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Drittes Kapitel.

Sie waren sich jetzt weniger ähnlich als je zuvor – der ältere mit seinem dichtgewachsenen schwarzen Bart, seinen stark ausgeprägten Zügen und mit den senkrechten Linien auf seiner niedrigen, von aufrecht stehenden, buschigen, eisgrauen Haaren überschatteten Stirne; der jüngere mit seinen strahlenden braunen Augen und zarten Zügen, seiner vollen runden Stirne und seinem dünnen, seidigen, vom Scheitel zurückgebürsteten blonden Haar.

Christian Christiansson erbebte bis ins Mark bei dieser ersten Begegnung mit seinem Bruder, den er geschädigt und zugrunde gerichtet hatte; er versuchte aber, sich tapfer zu halten und sich zu vergewissern, ob er seine Persönlichkeit, wenn die Zeit gekommen sei, ungefährdet entdecken könne.

»Es ist sehr gütig von Ihnen mir Ihr Zimmer zu überlassen,« begann er.

»Das ist gar nichts – durchaus nichts,« sagte Magnus.

»Und eigentlich sollte ich Sie mit dem Zweck meines heutigen Hierseins bekanntmachen.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr, wie es Ihnen beliebt.«

»Um Ihnen denn die Wahrheit zu gestehen, ich bin hier, um morgen früh der Versteigerung beizuwohnen. Ich hörte erst gestern in Reykjavik, wo ich den Tag vorher mit der »Laura« ankam, davon.«

»So, also das ist das Geschäft, das Sie herbrachte, Herr?«

»Das ist es. Ich bin fünfzehn Jahre im Auslande gewesen und habe mir etwas Geld erworben und bin nun in die Heimat zurückgekehrt, um es anzulegen. Da ich weiß, daß dies ein gutes Besitztum ist –«

»Kein besseres in Island, Herr, wenn ihm nur die richtige Behandlung zuteil würde und wenn Sie die Mittel dazu hätten, es mit allem Zubehör zu erstehen –«

»Das, glaube ich, kann ich – ich habe diesen Augenblick Geld genug in der Tasche, um das Gut morgen zu kaufen und doch noch etwas für andere Dinge übrig zu behalten. Es tut mir leid um Sie, und wenn es Ihnen Schmerz verursacht, mich davon sprechen zu hören –«

Magnus, der wie ein seelisch und körperlich gequälter Mensch unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war, begann übermäßig zu lachen. »Durchaus nicht, Herr, durchaus nicht,« sagte er sein Glas füllend. »Es tut einem wohl, 'mal von jemand zu hören, der mehr Geld hat, als er gebraucht. Ich meinesteils habe nie genug gehabt, um meine Schulden zu bezahlen, Herr. Sechzehn Jahre lang habe ich die Wellen bepflügt und jetzt,« sein Glas erhebend und es bis auf den letzten Tropfen leerend, »jetzt ernte ich die Brandung!«

Christian Christianssons innerstes Herz erbebte bei Magnus' Gelächter – dem bitteren Lachen der Verzweiflung und Empörung – er versuchte aber seine Furcht zu bemänteln und einen fröhlichen Ton anzuschlagen.

»Seien Sie nicht verzagt,« sagte er. »Kein Mensch kann wissen, was die Zukunft für ihn im Schoße birgt. Es ist draußen eine recht dunkle Nacht, aber trotzdem wird die Sonne morgen früh aufgehen. Außerdem hat jedes Mißgeschick auch wieder seine sonnige Seite, wenn wir sie nur sehen wollen. Das Leben ist schön, mein Freund, was immer es mit sich bringt.«

»Sie also finden das, mein Herr?«

»Ich weiß, daß es das ist, also warum sollten wir uns auf unsere Handvoll Dornen setzen?«

»Weil manche nichts anderes haben, um darauf zu sitzen,« sagte Magnus und lachte wieder – dasselbe kalte, erschütternde Lachen.

Christian Christiansson schauderte, doch kämpfte er weiter. »Sie halten Ihr Leben für einen Fehlschlag, ich aber kenne manche, deren Leben mit Erfolg gekrönt ist, und die nur zu gern jede Minute mit Ihnen tauschen würden. Gold oder Ruhm oder beides mag lawinenartig auf sie niederstürzen, sie aber wissen nicht, was damit zu tun und haben niemand, mit dem es zu teilen – und so ist es nur eine Bürde toter Seeäpfel, die sie auf ihrem Rücken mit sich herumzuschleppen haben. Das ist mit Ihnen nicht der Fall. Selbst wenn Sie Ihre Pachtung verlieren, haben Sie Ihre Gesundheit, einen guten Namen, ein reines Gewissen und Ihre Lieben, die Ihnen verbleiben, nicht wahr?«

»Das ist es ja gerade,« sagte Magnus, »Sie glauben doch nicht, daß ich an mich selbst dabei denke? Gerade weil meine Lieben mir verblieben sind, ist dieses verfluchte Mißgeschick so schwer zu ertragen. Was nützt es mir, wenn meine Häuser voll Lämmer sind und die Überschwemmung kommt und schwemmt sie alle in den See? Sie sprechen wie ein Mensch, den das Unglück nie heimgesucht hat, Herr!«

Das Zimmer begann sich um Christian Christiansson zu drehen. »Vielleicht hat es nicht – vielleicht hat es,« sagte er mit schwacher Stimme, »aber Verzweiflung hat mich heimgesucht, und ich weiß, daß niemand von ihr leben kann. Nur von Hoffnung läßt es sich leben – nicht was ist, sondern was sein wird – und sobald wir, wenn die Wolken sich verdunkeln, nicht glauben können, daß die Welt in Gerechtigkeit regiert wird –«

»Und wird sie das?« sagte Magnus. »Hat der schlechte Mensch in dieser Welt etwa zu leiden? Sterben seine Schafe an der Egelkrankheit, und stürzt sein Vieh über die Felsen oder vermehrt es sich weniger schnell als das anderer Leute? Nein, Herr,« sagte er, sich in seinem Stuhle abwendend, »wer ein Schurke ist und sich kein Gewissen daraus macht, seinen eignen Vater zu bestehlen, der hat Aussicht, es in dieser Welt zu etwas zu bringen; wer aber ein armer Mann ist und das Bestreben hat, gegen jedermann recht zu handeln, der wird wahrscheinlich weder sich selbst noch seinen Angehörigen nützen.«

Christian Christiansson schwindelte der Kopf von Minute zu Minute mehr, doch sagte er:

»Die Welt hat ihre eigne Weise, Übeltäter zu bestrafen, und selbst wenn sie im Leben ungestraft davonkommen, wartet ihrer stets der Tod –«

»Der Tod?« sagte Magnus, sich in seinem krachenden Stuhl herumschwingend. »Der Tod ist ein blindes, strauchelndes Ungeheuer, das die Jungen, die Glücklichen, die Unschuldigen, die armen, hilflosen Verratenen niedermäht, und die Alten, die Elenden, die Schuldigen und die Verräter verschont! Wir haben das alle erfahren, nicht wahr? Ich wenigstens habe es, soviel weiß ich.«

Magnus' erregte, leidenschaftliche Stimme war zu einem schwerfälligen Flüstern, das wie gebrochenes Schluchzen klang, herabgesunken. Christian Christiansson wagte nicht, sein Gesicht zu erheben, versuchte aber zu sagen:

»Gott führt alles zu einem guten Abschluß. Ich habe es immer so gefunden. Der Lauf der Welt mag in Dunkelheit gehüllt sein, aber zuguterletzt führt er doch zur Gerechtigkeit.«

»Was geht mich zuguterletzt an, Herr?« sagte Magnus. »Ich bin nur auf einige kurze Jahre in der Welt, und hier will ich Gerechtigkeit. Ich will den schlechten Mann in der Gegenwart, nicht in zukünftigen Generationen bestraft sehen. Gerechtigkeit, sagen Sie! Die Sünden der Väter an den Kindern heimsuchen – das ist die einzige Gerechtigkeit, die ich in dieser Welt gesehen habe. Wenn ein armes Kind in Not und Elend zurückbleiben muß, weil sein Vater das Geld, das er nicht einmal selbst verdient hatte, verspielte oder vertrank – nennen Sie das etwa Gerechtigkeit, Herr? Ich nicht!«

Magnus' dicke Stimme brach wieder, und eine kurze Zeit herrschte Schweigen.

»Nein, nein, Herr! Machen Sie mir nicht weiß, daß wir unsern Lohn in dieser Welt bekommen – niemand von uns – gut oder böse. Das Leben straft das alte Märchen Lügen – hat es immer getan, wird es immer tun. Wenn Sie ein Betrüger oder ein Bösewicht, oder ein verlorener Sohn sind, dann können Sie im Luxus leben und bis zur Sonne reisen, wenn Sie aber ein armer Teufel sind und zu Hause bleiben und Ihre Finger bis auf die Knochen abarbeiten, dann werden Sie auf die Landstraße geworfen. Aber was nützt das Sprechen? Der schlimme Tag rückt nahe. Laßt ihn kommen!«

Nie vorher war Christian Christiansson sich selbst so jämmerlich und verachtenswert vorgekommen. Die Quelle des Stolzes in ihm war versiegt und er in seiner eignen Achtung sehr gesunken. In Gegenwart des Bruders, der seine Bürde getragen und unter ihr zusammengebrochen war, erschien er sich verworfen und erbärmlich. Er vermochte sein Angesicht nicht zu erheben, denn er fühlte, als ob seine Schande ihm auf der Stirn geschrieben stand, aber er versuchte, etwas zu sagen, und die einzigen Worte, die sich seinen Lippen entrangen, schienen seine Zunge zu versengen und seine Kehle auszutrocknen.

»Ich kann nicht mit Ihnen streiten,« sagte er. »Sie haben mehr gelitten als ich, und ohne Zweifel ist Ihr jetziges Elend die Hinterlassenschaft des verlorenen Bruders, von dem Ihre Mutter mir erzählte.«

Magnus' ganzes Wesen veränderte sich bei Erwähnung seiner Mutter wie mit einem Schlage. »Sie hat wieder von ihm gesprochen, wie?« sagte er.

»Spricht sie denn oft von ihm?«

»Nur zu oft, und sie scheint an nichts anderes zu denken. Er war der Grund, auf dem sie ihr Haus baute, arme Seele, und es fiel; aber sie hält trotz alledem an ihm fest.«

»Gott segne sie!« sagte Christian Christiansson unwillkürlich.

»Gott segne alle Frauen, sage ich. Sie sind immer auf seiten der Sünder und Elenden.«

»Und sie werden irgendwie ihre Belohnung erhalten – sie müssen es,« sagte Christian Christiansson – er dachte an morgen früh.

»Ich sehe in diesem Falle kein Anzeichen davon,« sagte Magnus. »Sie war ihm die beste Mutter, die nur je ein Mensch gehabt hat, und er wußte es und lohnte es ihr mit Vernachlässigung und Verachtung.«

»Verachtung?«

»Was sonst nennen Sie es? Er lebte fünf Jahre im Auslande und schrieb ihr in der ganzen Zeit nur einmal. Und doch pflegte sie jeden Abend, Winter und Sommer, bei Regen und bei Sonnenschein, bis der Briefträger vorüber war draußen vor der Türe zu stehen und auf den Brief, der nimmer kam, zu warten.«

Christian Christiansson fühlte, wie wenn seine ganze Seele in Scham zusammenschrumpfte.

»Sie vergab es ihm aber, und als er starb – Sie wissen, wie er starb, jedermann weiß es – glaubte sie den Grund zu dieser schimpflichen, ehrlosen Tat in dem Bestreben zu sehen, daß er versucht habe, Geld genug zu gewinnen, um zurückzukommen und alles wieder gut zu machen.«

»Das glaubte sie wirklich?«

»Sie glaubt es noch heute.«

Christian Christiansson fühlte eine hysterische Beklemmung des Herzens. Wieder wollte er alles gestehen, wagte es jedoch nicht. »Wenn es aber wahr gewesen wäre,« sagte er – »ich sage nicht, daß es das war, wenn es aber so gewesen wäre – wenn Ihr Bruder wirklich jahrelang versucht hätte, nur um die von ihm hinterlassenen Schulden abzutragen Geld zu erwerben – und wenn er mit einem Vermögen in der Hand zurückgekommen wäre –«

Magnus' finsteres Gesicht verfinsterte sich in drohender Weise, und seine große Faust auf den Tisch niederfallen lassend sagte er: »Dann würde jede einzelne Münze mit einem Fluch behaftet gewesen sein, und ich würde sie ihm ins Gesicht geschleudert haben.«

Christian Christiansson fragte nicht, weshalb. Er wußte zu wohl, was Magnus meinte. In einem Augenblicke zog die Erinnerung seines vergangenen Lebens so blitzschnell, wie sie schuldigen Sündern am Tage des jüngsten Gerichtes sich offenbaren muß, an seiner Seele vorüber, und die entsetzlichste Tat desselben – die Schändung des Grabes seiner Frau – trat mit nackter Klarheit daraus hervor. Es war unmöglich vorzugeben, daß sie nur die Tat eines Augenblicks gewesen sei; daß er sie tausendmal mit bitteren Tränen bereut, daß er weder Nutzen noch Vorteil aus ihr gezogen und zehn Jahre lang in dem Tode seiner eignen Persönlichkeit ihre schreckliche Strafe verbüßt hatte. Wieder und wieder hatte er sich selbst mit solchen Entschuldigungen beruhigt, jetzt aber wollte sein Gewissen sich nicht betrügen lassen. Weshalb war er Christian Christiansson? Wie war es zugegangen, daß er zweihunderttausend Kronen in der Tasche hatte, und daß seine Werke über die ganze Welt bekannt waren?

Die ganze elende Selbstbetrügerei und falsche Denkart, die ihn zu dem gemacht hatten was er war, dem Inhaber von Ruhm und Vermögen, hatten Magnus' schreckliche Worte aufgedeckt. Die ganze betrügerische Eitelkeit, die ihn dieser Stunde entgegengetrieben hatte, lag mit ihrer falschen Vorspiegelung einer großen Überraschung und einer großen Endlösung, während der er sagen würde: »Seht, hier bin ich; ich habe allen Erwartungen entsprochen,« starr und kalt und tot da.

Nein, er konnte sich morgen früh seiner Familie nicht offenbaren. Er konnte sich ihr überhaupt nicht offenbaren. Nachdem er einmal Christian Christiansson geworden war, konnte er nie wieder als Oskar Stephenson bekannt werden. Darin bestand die Strafe der Toten, und die Schändung des Grabes seiner Frau hatte das sich selbst gemachte Gelübde in ein immerwährendes verwandelt und den ihr zugeschworenen Eid im Himmel verzeichnet.

Christian Christiansson fühlte, als ob er von der ganzen Welt verstoßen sei, als Anna aus dem Gastzimmer heraustrat und sagte:

»So, mein Herr! Ihr Zimmer ist fertig, und Sie können jederzeit zu Bette gehen.«

Magnus stand auf, um ins Elthaus zu gehen und das Mengfutter für das Pony zu mischen, und Mutter und Sohn waren wieder beieinander.


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