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Elfter Vortrag.

Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Dasein. Cellular-Selection und Personal-Selection.

Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Vererbung und Anpassung. Natürliche und künstliche Züchtung. Kampf um's Dasein oder Wettkampf um die Lebensbedürfnisse. Missverhältniss zwischen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechselbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweise der natürlichen Züchtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Ursache der sympathischen Färbungen. Geschlechtliche Zuchtwahl als Ursache der secundären Sexual-Charaktere. Der Kampf der Theile im Organismus (nach Roux). Functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Structur. Teleologische Mechanik. Cellular-Selection (Protisten) und Personal-Selection (Histonen). Zuchtwahl der Zellen und der Gewebe. Das Selections-Princip bei Empedocles. Mechanische Entstehung des Zweckmässigen aus dem Unzweckmässigen. Philosophische Tragweite des Darwinismus.

 

Meine Herren! Um zu einem richtigen Verständniss des Darwinismus zu gelangen, ist es vor Allem nothwendig, die beiden organischen Functionen genau in das Auge zu fassen, die wir in den letzten Vorträgen betrachtet haben, die Vererbung und Anpassung. Wenn man nicht einerseits die rein mechanische Natur dieser beiden physiologischen Thätigkeiten und die mannichfaltige Wirkung ihrer verschiedenen Gesetze in's Auge fasst, und wenn man nicht andrerseits erwägt, wie verwickelt die Wechselwirkung dieser verschiedenen Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze nothwendig sein muss, so wird man nicht begreifen, dass diese beiden Functionen für sich allein die ganze Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzen-Formen sollen erzeugt haben; und doch ist das in der That der Fall. Wir sind wenigstens bis jetzt nicht im Stande gewesen, andere formbildende Ursachen aufzufinden, als diese beiden; und wenn wir die nothwendige und unendlich verwickelte Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung richtig verstehen, so haben wir auch gar nicht mehr nöthig, noch nach anderen unbekannten Ursachen der Umbildung der organischen Gestalten zu suchen. Jene beiden Grundursachen erscheinen uns dann völlig genügend.

Schon früher, lange bevor Darwin seine Selections-Theorie aufstellte, nahmen einige Naturforscher, insbesondere Goethe, als Ursache der organischen Formen-Mannichfaltigkeit die Wechselwirkung zweier verschiedener Bildungstriebe an, eines conservativen oder erhaltenden, und eines umbildenden oder fortschreitenden Bildungstriebes. Ersteren nannte Goethe den centripetalen oder Specifications-Trieb, letzteren den centrifugalen oder den Trieb der Metamorphose (S. 81). Diese beiden Triebe entsprechen vollständig den beiden Functionen der Vererbung und der Anpassung. Die Vererbung ist die centripetale oder innere Bildungskraft; durch sie werden die organischen Formen in ihrer Art erhalten, die Nachkommen den Eltern gleich gestaltet, und Generationen hindurch immer Gleichartiges erzeugt. Die Anpassung dagegen, welche der Vererbung entgegenwirkt, ist die centrifugale oder äussere Bildungskraft; durch die veränderlichen Einflüsse der Aussenwelt werden die organischen Formen umgebildet, neue Formen aus den vorhandenen geschaffen, und die Constanz der Species, die Beständigkeit der Art, schliesslich aufgehoben. Je nachdem die Vererbung oder die Anpassung das Uebergewicht erhält, bleibt die Species-Form beständig oder sie bildet sich in eine neue Art um. Der in jedem Augenblick stattfindende Grad der Formbeständigkeit bei den verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten ist einfach das nothwendige Resultat des augenblicklichen Uebergewichts, welches die eine dieser beiden Bildungskräfte oder physiologischen Functionen über die andere erlangt hat.

Wenn wir nun zurückkehren zu der Betrachtung des Züchtungs-Vorganges, der Auslese oder Selection, die wir bereits im siebenten Vortrag in ihren Grundzügen untersuchten, so werden wir jetzt um so klarer und bestimmter erkennen, dass sowohl die künstliche als die natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechselwirkung dieser beiden formbildenden Kräfte oder Functionen beruhen. Wenn Sie die Thätigkeit des künstlichen Züchters, des Landwirths oder Gärtners, scharf in's Auge fassen, so erkennen Sie, dass nur jene beiden Bildungskräfte von ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze Wirkung der künstlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden und vernünftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze, auf einer kunstvollen und planmässigen Benutzung und Regulirung derselben. Dabei ist der vervollkommnete menschliche Wille die auslesende, züchtende Kraft.

Ganz ähnlich verhält sich die natürliche Züchtung. Auch diese benutzt bloss jene beiden organischen Bildungskräfte, die physiologischen Functionen der Anpassung und Vererbung, um die verschiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende Princip aber, diejenige auslesende Kraft, welche bei der künstlichen Züchtung durch den planmässig wirkenden und bewussten Willen des Menschen vertreten wird, ist bei der natürlichen Züchtung der planlos wirkende und unbewusste Kampf um's Dasein. Was wir unter »Kampf um's Dasein« verstehen, haben wir im siebenten Vortrage bereits auseinandergesetzt. Gerade die Erkenntniss seiner Bedeutung ist eines der grössten Verdienste Darwin's. Da aber dieses Verhältniss sehr häufig unvollkommen oder falsch verstanden wird, ist es nothwendig, dasselbe jetzt noch näher in's Auge zu fassen, und an einigen Beispielen die Wirksamkeit des Kampfes um's Dasein und seinen Antheil an der natürlichen Züchtung zu erläutern.

Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um's Dasein von der Thatsache aus, dass die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel grösser ist, als die Zahl der Individuen, welche wirklich in das Leben treten und sich längere oder kürzere Zeit am Leben erhalten können. Die meisten Organismen erzeugen während ihres Lebens Tausende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem sich unter günstigen Umständen ein neues Individuum entwickeln könnte. Bei den meisten Thieren und Pflanzen sind diese Keime echte Eier, d. h. Zellen, welche zu ihrer weiteren Entwicklung der geschlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen pflanzen sich viele Protisten, viele von jenen einzelligen niedersten Organismen, welche weder echte Thiere noch Pflanzen sind, bloss ungeschlechtlich fort; ihre Keimzellen oder Sporen bedürfen keiner Befruchtung. In allen Fällen steht die Zahl sowohl dieser ungeschlechtlichen als jener geschlechtlichen Keime in gar keinem Verhältniss zu der relativ geringen Zahl der wirklich lebenden Individuen.

Im Grossen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der lebenden Thiere und Pflanzen auf unserer Erde durchschnittlich fast dieselbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt ist beschränkt, und an den meisten Punkten der Erdoberfläche sind diese Stellen immer annähernd besetzt. Gewiss finden überall in jedem Jahre Schwankungen in der absoluten und in der relativen Individuenzahl aller Arten statt. Allein im Grossen und Ganzen genommen werden diese Schwankungen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatsache, dass die Gesammtzahl aller Individuen durchschnittlich beinahe constant bleibt. Der Wechsel, der überall stattfindet, besteht darin, dass in einem Jahre diese und im anderen Jahre jene Reihe von Thieren und Pflanzen überwiegt, und dass in jedem Jahre der Kampf um's Dasein dieses Verhältniss wieder etwas anders gestaltet.

Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn sie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüssen zu kämpfen hätte. Schon Linné berechnete, dass, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen hervorbrächte (und es giebt keine, die so wenig erzeugt), sie in 20 Jahren schon eine Million Individuen geliefert haben würde. Darwin berechnete vom Elephanten, der sich am langsamsten von allen Thieren zu vermehren scheint, dass in 500 Jahren die Nachkommenschaft eines einzigen Paares bereits 15 Millionen Individuen betragen würde, vorausgesetzt, dass jeder Elephant während der Zeit seiner Fruchtbarkeit (vom 30. bis 90. Jahre) nur drei Paar Junge erzeugte.

Ebenso würde die Zahl der Menschen, wenn man die mittlere Fortpflanzungs-Zahl zu Grunde legt, und wenn keine Hindernisse der natürlichen Vermehrung im Wege stünden, bereits in 25 Jahren sich verdoppelt haben. In jedem Jahrhundert würde die Gesammtzahl der menschlichen Bevölkerung um das sechszehnfache gestiegen sein. Nun wächst aber bekanntlich die Gesammtzahl der Menschen nur sehr langsam und die Zunahme der Bevölkerung ist in verschiedenen Gegenden verschieden. Während europäische Stämme sich über den ganzen Erdball ausbreiten, gehen andere Stämme zu Grunde; ja sogar ganze Arten oder Species des Menschengeschlechts gehen mit jedem Jahre mehr ihrem völligen Aussterben entgegen. Dies gilt namentlich von den Rothhäuten Amerikas und ebenso von den schwarzbraunen Eingeborenen Australiens. Selbst wenn diese Völker sich reichlicher fortpflanzten, als die weisse Menschenart Europas, würden sie dennoch früher oder später der letzteren im Kampfe um's Dasein erliegen. Von allen menschlichen Individuen aber, ebenso wie von allen übrigen Organismen, geht bei weitem die überwiegende Mehrzahl in der frühesten Lebenszeit zu Grunde. Von der ungeheuren Masse von Keimen, die jede Art erzeugt, gelangen nur sehr wenige wirklich zur Entwickelung, und von diesen wenigen ist es wieder nur ein ganz kleiner Bruchtheil, welcher das Alter erreicht, in dem er sich fortpflanzen kann. (Vergl. S. 145.)

Aus diesem Missverhältniss zwischen der ungeheuren Ueberzahl der organischen Keime und der geringen Anzahl von auserwählten Individuen, die wirklich neben und mit einander fortbestehen können, folgt mit Nothwendigkeit jener allgemeine Kampf um's Dasein, jenes beständige Ringen um die Existenz, jener unaufhörliche Wettkampf um die Lebensbedürfnisse, von welchem ich Ihnen bereits im siebenten Vortrage ein Bild entwarf. Jener Kampf um's Dasein ist es, welcher die natürliche Zuchtwahl ausübt, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung züchtend benutzt und dadurch an einer beständigen Umbildung aller organischen Formen arbeitet. Immer werden in jenem Kampf um die Erlangung der nothwendigen Existenz-Bedingungen diejenigen Individuen ihre Nebenbuhler besiegen, welche irgend eine individuelle Begünstigung, irgend eine vortheilhafte Eigenschaft besitzen, die ihren Mitbewerbern fehlt.

Freilich können wir nur in den wenigsten Fällen, nur bei näher bekannten Thieren und Pflanzen, uns eine ungefähre Vorstellung von der unendlich complicirten Wechselwirkung der zahlreichen Verhältnisse machen, welche alle hierbei in Frage kommen. Denken Sie nur daran, wie unendlich mannichfaltig und verwickelt die Beziehungen jedes einzelnen Menschen zu den übrigen und überhaupt zu der ihn umgebenden Aussenwelt sind. Aehnliche Beziehungen walten aber auch zwischen allen Thieren und Pflanzen, die an einem Orte mit einander leben. Alle wirken gegenseitig, activ oder passiv, auf einander ein. Jedes Thier kämpft, wie jede Pflanze, direct mit einer Anzahl von Feinden, insbesondere mit Raubthieren und Parasiten. Die zusammenstehenden Pflanzen kämpfen mit einander um den Bodenraum, den ihre Wurzeln bedürfen, um die nothwendige Menge von Licht, Luft, Feuchtigkeit u. s. w. Ebenso ringen die Thiere eines jeden Bezirks mit einander um ihre Nahrung, Wohnung u. s. w. In diesem äusserst lebhaften und verwickelten Kampf wird jeder noch so kleine persönliche Vorzug, jeder individuelle Vortheil möglicherweise den Ausschlag zu Gunsten seines Besitzers geben. Dieses bevorzugte einzelne Individuum bleibt im Kampfe Sieger und pflanzt sich fort, während seine Mitbewerber zu Grunde gehen, ehe sie zur Fortpflanzung gelangen. Der persönliche Vorzug, welcher ihm den Sieg verlieh, wird auf seine Nachkommen vererbt, und kann durch weitere Befestigung und Vervollkommnung die Ursache zur Bildung einer neuen Art werden.

Die unendlich verwickelten Wechselbeziehungen, welche zwischen den Organismen eines jeden Bezirks bestehen, und welche als die eigentlichen Bedingungen des Kampfes um's Dasein angesehen werden müssen, sind uns grösstentheils unbekannt und meistens auch sehr schwierig zu erforschen. Nur in einzelnen Fällen haben wir dieselben bisher zu einem gewissen Grade verfolgen können, so z. B. in dem von Darwin angeführten Beispiel von den Beziehungen der Katzen zum rothen Klee in England. Die rothe Kleeart (Trifolium pratense), welche in England eines der vorzüglichsten Futterkräuter für das Rindvieh bildet, bedarf, um zur Samenbildung zu gelangen, des Besuchs der Hummeln. Indem diese Insecten den Honig aus dem Grunde der Kleeblüthe saugen, bringen sie den Blüthenstaub mit der Narbe in Berührung und vermitteln so die Befruchtung der Blüthe, welche ohne sie niemals erfolgt. Darwin hat durch Versuche gezeigt, dass rother Klee, den man von dem Besuche der Hummeln absperrt, keinen einzigen Samen liefert. Die Zahl der Hummeln ist bedingt durch die Zahl ihrer Feinde, unter denen die Feldmäuse die verderblichsten sind. Je mehr die Feldmäuse überhand nehmen, desto weniger wird der Klee befruchtet. Die Zahl der Feldmäuse ist wiederum von der Zahl ihrer Feinde abhängig, zu denen namentlich die Katzen gehören. Daher giebt es in der Nähe der Dörfer und Städte, wo viele Katzen gehalten werden, besonders viel Hummeln. Eine grosse Zahl von Katzen ist also offenbar von grossem Vortheil für die Befruchtung des Klees. Man kann nun, wie es von Karl Vogt geschehen ist, an dieses Beispiel noch weitere Erwägungen anknüpfen. Denn das Rindvieh, welches sich von dem rothen Klee nährt, ist eine der wichtigsten Grundlagen des Wohlstandes von England. Die Engländer conserviren ihre körperlichen und geistigen Kräfte vorzugsweise dadurch, dass sie sich grösstentheils von trefflichem Fleisch, namentlich ausgezeichnetem Rostbeaf und Beafsteak nähren. Dieser vorzüglichen Fleischnahrung verdanken die Britten zum grossen Theil das Uebergewicht ihres Gehirns und Geistes über die anderen Nationen. Offenbar ist dieses aber indirect abhängig von den Katzen, welche die Feldmäuse verfolgen. Man kann auch mit Huxley auf die alten Jungfern zurückgehen, welche vorzugsweise die Katzen hegen und pflegen und somit für die Befruchtung des Klees und den Wohlstand Englands von hoher Wichtigkeit sind. An diesem Beispiel können Sie erkennen, dass, je weiter man dasselbe verfolgt, desto grösser der Kreis der Wirkungen und der Wechselbeziehungen wird. Man kann aber mit Bestimmtheit behaupten, dass bei jeder Pflanze und bei jedem Thiere eine Masse solcher Wechselbeziehungen existiren. Nur sind wir selten im Stande, die Kette derselben so herzustellen, und im Zusammenhang zu übersehen, wie es hier wenigstens annähernd der Fall ist.

Ein anderes merkwürdiges Beispiel von wichtigen Wechselbeziehungen ist nach Darwin folgendes: In Paraguay finden sich keine verwilderten Rinder und Pferde, wie in den benachbarten Theilen Süd-Amerikas, nördlich und südlich von Paraguay. Dieser auffallende Umstand erklärt sich einfach dadurch, dass in diesem Lande eine kleine Fliege sehr häufig ist, welche die Gewohnheit hat, ihre Eier in den Nabel der neugeborenen Rinder und Pferde zu legen. Die neugeborenen Thiere sterben in Folge dieses Eingriffs, und jene kleine gefürchtete Fliege ist also die Ursache, dass die Rinder und Pferde in diesem District niemals verwildern. Angenommen, dass durch irgend einen insectenfressenden Vogel jene Fliege zerstört würde, so würden in Paraguay ebenso wie in den benachbarten Theilen Süd-Amerikas diese grossen Säugethiere massenhaft verwildern, und da dieselben eine Menge von bestimmten Pflanzenarten verzehren, würde die ganze Flora, und in Folge davon wiederum die ganze Fauna dieses Landes eine andere werden. Dass dadurch zugleich auch die ganze Oekonomie und somit der Charakter der menschlichen Bevölkerung sich ändern würde, braucht nicht erst gesagt zu werden. Aehnliches gilt von der Tse-Tse-Fliege in Africa.

So kann das Gedeihen oder selbst die Existenz ganzer Völkerschaften durch eine einzige kleine, an sich höchst unbedeutende Thier- oder Pflanzen-Form indirect bedingt werden. Es giebt kleine oceanische Inseln, deren menschliche Bewohner wesentlich nur von einer Palmenart leben. Die Befruchtung dieser Palme wird vorzüglich durch Insecten vermittelt, die den Blüthenstaub von den männlichen auf die weiblichen Palmbäume übertragen. Die Existenz dieser nützlichen Insecten wird durch insectenfressende Vögel gefährdet, die ihrerseits wieder von Raubvögeln verfolgt werden. Die Raubvögel aber unterliegen oft dem Angriffe einer kleinen parasitischen Milbe, die sich zu Millionen in ihrem Federkleide entwickelt. Dieser kleine gefährliche Parasit kann wiederum durch parasitische Pilze getödtet werden. Pilze, Raubvögel und Insecten würden in diesem Falle das Gedeihen der Palmen und somit der Menschen begünstigen, Vogelmilben und insectenfressende Vögel dagegen gefährden.

Interessante Beispiele für die Veränderung der Wechselbeziehungen im Kampf um's Dasein liefern auch jene isolirten und von Menschen unbewohnten oceanischen Inseln, auf denen zu verschiedenen Malen von Seefahrern Ziegen oder Schweine ausgesetzt wurden. Diese Thiere verwilderten und nahmen an Zahl aus Mangel an Feinden bald so übermässig zu, dass die ganze übrige Thier- und Pflanzen-Bevölkerung darunter litt, und dass schliesslich die Insel beinahe verödete, weil den zu massenhaft sich vermehrenden grossen Säugethieren die hinreichende Nahrung fehlte. In einigen Fällen wurden auf einer solchen von Ziegen oder Schweinen übervölkerten Insel später von anderen Seefahrern ein Paar Hunde ausgesetzt, die sich in diesem Futterüberfluss sehr wohl befanden, sich wieder sehr rasch vermehrten und furchtbar unter den Heerden aufräumten, so dass nach einer Anzahl von Jahren den Hunden selbst das Futter fehlte, und auch sie beinahe ausstarben. So wechselt beständig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere Art sich auf Kosten der übrigen vermehrt.

In den meisten Fällen sind freilich die Beziehungen der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als dass wir ihnen nachkommen könnten, und ich überlasse es Ihrem eigenen Nachdenken, sich auszumalen, welches unendlich verwickelte Getriebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieses Kampfes stattfinden muss. In letzter Instanz sind die Triebfedern, welche den Kampf bedingen, und welche den Kampf an allen verschiedenen Stellen verschieden gestalten und modificiren, die Triebfedern der Selbsterhaltung, und zwar sowohl der Erhaltungstrieb der Individuen (Ernährungstrieb), als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Diese beiden Grundtriebe der organischen Selbsterhaltung sind es, von denen sogar Schiller, der Idealist (nicht Goethe, der Realist!) sagt:

»Einstweilen bis den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Erhält sich ihr Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe,«

Diese beiden mächtigen Grundtriebe sind es, welche durch ihre verschiedene Ausbildung in den verschiedenen Arten den Kampf um's Dasein so ungemein mannichfaltig gestalten, und welche den Erscheinungen der Vererbung und Anpassung zu Grunde liegen. Wir konnten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpassung auf die Ernährung als die materielle Grundursache zurückführen.

Der Kampf um's Dasein wirkt bei der natürlichen Züchtung ebenso züchtend oder auslesend, wie der Wille des Menschen bei der künstlichen Züchtung. Aber dieser wirkt planmässig und bewusst, jener planlos und unbewusst. Dieser wichtige Unterschied zwischen der künstlichen und natürlichen Züchtung verdient besondere Beachtung. Denn wir lernen hierdurch verstehen, warum zweckmässige Einrichtungen ebenso durch zwecklos wirkende mechanische Ursachen, wie durch zweckmässig thätige Endursachen erzeugt werden können. Die Produkte der natürlichen Züchtung sind ebenso und noch mehr zweckmässig eingerichtet, wie die Kunstprodukte des Menschen, und dennoch verdanken sie ihre Entstehung nicht einer zweckmässig thätigen Schöpferkraft, sondern einem unbewusst und planlos wirkenden mechanischen Verhältniss. Wenn man nicht tiefer über die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung unter dem Einfluss des Kampfes um's Dasein nachgedacht hat, so kann man nicht solche Erfolge von diesem natürlichen Züchtungsprozess erwarten, wie derselbe in der That liefert. Es ist daher wohl angemessen, hier ein Paar besonders einleuchtende Beispiele von der Wirksamkeit der natürlichen Züchtung anzuführen.

Lassen Sie uns zunächst die von Darwin hervorgehobene gleichfarbige Zuchtwahl oder die sogenannte »sympathische Farbenwahl« der Thiere betrachten. Schon frühere Naturforscher haben es sonderbar gefunden, dass zahlreiche Thiere im Grossen und Ganzen dieselbe Färbung zeigen wie der Wohnort, oder die Umgebung, in der sie sich beständig aufhalten. So sind z. B. die Blattläuse und viele andere auf Blättern lebende Insecten grün gefärbt. Die Wüstenbewohner: Springmäuse, Wüstenfüchse, Gazellen, Löwen u. s. w. sind meist gelb oder gelblichbraun gefärbt, wie der Sand der Wüste. Die Polarthiere, welche auf Eis und Schnee leben, sind weiss oder grau, wie Eis und Schnee. Viele von diesen ändern ihre Färbung im Sommer und Winter. Im Sommer, wenn der Schnee theilweis vergeht, wird das Fell dieser Polarthiere graubraun oder schwärzlich wie der nackte Erdboden, während es im Winter wieder weiss wird. Schmetterlinge und Kolibris, welche die bunten, glänzenden Blüthen umschweben, gleichen diesen in der Färbung. Darwin erklärt nun diese auffallende Thatsache ganz einfach dadurch, dass eine solche Färbung, die mit der des Wohnortes übereinstimmt, den betreffenden Thieren von grösstem Nutzen ist. Wenn diese Thiere Raubthiere sind, so werden sie sich dem Gegenstand ihres Appetits viel sicherer und unbemerkter nähern können, und ebenso werden die von ihnen verfolgten Thiere viel leichter entfliehen können, wenn sie sich in der Färbung möglichst wenig von ihrer Umgebung unterscheiden. Wenn also ursprünglich eine Thierart in allen Farben variirte, so werden diejenigen Individuen, deren Farbe am meisten derjenigen ihrer Umgebung glich, im Kampf um's Dasein am meisten begünstigt gewesen sein. Sie blieben unbemerkter, erhielten sich und pflanzten sich fort, während die anders gefärbten Individuen oder Spielarten ausstarben.

Aus derselben gleichfarbigen Zuchtwahl habe ich in meiner »generellen Morphologie« versucht, die merkwürdige Wasserähnlichkeit der pelagischen Glasthiere zu erklären, die wunderbare Thatsache, dass die Mehrzahl der pelagischen Thiere, d. h. derer, welche an der Oberfläche der offenen See leben, bläulich oder ganz farblos und glasartig durchsichtig ist, wie das Wasser selbst. Solche farblose, glasartige Thiere kommen in den verschiedensten Klassen vor. Es gehören dahin unter den Fischen die Helmichthyiden, durch deren glashellen Körper hindurch man die Schrift eines Buches lesen kann; unter den Weichthieren die Flossen-Schnecken und Kiel-Schnecken; unter den Würmern die Alciope und Sagitta; unter den Mantelthieren die Salpen und Seetönnchen, ferner sehr zahlreiche pelagische Krebsthiere (Crustaceen) und der grösste Theil der Medusen (Schirm-Quallen, Kamm-Quallen u. s. w.). Alle diese pelagischen Thiere, welche an der Oberfläche des offenen Meeres schwimmen, sind glasartig durchsichtig und farblos, wie das Wasser selbst, während ihre nächsten Verwandten, die auf dem Grunde des Meeres leben, gefärbt und undurchsichtig wie die Landbewohner sind. Auch diese merkwürdige Thatsache lässt sich ebenso wie die sympathische Färbung der Landbewohner durch die natürliche Züchtung erklären. Unter den Voreltern der pelagischen Glasthiere, welche einen verschiedenen Grad von Farblosigkeit und Durchsichtigkeit zeigten, werden diejenigen, welche am meisten farblos und durchsichtig waren, offenbar in dem lebhaften Kampf um's Dasein, der an der Meeres-Oberfläche stattfindet, am meisten begünstigt gewesen sein. Sie konnten sich ihrer Beute am leichtesten unbemerkt nähern, und wurden selbst von ihren Feinden am wenigsten bemerkt. So konnten sie sich leichter erhalten und fortpflanzen, als ihre mehr gefärbten und undurchsichtigen Verwandten; schliesslich erreichte dann, durch gehäufte Anpassung und Vererbung, durch natürliche Auslese im Laufe vieler Generationen, der Körper denjenigen Grad von glasartiger Durchsichtigkeit und Farblosigkeit, den wir gegenwärtig an den zahlreichen pelagischen Glasthieren bewundern.

Nicht minder interessant und lehrreich, als die gleichfarbige Zuchtwahl, ist diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche Darwin die sexuelle oder geschlechtliche Zuchtwahl nennt; durch sie wird besonders die Entstehung der sogenannten »secundären Sexual-Charaktere« erklärt. Wir haben diese untergeordneten Geschlechts-Charaktere, die in so vieler Beziehung lehrreich sind, schon früher erwähnt; wir verstanden darunter solche Eigenthümlichkeiten der Thiere und Pflanzen, welche bloss einem der beiden Geschlechter zukommen, und welche nicht in unmittelbarer Beziehung zu der Fortpflanzungs-Thätigkeit selbst stehen. (Vergl. oben S. 188.) Solche secundäre Geschlechts-Charaktere kommen in grosser Mannichfaltigkeit bei höheren Thieren vor. Sie wissen Alle, wie auffallend sich bei vielen Vögeln und Schmetterlingen die beiden Geschlechter durch Grösse und Färbung unterscheiden. Meistens ist hier das Männchen das grössere und schönere Geschlecht. Oft besitzt dasselbe besondere Zierrathe oder Waffen, wie z. B. der Sporn und Federkragen des Hahns, das Geweih der männlichen Hirsche und Rehe u. s. w. Alle diese Eigenthümlichkeiten des einen Geschlechts haben mit der Fortpflanzung selbst, welche durch die »primären Sexual-Charaktere«, die eigentlichen Geschlechts-Organe, vermittelt wird, unmittelbar Nichts zu thun.

Die Entstehung dieser merkwürdigen »secundären Sexual-Charaktere« erklärt nun Darwin einfach durch die Auslese oder Selection, welche bei der Fortpflanzung der Thiere geschieht. Bei den meisten Thieren ist die Zahl der Individuen beiderlei Geschlechts mehr oder weniger ungleich; entweder ist die Zahl der weiblichen oder die der männlichen Individuen grösser, und wenn die Fortpflanzungs-Zeit herannaht, findet in der Regel ein Kampf zwischen den betreffenden Nebenbuhlern um Erlangung der Thiere des anderen Geschlechts statt. Es ist bekannt, mit welcher Kraft und Heftigkeit gerade bei den höchsten Thieren, bei den Säugethieren und Vögeln, besonders bei den in Polygamie lebenden, dieser Kampf gefochten wird. Bei den Hühner-Vögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Hennen kommen, findet zur Erlangung eines möglichst grossen Harems ein lebhafter Kampf zwischen den mitbewerbenden Hähnen statt. Dasselbe gilt von vielen Wiederkäuern. Bei den Hirschen und Rehen z. B. entstehen zur Zeit der Fortpflanzung gefährliche Kämpfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen. Der secundäre Sexual-Charakter, welcher hier die Männchen auszeichnet, das Geweih der Hirsche und Rehe, das den Weibchen fehlt, ist nach Darwin die Folge jenes Kampfes. Hier ist also nicht, wie beim Kampf um die individuelle Existenz, die Selbsterhaltung, sondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung, das Motiv und die bestimmende Ursache des Kampfes. Es giebt eine ganze Menge von Waffen, die in dieser Weise von den Thieren erworben wurden, sowohl passive Schutzwaffen als active Angriffswaffen. Eine solche Schutzwaffe ist zweifelsohne die Mähne des Löwen, die dem Weibchen abgeht; sie ist bei den Bissen, die die männlichen Löwen sich am Halse beizubringen suchen, wenn sie um die Weibchen kämpfen, ein tüchtiges Schutzmittel; und daher sind die mit der stärksten Mähne versehenen Männchen in dem sexuellen Kampfe am Meisten begünstigt. Eine ähnliche Schutzwaffe ist die Wamme des Stiers und der Federkragen des Hahns. Active Angriffswaffen sind dagegen das Geweih des Hirsches, der Hauzahn des Ebers, der Sporn des Hahns und der entwickelte Oberkiefer des männlichen Hirschkäfers; alles Instrumente, welche beim Kampfe der Männchen um die Weibchen zur Vernichtung oder Vertreibung der Nebenbuhler dienen.

In den letzterwähnten Fällen sind es die unmittelbaren Vernichtungs-Kämpfe der Nebenbuhler, welche die Entstehung des secundären Sexual-Charakters bedingen. Ausser diesen unmittelbaren Vernichtungs-Kämpfen sind aber bei der geschlechtlichen Auslese auch die mehr mittelbaren Wettkämpfe von grosser Wichtigkeit, welche auf die Nebenbuhler nicht minder umbildend einwirken. Diese bestehen vorzugsweise darin, dass das werbende Geschlecht dem anderen zu gefallen sucht: durch äusseren Putz, durch Schönheit, oder durch eine melodische Stimme. Unzweifelhaft ist die schöne Stimme der Singvögel wesentlich auf diesem Wege entstanden. Bei vielen Vögeln findet ein wirklicher Sängerkrieg zwischen den Männchen statt, die um den Besitz der Weibchen kämpfen. Von mehreren Singvögeln weiss man, dass zur Zeit der Fortpflanzung die Männchen sich zahlreich vor den Weibchen versammeln und vor ihnen ihren Gesang erschallen lassen, und dass dann die Weibchen denjenigen Sänger, welcher ihnen am besten gefällt, zu ihrem Gemahl erwählen. Bei anderen Singvögeln lassen die einzelnen Männchen in der Einsamkeit des Waldes ihren Gesang ertönen, um die Weibchen anzulocken, und diese folgen dem anziehendsten Locktone. Ein ähnlicher musikalischer Wettkampf, der allerdings weniger melodisch ist, findet bei den Cikaden und Heuschrecken statt. Bei den Cikaden hat das Männchen am Unterleib zwei trommelartige Instrumente und erzeugt damit die scharfen zirpenden Töne, welche die alten Griechen seltsamer Weise als schöne Musik priesen. Bei den Heuschrecken bringen die Männchen, theils indem sie die Hinterschenkel wie Violinbogen an den Flügeldecken reiben, theils durch Reiben der Flügeldecken an einander, Töne hervor, die für uns allerdings nicht melodisch sind, die aber den weiblichen Heuschrecken so gut gefallen, dass sie die am besten geigenden Männchen sich aussuchen.

Bei anderen Insecten und Vögeln ist es nicht der Gesang oder überhaupt die musikalische Leistung, sondern der Putz oder die Schönheit des einen Geschlechts, welches das andere anzieht. So finden wir, dass bei den meisten Hühnervögeln die Hähne durch Hautlappen auf dem Kopfe sich auszeichnen, oder durch einen schönen Schweif, den sie radartig ausbreiten, wie z. B. der Pfau und der Truthahn. Auch der prachtvolle Schweif des Paradiesvogels ist eine ausschliessliche Zierde des männlichen Geschlechts. Ebenso zeichnen sich bei sehr vielen anderen Vögeln und bei sehr vielen Insecten, namentlich Schmetterlingen, die Männchen durch besondere Farben oder andere Zierden vor den Weibchen aus. Offenbar sind dieselben Produkte der sexuellen Züchtung. Da den Weibchen diese Reize und Verzierungen fehlen, so müssen wir schliessen, dass dieselben von den Männchen im Wettkampf um die Weibchen erst allmählig erworben worden sind, wobei die Weibchen auslesend wirkten.

Die Anwendung dieses interessanten Schlusses auf die menschliche Gesellschaft können Sie sich selbst leicht im Einzelnen ausmalen. Offenbar sind auch hier dieselben Ursachen bei der Ausbildung der secundären Sexual-Charaktere wirksam gewesen. Ebensowohl die Vorzüge, welche den Mann, als diejenigen, welche das Weib auszeichnen, verdanken ihren Ursprung ganz gewiss grösstentheils der sexuellen Auslese des anderen Geschlechts. Im Alterthum und im Mittelalter, besonders in der romantischen Ritterzeit, waren es die unmittelbaren Vernichtungs-Kämpfe, die Turniere und Duelle, welche die Brautwahl vermittelten; der Stärkere führte die Braut heim. In neuerer Zeit dagegen sind die mittelbaren Wettkämpfe der Nebenbuhler beliebter, welche mittelst musikalischer Leistungen, Spiel und Gesang, oder mittelst körperlicher Reize, natürlicher Schönheit oder künstlichen Putzes, in unseren sogenannten »feinen« und »hochcivilisirten« Gesellschaften ausgekämpft werden. Bei weitem am Wichtigsten aber von diesen verschiedenen Formen der Geschlechtswahl des Menschen ist die am meisten veredelte Form derselben, nämlich die psychische Auslese, bei welcher die geistigen Vorzüge des einen Geschlechts bestimmend auf die Wahl des anderen einwirken. Indem der am höchsten veredelte Kulturmensch sich bei der Wahl der Lebensgefährtin Generationen hindurch von den Seelenvorzügen derselben leiten liess, und diese auf die Nachkommenschaft vererbte, half er mehr, als durch vieles Andere, die tiefe Kluft schaffen, welche ihn gegenwärtig von den rohesten Naturvölkern und von unseren gemeinsamen thierischen Voreltern trennt. Ueberhaupt ist die Rolle, welche die gesteigerte sexuelle Zuchtwahl, und ebenso die Rolle, welche die vorgeschrittene Arbeitstheilung zwischen beiden Geschlechtern beim Menschen spielt, höchst bedeutend; und ich glaube, dass hierin eine der mächtigsten Ursachen zu suchen ist, welche die phylogenetische Entstehung und die historische Entwickelung des Menschengeschlechts bewirkten. Darwin hat in seinem 1871 erschienenen, höchst interessanten Werke über »die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« 48) diesen Gegenstand in der geistreichsten Weise erörtert und durch die merkwürdigsten Beispiele erläutert.

Die ausserordentlich hohe Bedeutung, welche der Kampf um's Dasein und die durch ihn bewirkte natürliche Zuchtwahl für die Entwickelung der organischen Welt besitzen, ist im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte, seit Darwin's Entdeckung derselben, immer mehr anerkannt worden. Allein gewöhnlich denkt man dabei nur an die Lebens- und Bildungs-Verhältnisse der selbstständigen Einzelwesen. Nicht weniger wichtig aber, ja im Grunde noch von viel höherer und allgemeinerer Bedeutung, ist der Kampf um's Dasein, welcher überall und jederzeit zwischen allen Form-Bestandtheilen dieser Einzelwesen stattfindet; die Umbildung dieser letzteren ist ja eigentlich erst das Gesammt-Ergebniss aus der besonderen Entwickelung aller ihrer Bestandtheile.

Darwin selbst ist auf diese elementaren Structur-Umbildungen nicht näher eingegangen. Die erste umfassende Darstellung und kritische Beleuchtung derselben hat 1881 Professor Wilhelm Roux in Breslau gegeben, in seinem ausgezeichneten Werke: »Der Kampf der Theile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeits-Lehre« 23). Ich halte diese Schrift für einen der wichtigsten Beiträge zur Entwickelungs-Lehre, welche seit Darwin's Hauptwerk (1859) erschienen sind und für eine der wesentlichsten Ergänzungen seiner Selections-Theorie. Im ersten Abschnitt erörtert Roux die functionelle Anpassung der einzelnen Organe und die Erblichkeit ihrer Wirkungen, insbesondere die functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Structur, als eine nothwendige Wirkung des vermehrten oder verminderten Gebrauches (vergl. oben S.227). Im zweiten Abschnitt wird der Kampf der Theile im Organismus selbst näher untersucht, und gezeigt, wie aus der Ungleichheit der Theile, aus den ungleichen Verhältnissen ihrer Thätigkeit und Ernährung, ihres Stoffwechsels und Wachsthums, nothwendig von selbst ein Kampf derselben um's Dasein folgen muss; und zwar gilt dies ganz ebenso von den einzelnen Organen und den sie zusammensetzenden Geweben, als von den einzelnen Zellen, welche die Organe zusammensetzen, und schliesslich selbst von den activen Molekeln, welche das Plasma der Zellen und ihrer Kerne zusammensetzen (Plastidulen oder Micellen). Von grösster Bedeutung ist hierbei die Wechsel-Beziehung zwischen der Arbeitsleistung (oder physiologischen Function) jedes einzelnen Theiles und seiner Ernährung; indem jeder functionelle Reiz auf den Stoffwechsel des thätigen Theiles zurückwirkt und somit eine »trophische Wirkung« ausübt, bewirkt er zugleich Veränderungen in seiner Form und Structur (oder morphologische Differenzirungen). Es lässt sich somit, wie ich schon 1866 in meiner generellen Morphologie behauptet hatte, die Anpassung im weitesten Sinne auf die Lebensthätigkeit der Ernährung zurückführen.

An zahlreichen einleuchtenden Beispielen weist Roux nach, wie durch verstärkte Thätigkeit die besondere Leistungsfähigkeit der Organe erhöht, durch verminderte Arbeit umgekehrt herabgesetzt wird (im Sinne von Lamarck), und wie ferner durch die Einwirkung functioneller Reize das Zweckmässige in höchst denkbarer Vollkommenheit direct mechanisch hervorgebracht und gestaltet wird, ohne dass irgend eine zweckthätige Endursache dabei in's Spiel kommt. So erklärt sich höchst einfach die bewunderungswürdige und höchst zweckmässige Vollkommenheit im feineren Bau der Knochen, der Muskeln, der Blutgefässe u. s. w. Die feinen Stützbälkchen der Knochen verlaufen in der Richtung des stärksten Druckes und Zuges und erreichen so mit der geringsten Menge von Material die höchste Stützkraft; die feinen Fasern der Muskeln, welche das Fleisch zusammensetzen, verlaufen nur in der Richtung, in welcher ihre Zusammenziehung stattfindet; und wenn muskulöse Röhren (z. B. der Darm, die Blutgefässe) sich in zwei Richtungen zusammenziehen, der Länge und der Quere nach, so ordnen sich die Muskelfasern bloss in diesen beiden Richtungen. Ebenso ist aber auch die feinere Structur der Nerven, der Blutgefässe, der Drüsen u. s. w. auf das Zweckmässigste ihrer Thätigkeit angepasst. Rein mechanisch betrachtet, erscheinen ihre Structur-Verhältnisse als Einrichtungen von denkbar vollkommenster Zweckmässigkeit, und dennoch sind dieselben ohne vorbedachten Zweck entstanden, vielmehr rein mechanisch durch die eigene Thätigkeit der Organe selbst, unter Vermittelung ihrer functionellen Reize, hervorgebracht worden.

Das bedeutungsvolle Princip der functionellen Selbstgestaltung des Zweckmässigen, welches Roux so scharfsinnig erläutert hat, zeigt uns demnach wie die thatsächlich bestehende Zweckmässigkeit im inneren Körperbau auf teleologische Mechanik zurückzuführen ist. Aber auch diese kann wieder weiterhin durch das Selections-Princip erklärt werden; nicht im Sinne Darwin's, dass der Kampf um's Dasein zwischen den selbstständigen Einzelwesen sie hervorruft, sondern im Sinne von Roux, wonach derselbe beständig zwischen allen Theilen des einzelnen Organismus selbst wirksam ist.

Man könnte demnach die Zuchtwahl der Zellen, wie sie nach Roux überall in den Geweben stattfindet, auch als Cellular-Selection bezeichnen, im Gegensatze zur Personal-Selection, wie sie Darwin zuerst zwischen den selbstständigen Einzelwesen nachgewiesen hat. Die erstere würde sich zur letzteren ebenso verhalten, wie Virchow's Cellular-Pathologie zur Personal-Pathologie, oder wie die von mir aufgestellte Cellular-Psychologie zur Personal-Psychologie. (Vgl. meinen Vortrag über »Zellseelen und Seelenzellen«) 59). Der Schlüssel für das richtige Verständniss dieses Verhältnisses liegt in der Zellentheorie, und in den weitgreifenden Fortschritten, welche diese grundlegende Theorie seit einem halben Jahrhundert (und namentlich in den letzten Decennien) gemacht hat. Wir betrachten jetzt allgemein die organischen Zellen nicht mehr als todte Bausteine, sondern als lebendige »Elementar-Organismen«, als Plastiden oder »Bildnerinnen«. Selbstständige Einzelwesen, und zwar ebensowohl morphologisch (hinsichtlich des Körperbaues) wie physiologisch (hinsichtlich der Lebensthätigkeit) sind ursprünglich alle Zellen. Es besteht aber trotzdem ein grosser Unterschied zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen). Bei den Protisten oder den einzelligen Lebensformen (Urpflanzen und Urthieren) bildet eine einzige Zelle für sich zeitlebens den ganzen Organismus. Bei den Histonen hingegen, den vielzelligen Thieren und Pflanzen, besteht der Organismus nur im Beginne seiner Existenz aus einer einzigen Zelle; sobald diese sich zu entwickeln beginnt, vermehrt sie sich durch wiederholte Theilung, und die zahlreichen daraus entstandenen Zellen setzen die Gewebe und Organe zusammen. In diesen sind die gesellig verbundenen Zellen von einander und vom Ganzen abhängig, und zwar um so mehr, je höher das Ganze entwickelt, je stärker es centralisirt ist. Mithin verhält sich das einzellige Protist zum vielzelligen und gewebebildenden Histonen ähnlich, wie der einzelne Mensch zum Staat. Der vielzellige Organismus ist ein Zellenstaat, und seine einzelnen Zellen sind die Staatsbürger (vergl. den VIII. und XVII. Vortrag).

Wie nun demgemäss alle Lebens-Thätigkeiten in den beiden Hauptgruppen der Einzelligen und der Vielzelligen gewisse principielle Verschiedenheiten zeigen, so gilt dasselbe auch von ihrer Thätigkeit im Kampfe um's Dasein, von der Wechselwirkung der Vererbung und der Anpassung, welche dabei züchtend wirkt.

Die Einzelligen oder Protisten zeigen ein einfaches (oder trophisches) Wachsthum, durch Zell-Vergrösserung; sie vermehren sich grösstentheils ungeschlechtlich (durch Theilung oder Sporen-Bildung); die Vererbung wird daher durch den Kern der einen Zelle vermittelt, welche zugleich der ganze Organismus ist. Die Vielzelligen oder Histonen hingegen besitzen ein zusammengesetztes (oder numerisches) Wachsthum, durch Zell-Vermehrung; sie pflanzen sich geschlechtlich fort (durch Vermischung von Ei-Zelle und Sperma-Zelle); die Vererbung wird daher nur durch die Kerne dieser beiden Geschlechts-Zellen vermittelt, während alle übrigen Gewebe-Zellen dabei nicht betheiligt sind. Aber innerhalb der Gewebe vermehren sich auch die sie zusammensetzenden Zellen beständig; und die Gewebe-Bildung selbst wird durch jene bedeutungsvolle Cellular-Selection bestimmt. Die tüchtigsten Zellen in jedem Gewebe, welche ihre Arbeit am besten erfüllen, verlangen und erhalten dafür auch den besten Theil des Nahrungs-Saftes; sie entziehen ihn den schwächeren und untüchtigeren Zellen; die ersteren wachsen und vermehren sich durch Theilung, während die letzteren früher oder später zu Grunde gehen müssen.

Der Kampf um's Dasein zwischen den Gewebe-Zellen der vielzelligen Organismen, muss demnach als die wichtigste Triebfeder für die fortschreitende Entwickelung und Differenzirung ihrer Gewebe und Organe angesehen werden. Bei den Einzelligen hingegen nimmt der Kampf um's Dasein und die durch ihn bewirkte natürliche Zuchtwahl eine wesentlich verschiedene Form an. Denn hier kommt es ja überhaupt noch nicht zur Gewebe-Bildung; die Gestaltung der unabhängigen und selbstständig bleibenden Zelle wird theils unmittelbar durch die Einwirkung der äusseren Existenz-Bedingungen bestimmt, theils durch die Gegenwirkung, welche die Plastidule oder Micellen, die activ lebensthätigen Plasma-Molekeln der Zelle ausüben. Auch zwischen diesen letzteren dürfen wir einen beständigen Kampf um's Dasein annehmen, und Roux hat gezeigt, welche hohe Bedeutung demselben für den Stoffwechsel und die Ernährung, somit auch für die Anpassung und Gestaltung des Elementar-Organismus zuzuschreiben ist. Allein diese Molekular-Selection ist eben so hypothetisch, und eben so wenig direct nachweisbar, wie die Molekular-Structur, welche wir (in irgend einer Form) für das Plasma annehmen müssen. Als Hypothese ist dieselbe unentbehrlich, und zwar ebensowohl für die unabhängigen einzelligen Protisten, wie für die abhängigen Gewebe-Zellen der Histonen.

Je tiefer wir neuerdings in diese elementaren Verhältnisse des organischen Lebens eingedrungen sind, und je mehr wir die verwickelten Wechsel-Beziehungen desselben kennen gelernt haben, desto höher haben wir den Werth der Selections-Theorie schätzen gelernt, desto grösser erscheint uns die philosophische That Darwin's. Denn indem dieser grosse Natur-Philosoph die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Dasein begründete, entdeckte er nicht nur die wichtigste Ursache der organischen Formen-Bildung und Umbildung, sondern er beantwortete zugleich endgültig eines der grössten philosophischen Räthsel, die Frage nämlich: Wie können zweckmässige Einrichtungen mechanisch entstehen, ohne zweckthätige Ursachen?

Die naturgemässe Beantwortung dieser schwierigen Grundfrage hatte schon im fünften Jahrhundert vor Christus ein grosser griechischer Naturphilosoph versucht, Empedocles aus Agrigent. Nach ihm sind die zweckmässigen Gestalten der Thiere und Pflanzen, wie wir sie jetzt kennen, erst allmählich entstanden, und zwar durch den beständigen Kampf der widerstreitenden Naturkräfte; die jetzt lebenden Formen sind übrig geblieben aus einer ungeheuer grossen Zahl von ausgestorbenen Formen, und zwar deshalb, weil sie für jenen Kampf am vortheilhaftesten geartet, und darum am lebensfähigsten waren. Einerseits betont Empedocles zuerst ganz besonders die Zweckmässigkeit im Körperbau der Lebewesen, andrerseits aber hebt er zugleich hervor, dass man zur Erklärung derselben kein besonderes »Zweckmässigkeits-Princip« aufstellen dürfe, sondern dass sie rein mechanisch durch das Wechselspiel der Naturkräfte entstanden sei. Mit Recht sagt daher Fritz Schultze 18) in seiner Schilderung der griechischen Naturphilosophie: »den grossen Gedanken einer Theorie der Ableitung des Zweckmässigen aus dem Unzweckmässigen zuerst gefasst zu haben, ist das strahlende Verdienst des Empedocles, und wenn wir bedenken, dass seine beiden Grundprincipien, Liebe und Hass, die Keimformen zu den modernen Grundkräften der Anziehung und der Abstossung sind, so werden wir diesem alten Forscher in der That unsere Bewunderung und Anerkennung nicht versagen können.«

So darf also mit Beziehung auf die Lösung dieser hochwichtigen Frage Empedocles als der älteste Vorläufer Darwin's angesehen werden. Obgleich aber auch andere Naturphilosophen des classischen Alterthums, insbesondere Lucretius, ihre hohe Bedeutung anerkannten, gerieth dieselbe doch späterhin ganz in Vergessenheit. Konnte doch selbst Kant – wie schon früher (S. 95) erwähnt, – dieselbe so wenig würdigen, dass er sogar die Hoffnung, jene Frage jemals lösen zu können, für ungereimt erklärte. »Man muss diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.«

Indem Charles Darwin durch seine Selections-Theorie thatsächlich jene schwierigste Grundfrage löste, ist er – ich wiederhole es – der neue Newton geworden, dessen einstiges Kommen Kant für immer verneinen zu können glaubte. Zwar haben kurzsichtige Naturforscher diesen Vergleich neuerdings für übertrieben erklärt und lächerlich gemacht, damit aber nur gezeigt, wie wenig sie die philosophische Tragweite des Darwinismus zu würdigen im Stande sind. Denn die Aufgaben sowohl wie die Mittel zu ihrer mechanischen Beantwortung waren bei der Gravitations-Theorie von Newton ungleich einfacher, als bei der Selections-Theorie von Darwin. Desshalb leuchtet auch die natürliche Wahrheit der ersten jedem Gebildeten unmittelbar ein, während für das volle Verständniss der letzteren eine gründliche naturwissenschaftliche Vorbildung erforderlich ist. Beide haben aber ein gleich hohes Verdienst, indem sie den übernatürlichen Zweckbegriff und den damit verknüpften Wunderglauben aus unserem Erkenntniss-Gebiete verdrängten, Newton aus dem der anorganischen, Darwin aus dem der organischen Natur.

Die speculative Philosophie der neuesten Zeit überzeugt sich täglich mehr von der Nothwendigkeit, aus dem icarischen Wolkenfluge der »reinen Speculation« auf den festen Boden der empirischen Natur-Erkenntniss zurückzukehren, und insbesondere die bedeutungsvollen biologischen Fortschritte des letzten Menschenalters in sich aufzunehmen. So sind namentlich Wundt, Fritz Schultze, G. H. Schneider, B. v. Carneri, Spitzer u. A. neuerdings eifrig bemüht, die philosophische Bedeutung des Transformismus zu würdigen und die wichtigsten Folgerungen aus dem Darwinismus zu ziehen. Die monistische Philosophie von Herbert Spencer 65), Jacob Moleschott 66), Ludwig Büchner 10) u. A. ruht auf ihrem Fundamente. Welche Bedeutung in jener Beziehung vor Allen das Selections-Princip besitzt, und wie dadurch »die Teleologie in der Auffassung der Organismen-Welt« in ein ganz neues Licht gesetzt wird, hat insbesondere Hugo Spitzer in Gratz gezeigt 28). Seine »Beiträge zur Descendenz-Theorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft« (1886) sind bisher die eingehendsten Versuche, die philosophische Bedeutung des Darwinismus richtig zu würdigen. Indem der letztere den übernatürlichen und dualistischen »transcendenten Zweckbegriff« beseitigt, setzt er an seine Stelle das natürliche und monistische Princip der »teleologischen Mechanik«.


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