötig habe, diese Kupferschillinge – er gestand nur, daß ihm nach und nach, da er in die Jahre komme, das Gut zu groß werde, um es allein zu bewirtschaften. Und wenn er das sagte, dann war es so – der Herr log nicht und hatte es auch nicht nötig. Böse Zungen tuschelten davon, daß er in den späteren Jahren nach dem vergrabenen Schatz seines Vaters gesucht habe. Oh, die mißverstanden Herrn Willatz Holmsen nur, diesen wirklich großen Herrn. Er kam im Gebirge ums Leben, der gute Herr; das war so traurig, weit weg von allen den Seinen, auf ein Lager von Heidekraut hingestreckt, nur von den acht Männern umstanden, die mit ihm gegangen waren, um Untersuchungen wegen eines neuen großen Mühlenteiches anzustellen. Die acht Männer brachten ihn auf einer Bahre heim, und seine Frau war sehr erschüttert, sie rief ihrer Kammerzofe etwas auf Französisch zu und fiel um; und dann kam die Kammerzofe mit einem Riechfläschchen gelaufen. Die alte gnädige Frau des Hauses war nun ganz allein, die Töchter waren verheiratet und wohnten in großen Städten in Schweden, und der Sohn, der dritte Willatz Holmsen, hatte einige Jahre auf der Kadettenschule zugebracht – jetzt zum Frühling sollte er fertig werden und auf Besuch nach Hause kommen.
Der Winter ging, der Frühling begann, und der dritte Willatz Holmsen kam heim. Ältere Leute entsinnen sich dieses Mannes gut, obgleich es nun viele Jahre her ist, daß er starb. Seine Schwestern erbten das Gut in Schweden, er selbst bekam Segelfoß, so wie es stand, als Eigentum. Er machte keinen besonders großartigen Eindruck auf die Nachbarschaft. Er war stolz und wortkarg, und obgleich er sich verheiratet hatte und ein ebenso großes Haus wie seine Eltern machte, ja, obgleich er einige bedeutende Taten in seinem Leben vollführte, ist dennoch von ihm kein besonderer äußerer Glanz ausgegangen. Was sollte ein Mann mit einer so gelähmten Macht auch anfangen? Seine Laufbahn war abgebrochen, sein Vater hatte ihm eine durable Bankschuld hinterlassen, seine Mutter zog zu ihren Töchtern nach Schweden; und die wurden alle miteinander schwedisch und kamen nie wieder heim. So war er allein. Das Ansehen, das er nun noch aufbringen wollte, mußte er sich selbst verschaffen, und es wurde auch sehr groß. Er war bei dem Volke durchaus nicht eigentlich beliebt, aber er erzwang sich einen ungeheuren Respekt; man nannte ihn nur den Leutnant, weil er eben nicht mehr war; doch man grüßte ihn wie einen General.
Von diesem Manne und einigen anderen Menschen handelt dieses Buch.
Willatz Holmsen der Dritte – vielleicht war er kein wirklich großer Herr, vielleicht war er größer als irgendein anderer Herr auf Segelfoß. Ein Leutnant, der so lächerlich außer Dienst stand, ein Großgrundbesitzer, mit dem es genial abwärts ging, jawohl, dazu kam, daß er in jüngeren Jahren über die Maßen hitzig und eigensinnig war, jawohl. Aber eben derselbe Leutnant hatte auch einige wertvolle Eigenschaften; es leben kleine Sagen von ihm in seiner Gegend, seine Bedeutung hielt die ganze Zeit Schritt mit seiner Sonderbarkeit, ja mehr als das. Wie hat Pfarrer C. P. Windfeld ihn geschildert? Als einen närrischen und verrückten Herrn, und hier macht seine Schilderung halt. Das war die Auffassung eines kleinen Beamten von einer eigentümlichen Persönlichkeit. Der Leutnant war ein belesener und kenntnisreicher Mann, und wenn er es mit den Jahren auch dahin brachte, seine Hitzigkeit wie ein Philosoph zu beherrschen, so hatte dies nicht in seinem Alter, noch in der Dummheit des Alters, sondern einzig und allein in der Gereiftheit des Mannes seinen Ursprung. Hat er eine Verteidigung nötig? Vielleicht, weil er auf die Knie kam? Das geschah nach einem Gesetz. Er war das dritte Glied in Reichtum und Luxus – mit ihm war die Kette geschlossen. Im übrigen kam er nicht auf die Knie. Ein Mann von seiner Starrheit bleibt stehen.
Seine Frau stammte aus Hannover und hatte ihre Kinderjahre in Dänemark zugebracht, wo ihre Mutter Verwandte besaß. Sie war die Tochter eines Obersten und von recht apartem Aussehen, ihr Gesicht war eigentlich wenig hübsch, aber ihr Körper war geschmeidig und schön, und sie fand selbst ein großes Wohlgefallen daran, auch an ihren Händen, an ihrer Stimme und zum Teil auch an ihrem Lächeln. Da sie seit ihrer Kindheit Dänisch konnte, bereitete ihr die Sprache des Landes keine Schwierigkeiten; nur selten einmal blieb ihr etwas unverständlich, und sie vermochte alles zu sagen, was sie wollte. Im ganzen genommen hatte sie ein feines Ohr und beherrschte viele Sprachen. Sie ritt gerne und ritt kühn, die gute gnädige Frau, und da das Gerücht ging, sie sei von adeliger Geburt, so war man ehrerbietig gegen sie in dieser fabelfreudigen Gegend, und es gefiel ihr hier gut. Sie hatte nichts dagegen, daß die Bäuerinnen in ihrer Nähe verstummten und ihre Wünsche und Bitten durch die Wirtschafterin, Jungfer Salvesen, vortragen ließen.
Man verstand hier nicht, weshalb sie sich mit dem Leutnant verheiratet hatte? Ob wohl ein Fehltritt dahinter lag? Unmöglich! Da wäre der Leutnant, dieser penible und genaue kleine Willatz Holmsen, sicher seiner Wege gegangen. Nein, es war eine bessere Erklärung bei der Hand: die Gnädige war mit einem braunen Reitpferd von zu Hause gekommen, damit und mit nichts anderem, ohne Kasten und Kisten, ohne Schiffsladung von Reichtümern – sie war vielleicht arm, sie kam mit leeren Händen; nahm sie deshalb den Leutnant?
Es hätte übrigens durchaus nicht geschadet, wenn sie etwas Reichtum nach Segelfoß mitgebracht hätte. Denn jetzt begann der Verfall. Der Leutnant mochte noch so genau sein – es ging langsam abwärts mit ihm und dem Gut; er bewirtschaftete den Hof und betrieb die Ziegelei wie früher, ja viel besser als früher, aber die Zeiten änderten sich, es lohnte sich nicht mehr. Die Mühle ließ er ganz still stehen; der Stauweiher, den sein seliger Vater wieder hatte instand bringen und erweitern wollen, war nun endlich ausgelaufen, und der Leutnant ließ ihn nicht wieder herrichten. Das Mehl, das er selbst brauchte, bezog er aus Bergen. Er galt in der Gegend für einen seltsamen Menschen, weil er den Mühlenteich nicht wieder herrichten ließ. Sein seliger Vater würde sich dies nicht einen Augenblick lang überlegt haben.
Er besaß übrigens manche gute Familieneigenschaft von seinen Vorvätern, diesen großen Leuten, die reich gewesen waren und väterlich gegen ihre Diener und Häusler – auch dieser dritte Willatz Holmsen wollte selbst gut leben und war weit davon entfernt, ungefällig gegen andere zu sein. Als der Wald im Preise emporschnellte und er begonnen hatte, davon zu verkaufen, fand er sogar eine Art Geschmack daran, wohltätig zu sein. Ich habe alle unsere Häusler und Fischer im Walde in Arbeit gesetzt, sagte er zu seiner Frau. Ich gebe ihnen großen Lohn.
So half er und war reich und väterlich, auch er. Es war Winter, das Volk verdiente nichts, bevor der Lofotfischfang begann – also kam den Leuten die Arbeit im Walde sehr gelegen.
Die Knechte sagen, Ihr Vater habe etwas von Segelfoß verkauft? fragt seine Frau.
Der Leutnant fragt zurück:
Jawohl?
Sie sagen, daß er fünf Höfe von Segelfoß verkauft habe? Und es sei viel Wald dabei gewesen?
Daran tat mein Vater recht, antwortete der Leutnant, er rundete das Gut ab – es wurde ihm zu groß für seine älteren Tage. Wir haben noch genug behalten.
Darüber wurden die Eheleute niemals einig, viele Jahre lang behielt jedes seine eigene Meinung. Die Frau hatte sogar an ihren Vater, den Oberst in Hannover, geschrieben und ihn in die Sache eingeweiht, und der Oberst hatte geantwortet, daß es, wenn man die jetzigen Preise für Bauholz betrachte, ein Mißgriff gewesen sei, Wald vom Gute zu veräußern.
Es war kein Mißgriff! antwortete der Leutnant. Und seine kleine Hand, die an den Uniformknöpfen zerrte, wurde weiß an den Knöcheln. So rechthaberisch war er, und so eigensinnig war er. Oh, aber die Frau, Frau Adelheid, war ganz und gar nicht dumm, und gesegnet sei sie dafür! Obschon sie heftig und streitlustig war – ja, auch sie –, so war sie doch eine deutsche Haustochter mit praktischen Ansichten. Das bewies sie viele Male in ihren Beratungen mit der Jungfer. Auch der Leutnant war ein fleißiger Reiter, und es verging kein Tag, ohne daß er im Sattel saß. Aber während seine Frau durch die Landschaft jagte, mit der Reitkleidschleppe über den Steigbügel hinunter und meist den Halblappen Petter als Reitknecht hinter sich, ritt der Leutnant fast immer im Schritt und ohne Begleitung; er machte wenig Staat mit sich. Er saß in seiner Uniform ohne Epauletten oder Säbel auf dem Gaul und war recht kärglich anzuschauen: mit geneigtem Kopf, versunken in Gedanken oder versunken in Ruhe. Daß sein Mund so fest geschlossen war, konnte man auch als Trotz auslegen.
Eines schönen Sommertages setzte sich seine Frau hin, um die Ruinen des ausgetrockneten Mühlenteiches zu malen. Der Leutnant kam gerade mit vielen Knechten daher und hatte einen seltsam zusammengekniffenen Mund, aber das kam von der Verlegenheit. Er grüßte seine Frau und fragte, wie lange sie brauchen würde, um das Bild fertig zu malen?
Als ob ich das wissen könnte, bevor ich angefangen habe! antwortete sie verletzt. Was sollen alle diese Menschen hier? fragte sie.
Den Teich wieder herrichten.
So. Da haben – hm. Die Menschen haben sicher eine Ahnung gehabt, daß ich gerade heute hierher gegangen war, um den Teich zu malen!
Das Gesicht des Leutnants verzog sich ein wenig, und er antwortete, daß er wirklich keine Ahnung davon gehabt hätte.
Seine Frau hatte in ihrer Hast bereits die Malsachen zusammengepackt. Plötzlich blieb sie stehen, sie wurde mild, ein reuiges Lächeln spielte über ihr Gesicht. Ihr war eingefallen, daß ihr Mann gestern Geld für das erste Holz und also erst jetzt und nicht früher die Mittel für diese Arbeiten bekommen hatte.
Willatz! sagte sie freundlich. Und sie begann anzudeuten, daß sie nicht so dumm sei und nicht so unvernünftig – er müsse ja daran gehen, den Teich instand zu setzen, wo er Geld habe. Der Leutnant wurde rot vor Erbitterung.
Geld? sagte er. Sie sind zu scharfsinnig, Sie halten sich selbst zum besten. Geld? Kurz und gut – ich wußte, daß Sie hierher gegangen waren.
Die Frau ließ den Kopf sinken:
So war Ihr Leugnen vorhin unrichtig?
Ja, ich – ja – lieber das!
Oh, da war wohl nicht alles so, wie es zwischen Eheleuten sein sollte; doch von irgendeiner großen Uneinigkeit hörte man nichts, und den Auftritt an dem Mühlenteich hatten die Umstände verschuldet.
Der Leutnant lebte viele Wochen im Kampfe mit sich selbst. Er wollte versuchen, seine Frau mit irgend etwas zu erfreuen, mit etwas Großzügigem. Er ging zu ihr, sah aus dem Fenster und sagte gleichgültig: Das Dach auf der Kirche fällt ein, sehe ich.
Ja, darüber kann man sich nicht freuen, antwortete sie. Oh, sie war in dem letzten Vierteljahr so unselig mürrisch geworden – sie verstand es selbst nicht.
Der Westwind hat es heute nacht beschädigt. Sie könnten es von einigen unserer Leute wieder instand setzen lassen.
Könnte ich?
Sie und ich, wie Sie wollen. Das soll heißen: Sie. Kurz, die Leute und das Geld – darüber verfügen Sie.
Er wollte wohl mit einem Schlag ihren schmählichen Verdacht gegenüber seinen Geldangelegenheiten beseitigen und seine Macht beweisen; was konnte er sonst wollen?
Das würde eine gute Tat von Ihnen sein, sagte sie.
Von mir? protestierte er augenblicklich. Ich sage Ihnen –
Nun, also von mir! wehrte sie ab.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte seine Frau so manches liebe Mal in der kleinen, altersschwachen Kirche Angst für ihr Leben gehabt. Der Leutnant ging ja niemals hin, das konnte ihm nicht einfallen. Er las ein bißchen in den Humanisten, in den Enzyklopädisten aus der Bibliothek seines Vaters – das war sein Gottesdienst. Solange seine Mutter hier auf Segelfoß gewohnt hatte, waren die alte und die junge Frau jeden Sonntag, an dem Gottesdienst abgehalten wurde, zusammen nach der Kirche gefahren; aber seitdem die alte Frau zu ihren Töchtern gezogen war und nie wieder nach Segelfoß kam, fuhr die junge Frau den Kirchweg allein. Oh, bei Weststurm war der Aufenthalt in der Kirche wohl eine gefährliche Sache. Sie sang, wenn sie da saß – ja, sie sang mit ihrer großen, süßen Stimme, so daß die anderen stille schwiegen. Das tat sie teils, um sich Mut zu machen gegen die Gefahr, daß die ganze Kirche einstürzen könnte, teils, weil der Gottesdienst überhaupt ihr einziges Theater geworden war, jetzt, wo sie so weit fort von aller Welt lebte. Es war ein Theater, wenn das Kirchenvolk still stand und sie kommen sah, sah, wie ihr Kutscher das Haupt entblößte, sah, wie er ihr aus dem Wagen half, sah, wie sie durch die Tür hineinschritt und durch die Kirche ganz bis hinauf zu der Bank des Gutes Segelfoß.
Das geschah an jedem Theatersonntag.
Sie war ihrem Manne dankbar für die mitleidvolle Fürsorge, die er dem elenden Gotteshause schenkte; vielleicht, daß sie auch in eine mitteilsame Stimmung kam – sie begann ihm etwas zu erzählen, eine Möglichkeit anzudeuten – ja, es war übrigens ganz sicher, jetzt konnte sie es erzählen –
Er dreht sich hastig nach ihr um und schaut sie an, er schaut nur, es arbeitet in seinen Augen, in seinem Körper, es ist ein Staunen. Hat er falsch gehört? Eine Unglaublichkeit! Was – nach so vielen Jahren des Zusammenlebens – hörte er recht?
Frau Adelheid nickt und antwortet: Ja, es ist die Wahrheit. Und deshalb sei sie damals am Mühlenteich so gereizt gewesen –. Gereizt, Sie? Was sagen Sie –?
Mein Gott, nein, ich meine –. Aber was denken Sie jetzt darüber, daß es nun so ist? Ich habe es vorher nicht bestimmt sagen können, aber jetzt kann ich es sagen.
Gott segne Sie – das heißt – hm, mein größtes Erlebnis. Adelheid, es freut mich übrigens keineswegs, daß das Kirchendach herunterfällt.
Nein, ich bitte Sie um Entschuldigung –
Hören Sie auf! Sie wollen noch immer, in einem Augenblick wie diesem, einer Situation – kurz und gut –
Er hätte in den Boden sinken mögen, die Verwirrung zwang ihn nach der Tür hin, er öffnete sie und ging hinaus. Er blieb eine lange Weile fort, seine Frau hörte ihn in die Bibliothek hinaufgehen und dort auf und ab wandern. Dann kam er zurück:
Entschuldigen Sie, daß ich die Kirche nicht vergessen kann. Es ist nur die Frage, ob nicht die ganze Kirche – ich meine bei dem nächsten Sturm – es ist lebensgefährlich. Und außerdem ist es eine Schande für uns, für das ganze Gut. Wenn Sie dies mir überlassen möchten – ich verstehe mich etwas aufs Zeichnen, ich könnte eine neue Kirche zeichnen, und Sie könnten Sie bauen. Sie haben Bauholz genug, Sie haben viele Bauarbeiter, Severin, Bertel in Sagvika, Ole Johan. Denken Sie an meine Worte, bei dem nächsten Weststurm – es ist außerdem nicht würdig, wir sind nicht länger zwei, wir werden bald mehr sein. Was meinen Sie also? Ich würde selbstverständlich Rücksicht auf die Akustik nehmen, für Ihren Gesang, eine freie Bahn für Ihre Stimme durch die ganze Kirche von Ihrem Stuhle aus. Wenn Sie mir erlauben würden, mir aus dem Süden einen Fachmann zu verschreiben, unter dessen Aufsicht die Arbeiten ausgeführt werden könnten –
Ja, danke, Willatz – wenn es Ihnen möglich ist.
Möglich? Kostet mich ein Wort. Erlauben Sie mir übrigens, daß ich Ihnen dafür danke – für alles!
Mißgeschick machte diesen Mann frostig, aber dies war kein Mißgeschick, es war etwas Neues, ein Glück, ein Segen. Er verband mit diesem Geschehnis eine wunderliche Vorstellung von Vermögen, ja, von einer richtigen Einnahme – wie hing das nur zusammen? Und seine Schwestern, die er nicht gesehen hatte, seit sie so schwedisch geworden waren – und seine Mutter, die nicht in engen Verhältnissen leben konnte, sondern fortgereist war – was würde sie jetzt sagen! Sie hatte wahrhaftig wie eine Ratte ein Schiff verlassen, das nicht sank.
Der Leutnant nahm seinen Ring und steckte ihn wieder an die rechte Hand, wohin er gehörte; er hatte ihn eine Zeitlang an der Linken getragen. Daß er den Ring von einer Hand auf die andere setzte, sollte bedeuten, daß er viel dachte und sich an das eine oder andere von Wichtigkeit erinnern wollte. Es geschah jedesmal so still und unbemerkt – niemand wußte, weshalb er es tat, aber er selbst wußte es vielleicht.