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[Vorworte]

Vorwort zur ersten Auflage.

Die vorliegenden freien Vorträge über »natürliche Schöpfungs-Geschichte« sind im Wintersemester 1867/68 vor einem aus Laien und Studirenden aller Facultäten zusammengesetzten Publicum hier von mir gehalten, und von zweien meiner Zuhörer stenographirt worden. Abgesehen von den redactionellen Veränderungen des stenographischen Manuscripts, habe ich an mehreren Stellen Erörterungen weggelassen, welche für meinen engeren Zuhörerkreis von besonderem Interesse waren, und dagegen an anderen Stellen Erläuterungen eingefügt, welche mir für den weiteren Leserkreis erforderlich schienen. Die Abkürzungen betreffen besonders die erste Hälfte, die Zusätze dagegen die zweite Hälfte der Vorträge.

Die »natürliche Schöpfungs-Geschichte« oder richtiger ausgedrückt: die »natürliche Entwickelungs-Lehre«, deren selbständige Förderung und weitere Verbreitung den Zweck dieser Vorträge bildet, ist seit dem Jahre 1859 durch die grosse Geistesthat von Charles Darwin in ein neues Stadium ihrer Entwickelung getreten. Was frühere Anhänger derselben nur unbestimmt andeuteten oder ohne Erfolg aussprachen, was schon Wolfgang Goethe mit dem prophetischen Genius des Dichters, weit seiner Zeit vorauseilend, ahnte, was Jean Lamarck bereits 1809, unverstanden von seinen befangenen Zeitgenossen, zu einer klaren wissenschaftlichen Theorie formte, das ist durch das epochemachende Werk von Charles Darwin unveräusserliches Erbgut der menschlichen Erkenntniss und die erste Grundlage geworden, auf der alle wahre Wissenschaft in Zukunft weiter bauen wird. »Entwickelung« heisst von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können. Aber wie Wenige haben dieses Losungswort wirklich verstanden, und wie Wenigen ist seine weltumgestaltende Bedeutung klar geworden! Befangen in der mythischen Tradition von Jahrtausenden, und geblendet durch den falschen Glanz mächtiger Autoritäten, haben selbst hervorragende Männer der Wissenschaft in dem Siege der Entwickelungs-Theorie nicht den grössten Fortschritt, sondern einen gefährlichen Rückschritt der Naturwissenschaft erblickt; und namentlich den biologischen Theil derselben, die Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie, unrichtiger beurtheilt, als der gesunde Menschenverstand des gebildeten Laien.

Diese Wahrnehmung vorzüglich war es, welche mich zur Veröffentlichung dieser gemeinverständlichen wissenschaftlichen Vorträge bestimmte. Ich hoffe dadurch der Entwickelungs-Lehre, welche ich für die grösste Eroberung des menschlichen Geistes halte, manchen Anhänger auch in jenen Kreisen der Gesellschaft zuzuführen, welche zunächst nicht mit dem empirischen Material der Naturwissenschaft, und der Biologie insbesondere, näher vertraut, aber durch ihr Interesse an dem Naturganzen berechtigt, und durch ihren natürlichen Menschenverstand befähigt sind, die Entwickelungstheorie zu begreifen und als Schlüssel zum Verständniss der Erscheinungswelt zu benutzen. Die Form der freien Vorträge, in welcher hier die Grundzüge der allgemeinen Entwickelungs-Geschichte behandelt sind, hat mancherlei Nachtheile. Aber ihre Vorzüge, namentlich der freie und unmittelbare Verkehr zwischen dem Vortragenden und dem Zuhörer, überwiegen in meinen Augen die Nachtheile bedeutend.

Der lebhafte Kampf, welcher im letzten Decennium um die Entwickelungslehre entbrannt ist, muss früher oder später nothwendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Dieser glänzendste Sieg des erkennenden Verstandes über das blinde Vorurtheil, der höchste Triumph, den der menschliche Geist erringen konnte, wird sicherlich mehr als alles Andere nicht allein zur geistigen Befreiung, sondern auch zur sittlichen Vervollkommnung der Menschheit beitragen. Zwar haben nicht nur diejenigen engherzigen Leute, die als Angehörige einer bevorzugten Kaste jede Verbreitung allgemeiner Bildung überhaupt scheuen, sondern auch wohlmeinende und edelgesinnte Männer die Befürchtung ausgesprochen, dass die allgemeine Verbreitung der Entwickelungs-Theorie die gefährlichsten moralischen und socialen Folgen haben werde. Nur die feste Ueberzeugung, dass diese Besorgniss gänzlich unbegründet ist, und dass im Gegentheil jeder grosse Fortschritt in der wahren Naturerkenntniss unmittelbar oder mittelbar auch eine entsprechende Vervollkommnung des sittlichen Menschenwesens herbeiführen muss, konnte mich dazu ermuthigen, die wichtigsten Grundzüge der Entwickelungs-Theorie in der hier vorliegenden Form einem weiteren Kreise zugänglich zu machen.

Den wissbegierigen Leser, welcher sich genauer über die in diesen Vorträgen behandelten Gegenstände zu unterrichten wünscht, verweise ich auf die im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, welche am Schlusse desselben im Zusammenhang verzeichnet sind. Bezüglich derjenigen Beiträge zum Ausbau der Entwickelungs-Lehre, welche mein Eigenthum sind, verweise ich insbesondere auf meine 1866 veröffentlichte »Generelle Morphologie der Organismen« (Erster Band: Allgemeine Anatomie oder Wissenschaft von den entwickelten Formen; Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungs-Geschichte oder Wissenschaft von den entstehenden Formen). Dies gilt namentlich von meiner im ersten Bande ausführlich begründeten Individualitäts-Lehre und Grundformen-Lehre, auf welche ich in diesen Vorträgen nicht eingehen konnte, und von meiner im zweiten Bande enthaltenen mechanischen Begründung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der individuellen und der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte. Der Leser, welcher sich specieller für das natürliche System der Thiere, Pflanzen und Protisten, sowie für die darauf begründeten Stammbäume interessirt, findet darüber das Nähere in der systematischen Einleitung zum zweiten Bande der generellen Morphologie.

So unvollkommen und mangelhaft diese Vorträge auch sind, so hoffe ich doch, dass sie dazu dienen werden, das segensreiche Licht der Entwickelungs-Lehre in weiteren Kreisen zu verbreiten. Möchte dadurch in vielen denkenden Köpfen die unbestimmte Ahnung zur klaren Gewissheit werden, dass unser Jahrhundert durch die endgültige Begründung der Entwickelungs-Theorie, und namentlich durch die Entdeckung des menschlichen Ursprungs, den bedeutendsten und ruhmvollsten Wendepunkt in der ganzen Entwickelungs-Geschichte der Menschheit bildet. Möchten dadurch viele Menschenfreunde zu der Ueberzeugung geführt werden, wie fruchtbringend und segensreich dieser grösste Fortschritt in der Erkenntniss auf die weitere fortschreitende Entwickelung des Menschengeschlechts einwirken wird, und an ihrem Theile werkthätig zu seiner Ausbreitung beitragen. Möchten aber vor Allem dadurch recht viele Leser angeregt werden, tiefer in das innere Heiligthum der Natur einzudringen, und aus der nie versiegenden Quelle der natürlichen Offenbarung mehr und mehr jene höchste Befriedigung des Verstandes durch wahre Natur-Erkenntniss, jenen reinsten Genuss des Gemüthes durch tiefes Naturverständniss, und jene sittliche Veredelung der Vernunft durch einfache Naturreligion schöpfen, welche auf keinem anderen Wege erlangt werden kann.

Jena, am 18. August 1868.

Ernst Haeckel.

Vorwort zur achten Auflage.

Der Zeitraum von zehn Jahren, welcher seit dem Erscheinen der letzten Auflage der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« verflossen ist, umfasst eine lange Reihe von wichtigen Fortschritten auf allen darin behandelten Gebieten der Naturwissenschaft. Einerseits sind zahlreiche tüchtige Arbeiter in allen Theilen der Biologie bemüht gewesen, unsere empirischen Kenntnisse vom organischen Leben zu erweitern und unser allgemeines Verständniss desselben abzurunden; andererseits haben die weitesten Kreise der Gebildeten denselben eine lebendige, früher ungeahnte Theilnahme zugewendet. Vor Allem hat aber in diesem letzten Decennium die allgemeine Entwickelungslehre, und ihr wichtigster Theil, die Descendenz-Theorie, so überzeugende Beweisführung, so fruchtbare Anwendung und so allgemeine Anerkennung gefunden, dass sie heute bereits als die bedeutungsvollste und sicherste Grundlage unseres gesammten Wissens von der lebendigen Natur gilt.

Niemand kann diesen gewaltigen Umschwung unserer grundlegenden Natur-Anschauung tiefer empfinden, als ich. Denn als vor 23 Jahren meine »Generelle Morphologie« und zwei Jahre später, als populärer Auszug eines Theiles derselben, die erste Auflage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte erschien, stiess ich fast allgemein auf den hartnäckigsten Widerstand. In dem folgenden Decennium musste erst unter den heftigsten Kämpfen, Schritt für Schritt, das neue, von Jean Lamarck entdeckte, von Charles Darwin zugänglich gemachte Land der Entwickelungs-Lehre erobert und der »Berg von Vorurtheilen«, unter dem die Wahrheit begraben lag, abgetragen werden. Im letzten Decennium wurde das eroberte Gebiet durch Hunderte fleissiger und tüchtiger Hände angebaut, und heute bereits ernten wir auf demselben reiche Früchte, deren Werth nicht überschätzt werden kann.

Die gewaltige, alljährlich in erstaunlichem Maasse wachsende Litteratur über die Entwickelungs-Lehre und deren einzelne Zweige, erläutert am besten jenen merkwürdigen Umschwung der allgemeinen Anschauungen. Vor zwanzig Jahren bestand noch der grössere Theil derselben aus Schriften »Gegen Darwin«; heute sind dergleichen von kenntnissreichen und urtheilsfähigen Naturforschern überhaupt nicht mehr zu befürchten. Hingegen legt jetzt fast die ganze biologische Litteratur Zeugniss »Für Darwin« ab, insofern fast alle zoologischen und botanischen, anatomischen und ontogenetischen Arbeiten in den phylogenetischen Grundsätzen unseres heutigen Transformismus wurzeln und von ihm aus ihre besten befruchtenden Gedanken ableiten.

Unter diesen Umständen bot sich mir keine leichte Aufgabe, als nach Erschöpfung der siebenten Auflage dieses Buches der Wunsch, eine neue vorzubereiten, an mich herantrat. Als ich nach langem Zwischenraume das Buch wieder durchblätterte, schien mir Inhalt sowohl als Form desselben, die 1879 noch zeitgemäss sein mochte, 1889 bereits veraltet. Unsere Zeit lebt rasch, und der gewaltige Fortschritt des modernen Geisteslebens in diesem Decennium wiegt mehr als ein Jahrhundert des Mittelalters auf. Hätte ich alle die werthvollen, inzwischen gewonnenen Ergebnisse der Entwickelungs-Lehre in diese neue Auflage aufnehmen und ihrer Bedeutung entsprechend ausführlich schildern wollen, so würde der Umfang des Buches um mehr als das Doppelte gewachsen sein. Auch war es mir unmöglich, die mannichfaltigen, inzwischen erschienenen und nach Hunderten zählenden Schriften über Darwinismus, für deren gütige Zusendung ich den freundlichen Verfassern bei dieser Gelegenheit herzlich danke, eingehend zu studiren und zu berücksichtigen. Denn die letzten zwölf Jahre hindurch war ich grösstentheils durch die umfangreichen zoologischen Arbeiten für den Challenger-Report in Anspruch genommen (Radiolarien, Tiefsee-Medusen, Siphonophoren, Tiefsee-Hornschwämme, zusammen illustrirt durch 230 Tafeln). Auch fällt in diesen Zeitraum meine Reise nach Ceylon, über welche ich in den »Indischen Reisebriefen« 1882 berichtet habe.

Somit war ich durch die Umstände genöthigt, einerseits die wichtigsten inzwischen gewonnenen Fortschritte der Entwickelungs-Lehre in diese neue Auflage aufzunehmen, und ihre Form zeitgemäss umzugestalten; anderseits aber doch die Masse des neu aufgenommenen Stoffes so weit zu verdichten und zu beschränken, dass der Umfang des Buches dadurch nicht allzu sehr vergrössert wurde. Die Zahl der Vorträge (ursprünglich zwanzig, in der letzten Auflage vierundzwanzig) ist jetzt auf dreissig erhöht worden. Ganz umgearbeitet (und wie ich hoffe, wesentlich verbessert) sind einerseits die Vorträge VIII-XV, welche den eigentlichen Darwinismus betreffen (Vererbung und Anpassung, Selection und Divergenz); anderseits die Vorträge XVII-XXVI, welche das von mir (1866) zuerst entworfene phylogenetische System der Organismen weiter ausführen (Protisten und Histonen, Stammbäume des Pflanzenreichs und Thierreichs). Da der Umfang dieser achten Auflage (trotzdem vieles Unwesentliche in Wegfall kam) dadurch ziemlich bedeutend gewachsen ist, und für die bequemere Handhabung vielen Lesern die Zweitheilung derselben erwünscht sein dürfte, sind dieser achten Auflage zwei besondere Theil-Titel angefügt; der erste Theil (Allgemeine Entwickelungs-Lehre) umfasst die Vorträge I-XV; der zweite Theil (Allgemeine Stammes-Geschichte) die Vorträge XVI-XXX.

Gern hätte ich einen vielfach ausgesprochenen Wunsch erfüllt und diese neue Auflage durch zahlreiche und gute Abbildungen besser illustrirt. Indessen würde dadurch Umfang und Preis des Buches allzusehr gesteigert worden sein. Ausserdem besitzen wir jetzt so zahlreiche, vortrefflich illustrirte, populäre Werke über Naturgeschichte, dass ich auf diese (im Anhang verzeichneten) Schriften verweisen kann. Als besonders werthvolle Ergänzung und weitere Ausführung der »Natürlichen Schöpfungs-Geschichte« möchte ich vor allen Anderen die vortreffliche, nach Inhalt und Form gleich ausgezeichnete und reich illustrirte neue Auflage von Carus Sterne's »Werden und Vergehen« (Berlin 1886) empfehlen. Eine reiche Fülle der besten Abbildungen bietet die Fortsetzung des bekannten populären Prachtwerkes: »Brehm's Thierleben«, worüber ich im vorletzten Vortrage (S. 770) Einiges gesagt habe.

Einige der wichtigsten Ergebnisse aus meinem engeren Arbeits-Gebiete (Gasträa-Theorie u. s. w.) habe ich durch sechs neue Tafeln illustrirt, welche dieser achten Auflage zugefügt sind. Vermehrt ist auch die Zahl der systematischen Tabellen und der Stammbäume, welche alle sorgfältig revidirt und zum grösseren Theil umgearbeitet wurden. Es wäre wünschenswerth, dass diese wesentlichen Verbesserungen auch Eingang in die Uebersetzungen der »Natürlichen Schöpfungs-Geschichte« finden möchten. Die Zahl der Letzteren ist inzwischen von acht auf zwölf gestiegen; sie erschienen in nachstehender Reihenfolge: Polnisch, Dänisch, Russisch, Französisch, Serbisch, Englisch, Holländisch, Spanisch, Schwedisch, Portugiesisch, Malayisch, Japanisch.

Möge diese stetig wachsende Theilnahme an den Ergebnissen der Entwickelungs-Lehre dazu beitragen, ihr Licht über immer weitere Kreise der Wissenschaft zu verbreiten und der Entwickelung des wahren Menschen-Wesens in bestem Sinne zu Gute kommen!

Jena, am 18. August 1889.

Ernst Haeckel.


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