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Zehnter Vortrag.

Anpassung und Ernährung. Anpassungs-Gesetze.

Anpassung (Adaptation) und Veränderlichkeit (Variation). Zusammenhang der Anpassung mit der Ernährung (Stoffwechsel und Wachsthum). Unterscheidung der indirecten und directen Anpassung. Gesetze der indirecten oder potentiellen Anpassung. Individuelle Anpassung. Monströse oder sprungweise Anpassung. Geschlechtliche oder sexuelle Anpassung. Gesetze der directen oder actuellen Anpassung. Allgemeine oder universelle Anpassung. Gehäufte oder cumulative Anpassung. Gehäufte Einwirkung der äusseren Existenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Functionelle Anpassung. Wechselbezügliche oder correlative Anpassung. Wechselbeziehungen der Entwickelung. Correlation der Organe. Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpassung durch die Correlation der Geschlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Nachäffung oder mimetische Anpassung (Mimicry). Abweichende oder divergente Anpassung. Unbeschränkte oder unendliche Anpassung.

 

Meine Herren! Nachdem wir in den beiden letzten Vorträgen die wichtigsten Gesetze und Theorien der Vererbung erörtert haben, wenden wir uns nunmehr zu der zweiten grossen Reihe von Erscheinungen, welche bei der natürlichen Züchtung in Betracht kommen, nämlich zu denen der Anpassung oder Abänderung. Diese Erscheinungen stehen, im Grossen und Ganzen betrachtet, in einem gewissen Gegensatze zu den Vererbungs-Erscheinungen, und die Schwierigkeit, welche die Betrachtung beider darbietet, besteht zunächst darin; dass beide sich auf das Vollständigste durchkreuzen und verweben. Daher sind wir nur selten im Stande, bei den Form-Veränderungen, die unter unsern Augen geschehen, mit Sicherheit zu sagen, wieviel davon auf die Vererbung, wieviel auf die Abänderung zu beziehen ist. Alle Form-Charaktere, durch welche sich die Organismen unterscheiden, sind entweder durch die Vererbung oder durch die Anpassung verursacht; da aber beide Functionen beständig in Wechselwirkung zu einander stehen, ist es für den Systematiker ausserordentlich schwer, den Antheil jeder der beiden Functionen an der speciellen Bildung der einzelnen Formen zu erkennen. Dies ist gegenwärtig um so schwieriger, als man sich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieser Thatsache bewusst geworden ist, und als die meisten Naturforscher die Theorie der Anpassung ebenso wie der Vererbung vernachlässigt haben. Die vorher aufgestellten Vererbungs-Gesetze, wie die sogleich anzuführenden Gesetze der Anpassung, bilden wahrscheinlich nur einen Bruchtheil der vorhandenen, meist noch nicht untersuchten Erscheinungen dieses Gebietes; und da jedes dieser Gesetze mit jedem anderen in Wechselbeziehung treten kann, so geht daraus die unendliche Verwickelung von physiologischen Thätigkeiten hervor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirksam sind.

Was nun die Erscheinung der Abänderung oder Anpassung im Allgemeinen betrifft, so müssen wir dieselbe, ebenso wie die Thatsache der Vererbung, als eine ganz allgemeine physiologische Grundeigenschaft aller Organismen ohne Ausnahme hinstellen, als eine Lebensäusserung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu trennen ist. Streng genommen müssen wir auch hier, wie bei der Vererbung, zwischen der Anpassung selbst und der Anpassungsfähigkeit unterscheiden. Unter Anpassung (Adaptatio) oder Abänderung (Variatio) verstehen wir die Thatsache, dass der Organismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Aussenwelt gewisse neue Eigenthümlichkeiten in seiner Lebensthätigkeit, Mischung und Form annimmt, welche er nicht von seinen Eltern geerbt hat; diese erworbenen individuellen Eigenschaften stehen den ererbten gegenüber, welche seine Eltern und Voreltern auf ihn übertragen haben. Dagegen nennen wir Anpassungs-Fähigkeit (Adaptabilitas) oder Veränderlichkeit (Variabilitas) die allen Organismen inne wohnende Fähigkeit, derartige neue Eigenschaften unter dem Einflusse der Aussenwelt zu erwerben.

Die unleugbare Thatsache der organischen Anpassung oder Abänderung ist allbekannt und an tausend uns umgebenden Erscheinungen jeden Augenblick wahrzunehmen. Allein gerade deshalb, weil die Erscheinungen der Abänderung durch äussere Einflüsse selbstverständlich erscheinen, hat man dieselben bisher noch fast gar nicht einer genaueren wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Es gehören dahin alle Erscheinungen, welche wir als die Folgen der Angewöhnung und Abgewöhnung, der Uebung und Nichtübung betrachten, oder als Folgen der Dressur, der Erziehung, der Acclimatisation, der Gymnastik u. s. w. Auch viele bleibende Veränderungen durch krankmachende Ursachen, viele Krankheiten sind weiter nichts als gefährliche Anpassungen des Organismus an verderbliche Lebensbedingungen. Bei den Cultur-Pflanzen und Hausthieren tritt die Erscheinung der Abänderung so auffallend und mächtig hervor, dass eben darauf der Thierzüchter und Gärtner seine ganze Thätigkeit gründet, oder vielmehr auf die Wechselbeziehung, in welche er diese Erscheinungen mit denen der Vererbung setzt. Ebenso ist von den Pflanzen und Thieren im wilden Zustande allbekannt, dass sie abändern oder variiren. Jede systematische Bearbeitung einer Thier- oder Pflanzen-Gruppe müsste, wenn sie ganz vollständig und erschöpfend sein wollte, bei jeder einzelnen Art eine Menge von Abänderungen anführen, welche mehr oder weniger von der herrschenden oder typischen Hauptform der Species abweichen. In der That finden Sie in jedem genauer gearbeiteten systematischen Specialwerk bei den meisten Arten eine Anzahl von solchen Variationen und Umbildungen angeführt, welche bald als individuelle Abweichungen, bald als sogenannte Spielarten, Rassen, Varietäten, Abarten oder Unterarten bezeichnet werden. Oft entfernen sich dieselben ausserordentlich weit von der Stammart, und doch sind sie lediglich durch die Anpassung des Organismus an die äusseren Lebensbedingungen entstanden.

Wenn wir nun zunächst die allgemeinen Ursachen dieser Anpassungs-Erscheinungen zu begründen suchen, so kommen wir zu dem Resultate, dass dieselben in Wirklichkeit so einfach sind, als die Ursachen der Erblichkeits-Erscheinungen. Wie wir für die Vererbungs-Thatsachen die Fortpflanzung als allgemeine Grundursache nachwiesen, die Uebertragung der elterlichen Materie auf den kindlichen Körper, so können wir für die Thatsachen der Anpassung oder Abänderung, die physiologische Thätigkeit der Ernährung oder des Stoffwechsels als die allgemeine Grundursache hinstellen. Wenn ich hier die »Ernährung« als Grundursache der Abänderung und Anpassung anführe, so nehme ich dieses Wort im weitesten Sinne, und verstehe darunter die gesammten trophischen Veränderungen, welche der Organismus in allen seinen Theilen durch die Einflüsse der ihn umgebenden Aussenwelt erleidet. Es gehört also zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und der Einfluss der verschiedenartigen Nahrung; sondern auch z. B. die Einwirkung, welche das Wasser und die Atmosphäre, das Sonnenlicht und die Temperatur auf die chemisch-physikalische Beschaffenheit des Körpers ausüben; kurz der Einfluss aller derjenigen meteorologischen Erscheinungen, welche man unter dem Begriff »Klima« zusammenfasst. Auch der mittelbare und unmittelbare Einfluss der Bodenbeschaffenheit und des Wohnorts gehört hierher, ferner der äusserst wichtige und vielseitige Einfluss, welchen die umgebenden Organismen, die Freunde und Nachbarn, die Feinde und Räuber, die Schmarotzer oder Parasiten u. s. w. auf jedes Thier und auf jede Pflanze ausüben. Alle diese und noch viele andere höchst wichtige Einwirkungen, welche alle die Gewebe des Organismus mehr oder weniger in ihrer materiellen Zusammensetzung verändern, müssen hier beim Stoffwechsel in Betracht gezogen werden. Demgemäss wird die Anpassung die Folge aller jener materiellen Veränderungen sein, welche die äusseren Existenz-Bedingungen in der Ernährung der Elementartheile, die Einflüsse der umgebenden Aussenwelt im Stoffwechsel und im Wachsthum des Organismus hervorbringen.

Wie sehr jeder Organismus von seiner gesammten äusseren Umgebung abhängt und durch deren Wechsel verändert wird, ist Ihnen Allen im Allgemeinen bekannt. Denken Sie bloss daran, wie die menschliche Thatkraft von der Temperatur der Luft abhängig ist, oder die Gemüthsstimmung von der Farbe des Himmels. Je nachdem der Himmel wolkenlos und sonnig ist, oder mit trüben, schweren Wolken bedeckt, ist unsere Stimmung heiter oder trübe. Wie anders empfinden und denken wir im Walde während einer stürmischen Winternacht und während eines heitern Sommertages! Alle diese verschiedenen Stimmungen unserer Seele beruhen auf rein materiellen Veränderungen unseres Gehirns, auf molekularen Plasma-Bewegungen, welche mittelst der Sinne durch die verschiedene Einwirkung des Lichtes, der Wärme, der Feuchtigkeit u. s. w. hervorgebracht werden. »Wir sind ein Spiel von jedem Druck der Luft!«

Nicht minder wichtig und tiefgreifend sind die Einwirkungen, welche unser Geist und unser Körper durch die verschiedene Qualität und Quantität der Nahrungsmittel im engeren Sinne erfährt. Unsere Geistesarbeit, die Thätigkeit unseres Verstandes und unserer Phantasie ist gänzlich verschieden, je nachdem wir vor und während derselben Thee und Kaffee, oder Wein und Bier genossen haben. Unsere Stimmungen, Wünsche und Gefühle sind ganz anders, wenn wir hungern und wenn wir gesättigt sind. Der Nationalcharakter der Engländer und der Gauchos in Südamerika, welche vorzugsweise von Fleisch, von stickstoffreicher Nahrung leben, ist gänzlich verschieden von demjenigen der kartoffelessenden Irländer und der reisessenden Chinesen, welche vorwiegend stickstofflose Nahrung geniessen. Auch lagern die letzteren viel mehr Fett ab, als die ersteren. Hier wie überall gehen die Veränderungen des Geistes mit entsprechenden Umbildungen des Körpers Hand in Hand; beide sind durch rein materielle Ursachen bedingt. Ganz ebenso wie der Mensch, werden aber auch alle anderen Organismen durch die verschiedenen Einflüsse der Ernährung abgeändert und umgebildet. Ihnen allen ist bekannt, dass wir willkürlich die Form, Grösse, Farbe u. s. w. bei unseren Cultur-Pflanzen und Hausthieren durch Veränderung der Nahrung abändern können, dass wir z. B. einer Pflanze ganz bestimmte Eigenschaften nehmen oder geben können, je nachdem wir sie einem grösseren oder geringeren Grade von Sonnenlicht und Feuchtigkeit aussetzen. Da diese Erscheinungen ganz allgemein verbreitet und bekannt sind, und wir sogleich zur Betrachtung der verschiedenen Anpassungs-Gesetze übergehen werden, wollen wir uns hier nicht länger bei den allgemeinen Thatsachen der Abänderung aufhalten.

Gleichwie die verschiedenen Vererbungs-Gesetze sich naturgemäss in die beiden Reihen der conservativen und der progressiven Vererbung sondern lassen, so kann man unter den Anpassungs-Gesetzen ebenfalls zwei verschiedene Reihen unterscheiden, nämlich erstens die Reihe der indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpassungs-Gesetze. Letztere kann man auch als actuelle, erstere als potentielle Anpassungs-Gesetze bezeichnen.

Die erste Reihe, welche die Erscheinungen der unmittelbaren oder indirecten (potentiellen) Anpassung umfasst, ist im Ganzen bis jetzt sehr wenig berücksichtigt worden, und es bleibt das Verdienst Darwin's, auf diese Reihe von Veränderungen ganz besonders hingewiesen zu haben. In jüngster Zeit hat namentlich August Weismann dieselben sehr eingehend untersucht, und ihnen zuletzt, als einzig erblichen Abartungen, eine so ausschliessliche Geltung zugeschrieben, dass er die Vererbung von directen Anpassungen überhaupt leugnet. Es ist etwas schwierig, diesen Gegenstand gehörig klar darzustellen; ich werde versuchen, Ihnen denselben nachher durch Beispiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedrückt besteht die indirecte oder potentielle Anpassung in der Thatsache, dass gewisse Veränderungen im Organismus, welche durch den Einfluss der Nahrung (im weitesten Sinne) und überhaupt der äusseren Existenz-Bedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Form-Beschaffenheit des betroffenen Organismus selbst, sondern in derjenigen seiner Nachkommen sich äussern und in die Erscheinung treten. So wird namentlich bei den Organismen, welche sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductions-System oder der Geschlechts-Apparat oft durch äussere Wirkungen, welche im Uebrigen den Organismus wenig berühren, dergestalt beeinflusst, dass die Nachkommenschaft desselben eine ganz veränderte Bildung zeigt. Sehr auffällig kann man das an den künstlich erzeugten Monstrositäten sehen. Man kann Monstrositäten oder Missgeburten dadurch erzeugen, dass man den elterlichen Organismus einer bestimmten, ausserordentlichen Lebensbedingung unterwirft. Diese ungewohnte Lebensbedingung erzeugt aber nicht eine Veränderung des Organismus selbst, sondern eine Veränderung seiner Nachkommen. Man kann das nicht als Vererbung bezeichnen, weil ja nicht eine im elterlichen Organismus vorhandene Eigenschaft als solche erblich auf die Nachkommen übertragen wird. Vielmehr tritt eine Abänderung, welche den elterlichen Organismus betraf, aber nicht wahrnehmbar afficirte, erst in der eigenthümlichen Bildung seiner Nachkommen wirksam zu Tage. Bloss der Anstoss zu dieser neuen Bildung wird durch das Ei der Mutter oder durch den Samenfaden des Vaters bei der Fortpflanzung übertragen. Die Neubildung ist im elterlichen Organismus bloss der Möglichkeit nach (potentia) vorhanden; im kindlichen wird sie zur Wirklichkeit (actu).

Indem man diese sehr wichtige und sehr allgemeine Erscheinung bisher ganz vernachlässigt hatte, war man geneigt, alle wahrnehmbaren Abänderungen und Umbildungen der organischen Formen als Anpassungs-Erscheinungen der zweiten Reihe zu betrachten, derjenigen der unmittelbaren oder directen (actuellen) Anpassung. Das Wesen dieser Anpassungs-Gesetze liegt darin, dass die den Organismus betreffende Veränderung (in der Ernährung u. s. w.) bereits in dessen eigener Umbildung und nicht erst in derjenigen seiner Nachkommen sich äussert. Hierher gehören alle die bekannten Erscheinungen, bei denen wir den umgestaltenden Einfluss des Klimas, der Nahrung, der Erziehung, Dressur u. s. w. unmittelbar an den betroffenen Individuen selbst in seiner Wirkung verfolgen können.

Wie die beiden Erscheinungs-Reihen der conservativen und der progressiven Vererbung trotz ihres principiellen Unterschiedes vielfach in einander greifen und sich gegenseitig modificiren, vielfach zusammenwirken und sich durchkreuzen, so gilt das in noch höherem Maasse von den beiden entgegengesetzten und doch innig zusammenhängenden Erscheinungs-Reihen der indirecten und der directen Anpassung. Einige Naturforscher, namentlich Darwin, Carl Vogt und Weismann, schreiben den indirecten oder potentiellen Anpassungen eine viel bedeutendere oder selbst eine fast ausschliessliche Wirksamkeit zu. Die Mehrzahl der Naturforscher aber war bisher geneigt, umgekehrt das Hauptgewicht auf die Wirkung der directen oder actuellen Anpassungen zu legen, oder auch diese allein gelten zu lassen, im Anschlusse an die Lehren von Lamarck. Eigentlich ist dieser Streit vorläufig ziemlich unnütz. Nur selten sind wir in der Lage, im einzelnen Abänderungs-Falle beurtheilen zu können, wie viel davon auf Rechnung der directen, wieviel auf Rechnung der indirecten Anpassung kömmt. Wir kennen im Ganzen diese ausserordentlich wichtigen und verwickelten Verhältnisse noch viel zu wenig, und können daher nur im Allgemeinen die Behauptung aufstellen, dass die Umbildung der organischen Formen entweder bloss der directen, oder bloss der indirecten, oder endlich drittens dem Zusammenwirken der directen und der indirecten Anpassung zuzuschreiben ist. Die Physiologie der Ernährung wird die wichtige Aufgabe zu lösen haben, die verschiedenen Wirkungen dieser Abänderungen näher (– womöglich experimentell –) zu untersuchen, und auf ihre elementaren Ursachen, auf die physikalisch-chemischen Vorgänge im Stoffwechsel und im Wachsthum der Organe zurückzuführen.

Lassen Sie uns nun etwas näher die verschiedenen Erscheinungs-Formen der Variation betrachten, welche man vorläufig als »Gesetze der Anpassung« unterscheiden kann. Zunächst wenden wir uns zu den Abänderungen der ersten Reihe, der indirecten oder potentiellen Anpassung. Wenn diese merkwürdigen Erscheinungen auch noch sehr dunkel in ihrem Wesen und sehr wenig erforscht in ihren elementaren Ursachen sind, so steht doch allgemein und unzweifelhaft die Thatsache fest, dass alle organischen Individuen Umbildungen erleiden und neue Formen annehmen können in Folge von Ernährungs-Veränderungen, welche nicht sie selbst, sondern ihren elterlichen Organismus betrafen. Der umgestaltende Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen, des Klimas, der Nahrung etc. äussert hier seine Wirkung nicht direct, in der Umbildung des Organismus selbst, sondern indirect, in derjenigen seiner Nachkommen.

Als das oberste und allgemeinste von den Gesetzen der indirecten Abänderung können wir das Gesetz der individuellen Anpassung hinstellen, nämlich den wichtigen Satz, dass alle organischen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst ähnlich sind. Zum Beweise dieses Satzes können wir zunächst auf die Thatsache hinweisen, dass beim Menschen allgemein alle Geschwister, alle Kinder eines Elternpaares von Geburt an ungleich sind. Es wird Niemand behaupten, dass zwei Geschwister bei der Geburt noch vollkommen gleich sind, dass die Grösse aller einzelnen Körpertheile, die Zahl der Kopfhaare, der Oberhaut-Zellen, der Blut-Zellen in beiden Geschwistern ganz gleich sei, dass beide dieselben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht haben. Ganz besonders beweisend für dieses Gesetz der individuellen Verschiedenheit ist aber die Thatsache, dass bei denjenigen Thieren, welche mehrere Junge werfen, z. B. bei den Hunden und Katzen, alle Jungen eines jeden Wurfes von einander verschieden sind, bald durch geringere, bald durch auffallendere Differenzen in der Grösse, Färbung, Länge der einzelnen Körpertheile, Stärke u. s. w. Nun gilt aber dieses Gesetz ganz allgemein. Alle organischen Individuen sind von Anfang an durch gewisse, wenn auch oft höchst feine Unterschiede ausgezeichnet, und die Ursache dieser individuellen Unterschiede, wenn auch im Einzelnen uns gewöhnlich ganz unbekannt, liegt theilweise oder ausschliesslich in gewissen Einwirkungen, welche die Fortpflanzungs-Organe des elterlichen Organismus erfahren haben.

Manche Naturforscher betrachten die individuelle Variation als die wichtigste oder selbst die ausschliessliche Ursache der Transformation; so namentlich August Weisman, welcher sie als die unmittelbare Folge der geschlechtlichen Fortpflanzung hinstellt. Die amphigone Vererbung bewirkt nach ihm unmittelbar die individuelle Anpassung. So hoch wir auch ihren Werth schätzen mögen, so können wir ihr doch nicht diese ausschliessliche Bedeutung zugestehen.

Weniger wichtig und allgemein, als dieses Gesetz der individuellen Abänderung, ist ein zweites Gesetz der indirecten Anpassung, welches wir das Gesetz der monströsen oder sprungweisen Anpassung nennen wollen. Hier sind die Abweichungen des kindlichen Organismus von der elterlichen Form so auffallend, dass wir sie in der Regel als Missgeburten oder Monstrositäten bezeichnen können. Diese werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nachgewiesen ist, dadurch erzeugt, dass man den elterlichen Organismus einer bestimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Ernährungs-Verhältnisse versetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf seine Ernährung mächtig einwirkende Einflüsse in bestimmter Weise abändert. Die neue Existenz-Bedingung bewirkt eine starke und auffallende Abänderung der Gestalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, sondern erst an dessen Nachkommenschaft. Die Art und Weise dieser Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, ist uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemeinen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der monströsen Bildung des Kindes und einer gewissen Veränderung in den Existenz-Bedingungen seiner Eltern, sowie deren Einfluss auf die Fortpflanzungs-Organe der letzteren, feststellen. In diese Reihe der monströsen oder sprungweisen Abänderungen gehören wahrscheinlich die früher erwähnten Erscheinungen des Albinismus, sowie die einzelnen Fälle von Menschen mit sechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, sowie von Schafen und Ziegen mit vier oder sechs Hörnern. Wahrscheinlich verdankt in allen diesen Fällen die monströse Abänderung ihre Entstehung einer Ursache, welche zunächst nur das Reproductions-System des elterlichen Organismus, das Ei der Mutter oder das Sperma des Vaters afficirte.

Als eine dritte eigenthümliche Aeusserung der indirecten Anpassung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen Anpassung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige Thatsache, dass bestimmte Einflüsse, welche auf die männlichen Fortpflanzungs-Organe einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nachkommen, und ebenso andere Einflüsse, welche die weiblichen Geschlechts-Organe betreffen, nur in der Gestalt-Veränderung der weiblichen Nachkommen ihre Wirkung äussern. Diese merkwürdige Erscheinung ist noch sehr dunkel und wenig beachtet, wahrscheinlich aber von grosser Bedeutung für die Entstehung der früher betrachteten »secundären Sexual-Charaktere«.

Alle die angeführten Erscheinungen der geschlechtlichen, der sprungweisen und der individuellen Anpassung, welche wir als »Gesetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpassung« zusammenfassen können, sind uns in ihrem eigentlichen Wesen, in ihrem tieferen ursächlichen Zusammenhang noch äusserst wenig bekannt. Nur soviel lässt sich schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass sehr zahlreiche und wichtige Umbildungen der organischen Formen diesem Vorgange ihre Entstehung verdanken. Viele und auffallende Form-Veränderungen sind lediglich bedingt durch Ursachen, welche zunächst nur auf die Ernährung des elterlichen Organismus und dadurch auf dessen Fortpflanzungs-Organe einwirkten. Offenbar sind hierbei die wichtigen Wechselbeziehungen, in denen die Geschlechts-Organe zu den übrigen Körpertheilen stehen, von der grössten Bedeutung. Von diesen werden wir sogleich bei dem Gesetze der wechselbezüglichen Anpassung noch mehr zu sagen haben. Wie mächtig überhaupt Veränderungen in den Lebensbedingungen, in der Ernährung auf die Fortpflanzung der Organismen einwirken, beweist allein schon die merkwürdige Thatsache, dass zahlreiche wilde Thiere, die wir in unseren zoologischen Gärten halten, und ebenso viele in unsere botanischen Gärten verpflanzte exotische Gewächse nicht mehr im Stande sind, sich fortzupflanzen, so z. B. die meisten Raubvögel, Papageien und Affen. Auch der Elephant und die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenschaft fast niemals Junge. Ebenso werden viele Pflanzen im Culturzustande unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geschlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwicklung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt sich unzweifelhaft, dass die durch den Culturzustand veränderte Ernährungsweise die Fortpflanzungs-Fähigkeit gänzlich aufzuheben, also den grössten Einfluss auf die Geschlechts-Organe auszuüben im Stande ist. Ebenso können andere Anpassungen oder Ernährungs-Veränderungen des elterlichen Organismus zwar nicht den gänzlichen Ausfall der Nachkommenschaft, wohl aber bedeutende Umbildungen in deren Form veranlassen.

Viel bekannter als die Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung sind diejenigen der directen oder actuellen Anpassung, zu deren näherer Betrachtung wir uns jetzt wenden. Es gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, welche man als die Folgen der Uebung, Gewohnheit, Dressur, Erziehung u. s. w. betrachtet, ebenso diejenigen Umbildungen der organischen Formen, welche unmittelbar durch den Einfluss der Nahrung, des Klimas und anderer äusserer Existenzbedingungen bewirkt werden. Wie schon vorher bemerkt, tritt hier bei der directen oder unmittelbaren Anpassung der umbildende Einfluss der äusseren Ursache unmittelbar in der Form oder Structur des betroffenen Organismus selbst, und nicht erst in desjenigen seiner Nachkommenschaft wirksam zu Tage.

Unter den verschiedenen Gesetzen der directen oder actuellen Anpassung können wir als das oberste und umfassendste das Gesetz der allgemeinen oder universellen Anpassung an die Spitze stellen. Dasselbe lässt sich kurz in dem Satze aussprechen: »Alle organischen Individuen werden im Laufe ihres Lebens durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen einander ungleich, obwohl die Individuen einer und derselben Art sich meistens sehr ähnlich bleiben.« Eine gewisse Ungleichheit der organischen Individuen wurde, wie Sie sahen, schon durch das Gesetz der individuellen (indirecten) Anpassung bedingt. Allein diese ursprüngliche Ungleichheit der Einzelwesen wird späterhin dadurch noch gesteigert, dass jedes Individuum sich während seines selbstständigen Lebens seinen eigenthümlichen Existenzbedingungen unterwirft und anpasst. Alle verschiedenen Einzelwesen einer jeden Art, so ähnlich sie in ihren ersten Lebensstadien auch sein mögen, werden im weiteren Verlaufe der Existenz einander mehr oder minder ungleich. In geringeren oder bedeutenderen Eigenthümlichkeiten entfernen sie sich von einander, und das ist eine natürliche Folge der verschiedenen Bedingungen, unter denen alle Individuen leben. Es giebt nicht zwei einzelne Wesen irgend einer Art, die unter ganz gleichen äusseren Umständen ihr Leben vollbringen. Die Lebensbedingungen der Nahrung, der Feuchtigkeit, der Luft, des Lichtes, ferner die Lebensbedingungen der Gesellschaft, die Wechselbeziehungen zu den umgebenden Individuen derselben Art und anderer Arten, sind bei allen Einzelwesen verschieden; diese Verschiedenheit wirkt zunächst auf die Functionen, weiterhin auf die Formen jedes einzelnen Organismus umbildend ein.

Wenn Geschwister einer menschlichen Familie schon von Anfang an gewisse individuelle Ungleichheiten zeigen, die wir als Folge der individuellen (indirecten) Anpassung betrachten können, so erscheinen uns dieselben noch weit mehr verschieden in späterer Lebenszeit, wo die einzelnen Geschwister verschiedene Erfahrungen durchgemacht, und sich verschiedenen Lebensverhältnissen angepasst haben. Die ursprünglich angelegte Verschiedenheit des individuellen Entwickelungsganges wird offenbar um so grösser, je länger das Leben dauert, je mehr verschiedenartige äussere Bedingungen auf die einzelnen Individuen Einfluss erlangen. Das können Sie am einfachsten an den Menschen selbst, sowie an den Hausthieren und Cultur-Pflanzen nachweisen, bei denen Sie willkürlich die Lebensbedingungen modificiren können. Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum Priester erzogen wird, entwickeln sich in körperlicher und geistiger Beziehung ganz verschieden; ebenso zwei Hunde eines und desselben Wurfes, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Kettenhund erzogen wird. Dasselbe gilt aber auch von den organischen Individuen im Naturzustande. Wenn Sie z. B. in einem Kiefern- oder in einem Buchenwalde, der bloss aus Bäumen einer einzigen Art besteht, sorgfältig alle Bäume mit einander vergleichen, so finden Sie immer, dass von allen hundert oder tausend Bäumen nicht zwei Individuen in der Grösse des Stammes und der einzelnen Theile, in der Zahl der Zweige, Blätter, Früchte u. s. w. völlig übereinstimmen. Ueberall finden Sie individuelle Ungleichheiten, welche zum Theil wenigstens bloss die Folge der verschiedenen Lebensbedingungen sind, unter denen sich alle Bäume entwickelten. Freilich lässt sich niemals mit Bestimmtheit sagen, wie viel von dieser Ungleichheit aller Einzelwesen jeder Art ursprünglich (durch die indirecte individuelle Anpassung bedingt), wie viel davon erworben (durch die directe universelle Anpassung bewirkt) sein mag.

Nicht minder wichtig und allgemein als die universelle Anpassung ist eine zweite Erscheinungsreihe der directen Anpassung, welche wir das Gesetz der gehäuften oder cumulativen Anpassung nennen können. Unter diesem Namen fasse ich eine grosse Anzahl von sehr wichtigen Erscheinungen zusammen, die man gewöhnlich in zwei ganz verschiedene Gruppen bringt. Man unterscheidet in der Regel erstens solche Veränderungen der Organismen, welche unmittelbar durch den anhaltenden Einfluss äusserer Bedingungen (durch die dauernde Einwirkung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung u. s. w.) erzeugt werden, und zweitens solche Veränderungen, welche mittelbar durch Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an bestimmte Lebensbedingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe entstehen. Diese letzteren Einflüsse sind insbesondere von Lamarck als wichtige Ursachen der Umbildung der organischen Formen hervorgehoben, während man die ersteren schon sehr lange in weiteren Kreisen als solche anerkannt hat.

Die scharfe Unterscheidung, welche man zwischen diesen beiden Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpassung gewöhnlich macht, und welche auch Darwin noch sehr hervorhebt, verschwindet, sobald man eingehender und tiefer über das eigentliche Wesen und den ursächlichen Grund der beiden scheinbar sehr verschiedenen Anpassungsreihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, dass man es in beiden Fällen immer mit zwei verschiedenen wirkenden Ursachen zu thun hat, nämlich einerseits mit der äusseren Einwirkung oder Action der anpassend wirkenden Lebensbedingung, und andrerseits mit der inneren Gegenwirkung oder Reaction des Organismus, welcher sich jener Lebensbedingung unterwirft und anpasst. Wenn man die gehäufte Anpassung in ersterer Hinsicht für sich betrachtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauernden äusseren Existenzbedingungen auf diese letzteren allein bezieht, so legt man einseitig das Hauptgewicht auf die äussere Einwirkung, und man vernachlässigt die nothwendig eintretende innere Gegenwirkung des Organismus. Wenn man umgekehrt die gehäufte Anpassung einseitig in der zweiten Richtung verfolgt, indem man die umbildende Selbstthätigkeit des Organismus, seine Gegenwirkung gegen den äusseren Einfluss, seine Veränderung durch Uebung, Gewohnheit, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe hervorhebt, so vergisst man, dass diese Gegenwirkung oder Reaction erst durch die Einwirkung der äusseren Existenzbedingung hervorgerufen wird. Es ist also nur ein Unterschied der Betrachtungsweise, auf welchem die Unterscheidung jener beiden verschiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, dass man sie mit vollem Rechte zusammenfassen kann. Das Wesentlichste bei diesen gehäuften Anpassungs-Erscheinungen ist immer, dass die Veränderung des Organismus, welche zunächst in seiner Function und weiterhin in seiner Formbildung sich äussert, entweder durch lange andauernde oder durch oft wiederholte Einwirkungen einer äusseren Ursache veranlasst wird. Die kleinste Ursache kann durch Häufung oder Cumulation ihrer Wirkung die grössten Erfolge erzielen.

Die Beispiele für diese Art der directen Anpassung sind unendlich zahlreich. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und Pflanzen, finden Sie überall einleuchtende und überzeugende Veränderungen dieser Art vor Augen. Wir wollen hier zunächst einige durch die Nahrung selbst unmittelbar bedingte Anpassungs-Erscheinungen hervorheben. Jeder von Ihnen weiss, dass man die Hausthiere, die man für gewisse Zwecke züchtet, verschieden umbilden kann durch die verschiedene Quantität und Qualität der Nahrung, welche man ihnen darreicht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle erzeugen will, so giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn er gutes Fleisch oder reichliches Fett erzielen will. Die auserlesenen Rennpferde und Luxuspferde erhalten besseres Futter, als die schweren Lastpferde und Karrengaule. Die Körperform des Menschen selbst, der Grad der Fettablagerung z. B., ist ganz verschieden nach der Nahrung. Bei stickstoffreicher Kost wird wenig, bei stickstoffarmer Kost viel Fett abgelagert. Leute, die mit Hülfe der neuerdings beliebten Banting-Kur mager werden wollen, essen nur Fleisch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veränderungen man an Cultur-Pflanzen, lediglich durch veränderte Quantität und Qualität der Nahrung hervorbringen kann, ist allbekannt. Dieselbe Pflanze erhält ein ganz anderes Aussehen, wenn man sie an einem trockenen, warmen Ort dem Sonnenlicht ausgesetzt hält, oder wenn man sie an einer kühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Viele Pflanzen bekommen, wenn man sie an den Meeresstrand versetzt, nach einiger Zeit dicke, fleischige Blätter; und dieselben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heisse Standorte versetzt, bekommen dünne, behaarte Blätter. Alle diese Formveränderungen entstehen unmittelbar durch den gehäuften Einfluss der veränderten Nahrung.

Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein, sondern auch alle anderen äusseren Existenzbedingungen, vor Allen die nächste organische Umgebung, die Gesellschaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und derselbe Baum entwickelt sich ganz anders an einem offenen Standort, wo er von allen Seiten frei steht, als im Walde, wo er sich den Umgebungen anpassen muss, wo er ringsum von den nächsten Nachbarn gedrängt und zum Emporschiessen gezwungen wird. Im ersten Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt sich der Stamm in die Höhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie mächtig alle diese Umstände, wie mächtig der feindliche oder freundliche Einfluss der umgebenden Organismen, der Parasiten u. s. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, ist so bekannt, dass eine Anführung weiterer Beispiele überflüssig erscheint. Die Veränderung der Form, die Umbildung, welche dadurch bewirkt wird, ist niemals bloss die unmittelbare Folge des äusseren Einflusses, sondern muss immer zurückgeführt werden auf die entsprechende Gegenwirkung, auf die Selbstthätigkeit des Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Dass man diese letzteren Erscheinungen in der Regel getrennt von der ersteren betrachtet, liegt erstens an der schon hervorgehobenen einseitigen Betrachtungsweise, und dann zweitens daran, dass man sich eine ganz falsche Vorstellung von dem Wesen und dem Einfluss der Willensthätigkeit bei den Thieren gebildet hatte.

Die Thätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der Uebung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thieren zu Grunde liegt, ist gleich jeder anderen Thätigkeit der thierischen Seele durch materielle Vorgänge im Central-Nervensystem bedingt, durch eigenthümliche Bewegungen, welche von der eiweissartigen Materie der Ganglien-Zellen und der mit ihnen verbundenen Nerven-Fasern ausgehen. Der Wille der höheren Thiere ist in dieser Beziehung, ebenso wie die übrigen Geistesthätigkeiten, von demjenigen des Menschen nur quantitativ (nicht qualitativ) verschieden. Der Wille des Thieres, wie des Menschen ist niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Freiheit des Willens ist naturwissenschaftlich durchaus nicht haltbar. Jeder Physiologe, der die Erscheinungen der Willensthätigkeit bei Menschen und Thieren naturwissenschaftlich untersucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, dass der Wille eigentlich niemals frei, sondern stets durch äussere oder innere Einflüsse bedingt ist. Diese Einflüsse sind grösstentheils Vorstellungen, die entweder durch Anpassung oder durch Vererbung, erworben, und auf eine von diesen beiden physiologischen Functionen zurückführbar sind. Sobald man seine eigene Willensthätigkeit streng untersucht, ohne das herkömmliche Vorurtheil von der Freiheit des Willens, so wird man gewahr, dass jede scheinbar freie Willenshandlung durch vorhergehende Vorstellungen bewirkt wird, die entweder in ererbten oder in anderweitig erworbenen Vorstellungen wurzeln, und in letzter Linie also wiederum durch Anpassungs- oder Vererbungsgesetze bedingt sind. Dasselbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. Sobald man diese eingehend im Zusammenhang mit ihrer Lebensweise betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweise durch die äusseren Bedingungen erfährt, so überzeugt man sich alsbald, dass eine andere Auffassung nicht möglich ist. Daher müssen auch die Veränderungen der Willensbewegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohnheit u. s. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgänge der gehäuften Anpassung gerechnet werden.

Indem sich der thierische Wille den veränderten Existenz-Bedingungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. s. w. anpasst, vermag er die bedeutendsten Umbildungen der organischen Formen zu bewirken. Mannichfaltige Beispiele hierfür sind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Hausthieren manche Organe, indem sie in Folge der veränderten Lebensweise ausser Thätigkeit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zustande ausgezeichnet fliegen, verlernen diese Bewegung mehr oder weniger im Cultur-Zustande. Sie gewöhnen sich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauchten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form wesentlich verändert. Für die verschiedenen Rassen der Hausente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abstammen, hat dies Darwin durch eine sehr sorgfältige vergleichende Messung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewiesen. Die Knochen des Flügels sind bei der Hausente schwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt stärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straussen und anderen Laufvögeln, welche sich das Fliegen gänzlich abgewöhnt haben, ist in Folge dessen der Flügel ganz verkümmert, zu einem völlig »rudimentären Organ« herabgesunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbesondere bei vielen Rassen von Hunden und Kaninchen, bemerken Sie ferner, dass dieselben durch den Cultur-Zustand herabhängende Ohren bekommen haben. Dies ist einfach eine Folge des verminderten Gebrauchs der Ohrmuskeln. Im wilden Zustande müssen diese Thiere ihre Ohren gehörig anstrengen, um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat sich dadurch ein starker Muskel-Apparat entwickelt, welcher die äusseren Ohren in aufrechter Stellung erhält, und nach allen Richtungen dreht. Im Cultur-Zustande haben dieselben Thiere nicht mehr nöthig, so aufmerksam zu lauschen; sie spitzen und drehen die Ohren nur wenig; die Ohrmuskeln kommen ausser Gebrauch, verkümmern allmählich, und die Ohren sinken nun schlaff herab oder werden rudimentär.

Wie in diesen Fällen die Function und dadurch auch die Form des Organs durch Nichtgebrauch rückgebildet wird, so wird dieselbe andrerseits durch stärkeren Gebrauch mehr entwickelt. Dies tritt uns besonders deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch bewirkten Seelen-Thätigkeiten bei den wilden Thieren und den Hausthieren, welche von ihnen abstammen, vergleichen. Insbesondere der Hund und das Pferd, welche in so erstaunlichem Maasse durch die Cultur veredelt sind, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stamm-Verwandten einen ausserordentlichen Grad von Ausbildung der Geistes-Thätigkeit, und offenbar ist die damit zusammenhängende Umbildung des Gehirns grösstentheils durch die andauernde Uebung bedingt. Allbekannt ist es ferner, wie schnell und mächtig die Muskeln durch anhaltende Uebung wachsen und ihre Form verändern. Vergleichen Sie z. B. Arme und Beine eines geübten Turners mit denjenigen eines unbeweglichen Stubensitzers.

Wie mächtig äussere Einflüsse die Gewohnheiten der Thiere, ihre Lebensweise beeinflussen und dadurch weiterhin auch ihre Form umbilden, zeigen sehr auffallend manche Beispiele von Amphibien und Reptilien. Unsere häufigste einheimische Schlange, die Ringelnatter, legt Eier, welche zu ihrer Entwickelung noch drei Wochen brauchen. Wenn man sie aber in Gefangenschaft hält und in den Käfig keinen Sand streut, so legt sie die Eier nicht ab, sondern behält sie bei sich, so lange bis die Jungen entwickelt sind. Der Unterschied zwischen lebendig gebärenden Thieren und solchen, die Eier legen, scheinbar so wichtig, wird hier einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwischt.

Ausserordentlich interessant sind in dieser Beziehung auch die Wasser-Molche oder Tritonen, welche man gezwungen hat, ihre ursprünglichen Kiemen beizubehalten. Die Tritonen, Amphibien, welche den Fröschen nahe verwandt sind, besitzen gleich diesen in ihrer Jugend äussere Athmungs-Organe, Kiemen, mit welchen sie, im Wasser lebend, Wasser athmen. Später tritt bei den Tritonen eine Metamorphose ein, wie bei den Fröschen. Sie gehen auf das Land, verlieren die Kiemen und gewöhnen sich an das Lungenathmen. Wenn man sie nun daran verhindert, indem man sie in einem geschlossenen Wasserbecken hält, so verlieren sie die Kiemen nicht. Diese bleiben vielmehr bestehen, und der Wasser-Molch verharrt zeitlebens auf jener niederen Ausbildungs-Stufe, welche seine tiefer stehenden Verwandten, die Kiemen-Molche oder Sozobranchien niemals überschreiten. Der Wasser-Molch erreicht seine volle Grösse, wird geschlechtsreif und pflanzt sich fort, ohne die Kiemen zu verlieren.

Grosses Aufsehen erregte unter den Zoologen vor einigen Jahrzehnten der Axolotl (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter Kiemen-Molch aus Mexico, welchen man schon seit langer Zeit kennt und im Pariser Pflanzen-Garten im Grossen gezüchtet hat. Dieses Thier hat auch äussere Kiemen, wie die jugendliche Larve des Wasser-Molchs, behält aber dieselben gleich allen anderen Sozobranchien zeitlebens bei. Für gewöhnlich bleibt dieser Kiemen-Molch mit seinen Wasser-Athmungsorganen im Wasser und pflanzt sich hier auch fort. Nun krochen aber plötzlich im Pflanzen-Garten unter Hunderten dieser Thiere eine geringe Anzahl aus dem Wasser auf das Land, verloren ihre Kiemen und verwandelten sich in eine kiemenlose Molchform, welche von einer nordamerikanischen Tritonen-Gattung (Amblystoma) nicht mehr zu unterscheiden ist und nur noch durch Lungen athmet. In diesem letzten höchst merkwürdigen Falle können wir unmittelbar den grossen Sprung von einem wasserathmenden zu einem luftathmenden Thiere verfolgen, einen Sprung, der allerdings bei der individuellen Entwickelungs-Geschichte der Frösche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann. Ebenso aber, wie jeder einzelne Frosch und jeder einzelne Salamander aus dem ursprünglich kiemenathmenden Amphibium späterhin in ein lungenathmendes sich verwandelt, so ist auch die ganze Gruppe der Frösche und Salamander ursprünglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thieren entstanden. Die Sozobranchien sind noch bis auf den heutigen Tag auf jener niedrigen Stufe stehen geblieben. Die Ontogenie erläutert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungs-Geschichte der Individuen diejenige der ganzen Gruppe (S. 10).

In unmittelbarem Anschluss an die Erscheinungen der gehäuften oder cumulativen Anpassung, und theilweise unter demselben Begriff, stehen die wichtigen Veränderungen der Organisation, welche neuerdings als functionelle Anpassungen von Wilhelm Roux sehr eingehend und klar erläutert worden sind. Seine Schrift über »den Kampf der Theile im Organismus« (1881) ist eines der wichtigsten neueren Erzeugnisse der umfangreichen Darwinistischen Literatur. Im Anschluss an Lamarck geht Roux von den morphologischen Wirkungen der physiologischen Functionen oder Lebensthätigkeiten aus. Er weist nach, in wie hohem Maasse die Uebung der Organe dieselben stärkt, der Nichtgebrauch sie schwächt; erstere bewirkt Hypertrophie und Wachsthum der Organe, letzterer Atrophie und Verkümmerung derselben. Mit Recht legt er grosses Gewicht auf die unzweifelhafte Vererbung dieser erworbenen Veränderungen, und betont die differenzirende und gestaltende Wirkung der functionellen Reize. Besonders wichtig aber sind die Erörterungen über die tiefgehenden unmittelbaren Veränderungen, welche die vermehrte oder verminderte Uebung der Organe in den Geweben bewirkt, die sie zusammensetzen, und in den Zellen, welche die Gewebe aufbauen. Auf diese bedeutungsvollen Veränderungen hatte ich schon 1866 in meiner generellen Morphologie hingewiesen, als ich alle Anpassungen auf die Ernährung, als physiologische Grundthätigkeit, zurückzuführen versuchte (Bd. II, S. 193). Roux führt dieselben weiter aus und erläutert eingehend die trophische Wirkung der functionellen Reize für die activ und passiv wirkenden Theile. Er zeigt an der feineren Structur der Knochen und Muskeln, der Drüsen und Blutgefässe, wie deren höchst zweckmässige Einrichtung unmittelbar durch die trophische Einwirkung der functionellen Reize entstehen kann.

Daraus ergiebt sich klar, wie die denkbar höchste Vollkommenheit der Organisation unmittelbar durch die Lebensthätigkeit der Organismen selbst bewirkt werden kann, als eine teleologische Mechanik, welche keinen bewussten Zweck oder sogenannten Bauplan voraussetzt. Zugleich zeigt sich aber auch, wie die neuen zweckmässigen Einrichtungen durch Vererbung direct übertragen werden können, ohne dass dabei nothwendig Züchtung oder Selection stattfinden muss.

In engem Zusammenhang mit den beiden vorhergehenden Erscheinungsreihen, den cumulativen und functionellen Anpassungen, steht das Gesetz der wechselbezüglichen oder correlativen Anpassung. Nach diesem wichtigen Gesetze werden durch die actuelle Anpassung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, welche unmittelbar durch die äussere Einwirkung betroffen werden, sondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies ist eine Folge des organischen Zusammenhanges, und namentlich der einheitlichen Ernährungsverhältnisse, welche zwischen allen Theilen jedes Organismus bestehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Versetzung an einen trockenen Standort die Behaarung der Blätter zunimmt, so wirkt diese Veränderung auf die Ernährung anderer Theile zurück und kann eine Verkürzung der Stengelglieder und somit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Rassen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkischen Hunde, welche durch Anpassung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiss zurückgebildet. So zeigen auch die Walfische und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere etc.), welche sich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung am meisten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die grössten Abweichungen in der Bildung des Gebisses. Ferner bekommen solche Rassen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen sich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrungenen Kopf. So zeichnen sich u. a. die Tauben-Rassen, welche die längsten Beine haben, zugleich auch durch die längsten Schnäbel aus. Dieselbe Wechselbeziehung zwischen der Länge der Beine und des Schnabels zeigt sich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvögel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. s. w. Die Wechselbeziehungen, welche in dieser Weise zwischen verschiedenen Theilen des Organismus bestehen, sind äusserst merkwürdig, und im Einzelnen ihrer Ursache nach uns unbekannt. Im Allgemeinen können wir natürlich sagen: die Ernährungs-Veränderungen, die einen einzelnen Theil betreffen, müssen nothwendig auf die übrigen Theile zurückwirken, weil die Ernährung eines jeden Organismus eine zusammenhängende, centralisirte Thätigkeit ist. Allein warum nun gerade dieser oder jener Theil in solcher merkwürdigen Wechselbeziehung zu einem andern steht, ist uns in den meisten Fällen unbekannt.

Wir kennen eine grosse Anzahl solcher Wechselbeziehungen in der Bildung, namentlich bei den früher bereits erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflanzen, die sich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlichen Farbstoffs bedingt hier gewisse Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des Muskelsystems, des Knochensystems, also organischer Systeme, die zunächst gar nicht mit dem Systeme der äusseren Haut zusammenhängen. Sehr häufig sind diese schwächer entwickelt und daher der ganze Körperbau zarter und schwächer, als bei den gefärbten Thieren derselben Art. Ebenso werden auch die Sinnes-Organe und das Nervensystem durch diesen Pigmentmangel eigenthümlich afficirt. Weisse Katzen mit blauen Augen sind fast immer taub. Die Schimmel zeichnen sich vor den gefärbten Pferden durch die besondere Neigung zur Bildung sarcomatöser Geschwülste aus. Auch beim Menschen ist der Grad der Pigmententwickelung in der äusseren Haut vom grössten Einflusse auf die Empfänglichkeit des Organismus für gewisse Krankheiten, so dass z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, schwarzen Haaren und braunen Augen sich leichter in den Tropen-Gegenden acclimatisiren und viel weniger den dort herrschenden Krankheiten (Leber-Entzündungen, gelbem Fieber u. s. w.) unterworfen sind, als Europäer mit heller Hautfarbe, blonden Haaren und blauen Augen. (Vergl. oben Wells, S. 151.)

Vorzugsweise merkwürdig sind unter diesen Wechselbeziehungen der Bildung verschiedener Organe diejenigen, welche zwischen den Geschlechts-Organen und den übrigen Theilen des Körpers bestehen. Keine Veränderung eines Theiles wirkt so mächtig zurück auf die übrigen Körpertheile, als eine bestimmte Behandlung der Geschlechts-Organe. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. s. w. reichliche Fettbildung erzielen wollen, entfernen die Geschlechts-Organe durch Herausschneiden (Castration), und zwar geschieht dies bei Thieren beiderlei Geschlechts. In Folge davon tritt übermässige Fett-Entwickelung ein. Dasselbe thut auch seine Heiligkeit, der »unfehlbare« Papst, bei den Castraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gottes singen müssen. Diese Unglücklichen werden in früher Jugend castrirt, damit sie ihre hohen Knabenstimmen beibehalten. In Folge dieser Verstümmelung der Genitalien bleibt der Kehlkopf auf der jugendlichen Entwickelungsstufe stehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen Körpers schwach entwickelt, während sich unter der Haut reichliche Fettmengen ansammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Central-Nervensystems, der Willens-Energie u. s. w. wirkt jene Verstümmelung mächtig zurück; und es ist bekannt, dass die menschlichen Castraten oder Eunuchen ebenso wie die castrirten männlichen Hausthiere des bestimmten psychischen Charakters, welcher das männliche Geschlecht auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann ist eben Leib und Seele nach nur Mann durch seine männliche Generations-Drüse.

Diese äusserst wichtigen und einflussreichen Wechselbeziehungen zwischen den Geschlechts-Organen und den übrigen Körpertheilen, vor allem dem Gehirn, finden sich in gleicher Weise bei beiden Geschlechtern. Das lässt sich schon von vornherein deshalb erwarten, weil bei den meisten Thieren die beiderlei Organe aus gleicher Grundlage sich entwickeln. Beim Menschen, wie bei allen übrigen Wirbelthieren, ist die ursprüngliche Anlage der Geschlechts-Drüse oder Gonade dieselbe. An einer und derselben Stelle der Leibeshöhle entstehen aus ihrem Epithel die Zellen, aus deren wiederholter Theilung später beim Weibchen die Eizellen, beim Männchen die Samenzellen hervorgehen. In jungen Embryonen (– wie sie z. B. auf Taf. II, III, abgebildet sind –) lässt sich das Geschlecht nicht unterscheiden.

Erst allmählich entstehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim Menschen in der neunten Woche seines Embryo-Lebens) die Unterschiede der beiden Geschlechter, indem die Gonade sich beim Weibe zum Eierstock, beim Manne zur Samendrüse entwickelt. Jede Veränderung des weiblichen Eierstocks äussert eine nicht minder bedeutende Rückwirkung auf den gesammten weiblichen Organismus, wie jede Veränderung des Testikels auf den männlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieser Wechselbeziehung hat Virchow in seinem vortrefflichen Aufsatz »das Weib und die Zelle« mit folgenden Worten ausgesprochen: »Das Weib ist eben Weib nur durch seine Generations-Drüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimm-Organe, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung und Treue – kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit steht vor uns.«

Dieselbe innige Correlation oder Wechselbeziehung zwischen den Geschlechts-Organen und den übrigen Körpertheilen findet sich auch bei den Pflanzen eben so allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünscht, beschränkt man den Blätterwuchs durch Abschneiden eines Theils der Blätter. Wünscht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle von grossen und schönen Blättern zu erhalten, so verhindert man die Blüthen- und Frucht-Bildung durch Abschneiden der Blüthen-Knospen. In beiden Fällen entwickelt sich das eine Organ-System auf Kosten des anderen. So ziehen auch die meisten Abänderungen der vegetativen Blattbildung bei den wilden Pflanzen eine entsprechende Umbildung in den generativen Blüthentheilen nach sich. Die hohe Bedeutung dieser »Compensation der Entwickelung«, dieser »Correlation der Theile« ist bereits von Goethe, von Geoffroy S. Hilaire und von anderen Natur-Philosophen hervorgehoben worden. Sie beruht wesentlich darauf, dass die directe oder actuelle Anpassung keinen einzigen Körpertheil wesentlich verändern kann, ohne zugleich auf den ganzen Organismus einzuwirken.

Die correlative Anpassung der Fortpflanzungs-Organe und der übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz besondere Berücksichtigung, weil sie vor Allem geeignet ist, ein, erklärendes Licht auf die vorher betrachteten dunkeln und räthselhaften Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung zu werfen. Denn ebenso wie jede Veränderung der Geschlechts-Organe mächtig auf den übrigen Körper zurückwirkt, so muss natürlich umgekehrt auch jede eingreifende Veränderung eines anderen Körpertheils mehr oder weniger auf die Generations-Organe zurückwirken. Diese Rückwirkung wird sich aber erst in der Bildung der Nachkommenschaft, welche aus den veränderten Generationstheilen entsteht, wahrnehmbar äussern. Gerade jene merkwürdigen, aber unmerklichen und an sich ungeheuer geringfügigen Veränderungen des Genitalsystems, der Eier und des Sperma, welche durch solche Wechselbeziehungen hervorgebracht werden, sind vom grössten Einflusse auf die Bildung der Nachkommenschaft, und alle vorher erwähnten Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung können schliesslich auf diese wechselbezügliche Anpassung zurückgeführt werden.

Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beispielen der correlativen Anpassung liefern die verschiedenen Thiere und Pflanzen, welche durch das Schmarotzerleben oder den Parasitismus rückgebildet sind. Keine andere Veränderung der Lebensweise wirkt so bedeutend auf die Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das Schmarotzerleben. Pflanzen verlieren dadurch ihre grünen Blätter, wie z. B. unsere einheimischen Schmarotzerpflanzen: Orobanche, Lathraea, Monotropa. Thiere, welche ursprünglich selbstständig und frei gelebt haben, dann aber eine parasitische Lebensweise auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächst die Thätigkeit ihrer Bewegungs-Organe und ihrer Sinnes-Organe auf. Der Verlust der Thätigkeit zieht aber den Verlust der Organe, durch welche sie bewirkt wurde, nach sich, und so finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Crustaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organisationsgrad, Beine, Fühlhörner und Augen besassen, im Alter als Parasiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs-Werkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform ist ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden. Nur die nöthigsten Ernährungs- und Fortpflanzungs-Organe sind noch in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper ist rückgebildet. Offenbar sind diese tiefgreifenden Umbildungen grossentheils directe Folgen der functionellen oder cumulativen Anpassung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum anderen Theile kommen dieselben sicher auch auf Rechnung der wechselbezüglichen oder correlativen Anpassung. (Vergl. Taf. X und XI.)

Eine besonders interessante Reihe von Veränderungen, welche vielfach mit den vorhergehenden Gesetzen der directen Anpassung verknüpft sind, bildet die mimetische Anpassung, oder die nachäffende Variation, die gewöhnlich sogenannte »Mimicry« oder Nachäffung. Sie findet sich unter den Landthieren namentlich bei den Insecten, unter den Wasserthieren bei den Krebsen. In diesen beiden Thierklassen giebt es zahlreiche Arten, welche anderen, ganz verschiedenen Ordnungen oder Familien angehörigen Arten zum Verwechseln ähnlich sind. Besonders dienen als Vorbilder der Nachäffung solche Insecten (z. B. Schmetterlinge oder deren Raupen), welche wegen auffallend übler Eigenschaften von anderen Insecten gemieden oder gefürchtet werden, z. B. wegen unschmackhaften Fleisches, üblen Geruches, Bewaffnung mit Stacheln, Dornen u. dgl. mehr. Schmetterlinge und Raupen von mehreren ganz verschiedenen Familien haben so durch mimetische Anpassung dieselbe Form, Färbung und Zeichnung erworben, wie diejenigen anderer Familien, welche wegen ihres Geruches oder Geschmackes, wegen ihrer abschreckenden Gestalt oder Bewaffnung gemieden werden. Besonders gefürchtet sind unter den Insecten allgemein die Bienen und Wespen wegen ihres Giftstachels. Daher giebt es Insecten von nicht weniger als fünf oder sechs ganz verschiedenen Ordnungen, welche allmählich durch natürliche Züchtung den Wespen zum Verwechseln ähnlich geworden sind: Schmetterlinge (Sesia), Borkenkäfer (Odontocera), ferner zahlreiche Dipteren (Fliegen und Mücken), verschiedene Heuschrecken (Orthopteren), Halbflügler (Hemipteren) und Andere. Die abschreckende Aehnlichkeit mit Wespen ist allen diesen verschiedenen Insecten von grösstem Nutzen, weil sie sie vor ihren zahlreichen Feinden und Verfolgern schützt. So sind auch zahlreiche unschuldige Schlangen allmählich gewissen Giftschlangen höchst ähnlich geworden und haben deren Form, Färbung und Zeichnung nachgeahmt; so z. B. unsere harmlose Bergnatter (Coronella laevis) die der giftigen Kreuzotter (Vipera herus). Da schützende Aehnlichkeit auch in vielen anderen Fällen (z. B. bei der gleichfarbigen Zuchtwahl) die Ursache auffallender Umbildungen ist, so kann auch bei dieser mimetische Anpassung in weiterem Sinne angenommen werden.

Zu den directen Anpassungen gehört auch, das Gesetz der abweichenden oder divergenten Anpassung. Wir verstehen darunter die Erscheinung, dass ursprünglich gleichartig angelegte Theile sich, durch den Einfluss äusserer Bedingungen in verschiedener Weise ausbilden. Dieses Anpassungs-Gesetz ist ungemein wichtig für die Erklärung der Arbeitstheilung oder des Polymorphismus. An uns selbst können wir es sehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigkeit unserer beiden Hände. Die rechte Hand wird meistens von uns an ganz andere Arbeiten gewöhnt, als die linke; es entsteht in Folge der abweichenden Beschäftigung auch eine verschiedene Bildung der beiden Hände. Die rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke, zeigt stärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Dasselbe gilt auch vom ganzen Arm. Knochen und Fleisch des rechten Arms sind bei den meisten Menschen in Folge stärkeren Gebrauchs stärker und schwerer als die des linken Arms. Da nun aber der bevorzugte Gebrauch des rechten Arms bei unserer mittelländischen Menschen-Rasse schon seit Jahrtausenden eingebürgert und vererbt ist, so ist auch die stärkere Form und Grösse des rechten Arms bereits erblich geworden. Der holländische Naturforscher P. Harting hat durch Messung und Wägung an Neugeborenen gezeigt, dass auch bei diesen bereits der rechte Arm den linken übertrifft.

Nach demselben Gesetze der divergenten Anpassung sind auch häufig die beiden Augen verschieden entwickelt. Wenn man sich z. B. als Naturforscher gewöhnt, immer nur mit dem einen Auge (am besten mit dem linken) zu mikroskopiren, und mit dem andern nicht, so erlangt das eine Auge eine ganz andere Beschaffenheit, als das andere, und diese Arbeitstheilung ist von grossem Vortheil. Das eine Auge wird kurzsichtiger, geeignet für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitsichtiger, schärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechselnd mit beiden Augen mikroskopirt, so erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzsichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitsichtigkeit, welchen man durch zweckmässige Vertheilung dieser verschiedenen Gesichts-Functionen auf beide Augen erreicht. Zunächst wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Function, die Thätigkeit der ursprünglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form und die innere Structur des Organs zurück.

Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder divergente Anpassung besonders bei den Schlinggewächsen sehr leicht wahrnehmen. Aeste einer und derselben Schlingpflanze, welche ursprünglich gleichartig angelegt sind, erhalten eine ganz verschiedene Form und Ausdehnung, einen ganz verschiedenen Krümmungsgrad und Durchmesser der Spiralwindung, je nachdem sie um einen dünneren oder dickeren Stab sich herumwinden. Ebenso ist auch die abweichende Veränderung der Formen ursprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verschiedenen Richtungen unter abweichenden äusseren Bedingungen sich entwickeln, in vielen anderen Fällen deutlich nachweisbar. Indem diese abweichende Anpassung mit der fortschreitenden Vererbung in Wechselwirkung tritt, wird sie die Ursache der Arbeitstheilung und Formspaltung der verschiedenen Organe.

Ein achtes und letztes Anpassungs-Gesetz können wir als das Gesetz der unbeschränkten oder unendlichen Anpassung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, dass uns keine Grenze für die Veränderung der organischen Formen durch den Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen bekannt ist. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, dass er nicht mehr veränderlich sei, dass, wenn man ihn unter neue äussere Bedingungen brächte, er durch diese nicht verändert werden würde. Noch niemals hat sich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nachweisen lassen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch degenerirt, so geht diese Degeneration schliesslich bis zum vollständigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall ist. Andrerseits können wir durch fortwährende Uebung, Gewohnheit und immer gesteigerten Gebrauch eines Organs dasselbe in einem Maasse vervollkommnen, wie wir es von vornherein für unmöglich gehalten haben würden. Wenn man die uncivilisirten Wilden mit den Cultur-Völkern vergleicht, so findet man bei jenen eine Ausbildung der Sinnes-Organe, Gesicht, Geruch, Gehör, von der die Cultur-Völker keine Ahnung haben. Umgekehrt ist bei den höheren Cultur-Völkern das Gehirn, die Geistesthätigkeit in einem Grade entwickelt, von welchem die Wilden keine Vorstellung besitzen.

Allerdings scheint für jeden Organismus eine Grenze der Anpassungs-Fähigkeit durch den Typus seines Stammes oder Phylum gegeben zu sein, d. h. durch die wesentlichen Grund-Eigenschaften dieses Stammes, welche von dem gemeinsamen Stammvater desselben ererbt sind und sich durch conservative Vererbung auf alle Descendenten desselben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier statt des charakteristischen Rückenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere sich erwerben. Allein innerhalb der erblichen Grundform, innerhalb dieses unveräusserlichen Typus, ist der Grad der Anpassungs-Fähigkeit unbeschränkt. Die Biegsamkeit und Flüssigkeit der organischen Form äussert sich innerhalb desselben frei nach allen Richtungen hin, und in ganz unbeschränktem Umfang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z. B. die durch Parasitismus rückgebildeten Krebsthiere und Würmer, welche selbst jene Grenze des Typus zu überspringen scheinen, und durch erstaunlich weit gehende Degeneration alle wesentlichen Charaktere ihres Stammes eingebüsst haben.

Die Anpassungs-Fähigkeit des Menschen selbst besteht, wie bei allen anderen Thieren, ebenfalls unbegrenzt, und da sich dieselbe beim Menschen vor Allem in der Umbildung des Gehirns äussert, so lässt sich durchaus keine Grenze der Erkenntniss setzen, welche der Mensch bei weiter fortschreitender Geistesbildung nicht würde überschreiten können. Auch der menschliche Geist geniesst also nach dem Gesetze der unbeschränkten Anpassung eine unendliche Perspective für seine Vervollkommnung in der Zukunft. Aus dieser Erwägung ergiebt sich die Grundlosigkeit des bekannten »Ignorabimus«, welches der Berliner Physiologe Du Bois-Reymond 1873 in seiner berühmten Rede »über die Grenzen des Naturerkennens« dem Fortschritte der Wissenschaft unberechtigter Weise entgegen gehalten hat. Ich habe gegen dieses berüchtigte »Ignorabimus«, das der klerikale Obscurantismus zu seinem Losungswort erhoben hat, schon im Vorworte zu meiner Anthropogenie (1874) Protest eingelegt 56), und nicht minder in meiner Schrift über »Freie Wissenschaft und freie Lehre« 51).

Diese Bemerkungen genügen wohl, um die Tragweite der Anpassungs-Erscheinungen hervorzuheben und ihnen das grösste Gewicht zuzuschreiben. Die Anpassungs-Gesetze sind von ebenso grosser Bedeutung, wie die Vererbungs-Gesetze. Alle Anpassungs-Erscheinungen lassen sich in letzter Linie zurückführen auf die Ernährungs-Verhältnisse des Organismus, in gleicher Weise wie die Vererbungs-Erscheinungen in den Fortpflanzungs-Verhältnissen begründet sind; diese aber sowohl als jene sind weiter zurückzuführen auf chemische und physikalische Gründe, also auf mechanische Ursachen. Lediglich durch die Wechselwirkung derselben entstehen nach Darwin's Selections-Theorie die Umbildungen der Organismen, welche die künstliche Züchtung im Cultur-Zustande, die natürliche Züchtung im Natur-Zustande hervorbringt.


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