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Charles Lyell's Grundsätze der Geologie. Seine natürliche Entwickelungs-Geschichte der Erde. Entstehung der grössten Wirkungen durch Summirung der kleinsten Ursachen. Unbegrenzte Länge der geologischen Zeit-Räume. Lyell's Widerlegung der Cuvier'schen Schöpfungs-Geschichte. Begründung des ununterbrochenen Zusammenhangs der geschichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Biographische Notizen über Charles Darwin. Seine wissenschaftlichen Werke. Seine Korallenriff-Theorie. Entwickelung der Selections-Theorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentlichung der Selections-Theorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. Darwin's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. Andreas Wagner's Ansicht von der besonderen Schöpfung der Cultur-Organismen für den Menschen. Der Baum des Erkenntnisses im Paradies. Vergleichung der wilden und der Cultur-Organismen. Darwin's Studium der Haustauben. Bedeutung der Taubenzucht. Gemeinsame Abstammung aller Taubenrassen.
Meine Herren! In den letzten drei Jahrzehnten, welche vor dem Erscheinen von Darwin's Werk verflossen, vom Jahre 1830 bis 1859, blieben in den organischen Natur-Wissenschaften die Schöpfungs-Vorstellungen Cuvier's herrschend. Man bequemte sich zu der unwissenschaftlichen Annahme, dass im Verlaufe der Erd-Geschichte eine Reihe von unerklärlichen Erd-Revolutionen periodisch die ganze Thier- und Pflanzen-Welt vernichtet habe, und dass am Ende jeder Revolution, beim Beginne einer neuen Periode, eine neue, vermehrte und verbesserte Auflage der organischen Bevölkerung erschienen sei. Freilich war die Anzahl dieser Schöpfungs-Auflagen durchaus streitig und in Wahrheit gar nicht festzustellen; auch wiesen die zahlreichen Fortschritte, welche in allen Gebieten der Zoologie und Botanik während dieser Zeit gemacht wurden, immer dringender auf die Unhaltbarkeit jener bodenlosen Hypothese Cuvier's, und auf die Wahrheit der natürlichen Entwickelungs-Theorie Lamarck's hin; allein trotzdem blieb die erstere fast allgemein bei den Biologen in Geltung. Dies ist vor Allem der hohen Autorität zuzuschreiben, welche sich Cuvier erworben hatte; hier zeigt sich wieder schlagend, wie schädlich der Glaube an eine bestimmte Autorität dem Entwickelungs-Leben der Menschen wird – die Autorität von der Goethe einmal treffend sagt: dass sie im Einzelnen verewigt, was einzeln vorübergehen sollte, dass sie ablehnt und an sich vorübergehen lässt, was festgehalten werden sollte, und dass sie hauptsächlich Schuld ist, wenn die Menschheit nicht vom Flecke kommt.
Ausser dem grossen Gewicht von Cuvier's Autorität war auch die gewaltige Macht der menschlichen Trägheit hinderlich, welche sich nur schwer entschliesst, von dem breitgetretenen Wege der alltäglichen Vorstellungen abzugehen und neue, noch nicht bequem gebahnte Pfade zu betreten; durch sie lässt es sich begreifen, dass Lamarck's Descendenz-Theorie erst 1859 zur Geltung gelangte, nachdem Darwin ihr ein neues Fundament gegeben hatte. Der empfängliche Boden für dieselbe war längst vorbereitet, ganz besonders durch das Verdienst eines anderen englischen Naturforschers, des 1875 gestorbenen Charles Lyell; auf seine hohe Bedeutung für die »natürliche Schöpfungs-Geschichte« müssen wir hier nothwendig einen Blick werfen.
Unter dem Titel: Grundsätze der Geologie (Principles of geology) 11) veröffentlichte Charles Lyell 1830 ein classisches Werk, welches die Entwickelungs-Geschichte der Erde von Grund aus umgestaltete; es reformirte dieselbe in ähnlicher Weise wie 30 Jahre später Darwin's Werk die Biologie. Lyell's epochemachendes Buch, welches Cuvier's Schöpfungs-Hypothese an der Wurzel zerstörte, erschien in demselben Jahre, in welchem Cuvier seine grossen Triumphe über die Natur-Philosophie feierte, und seine Oberherrschaft über das morphologische Gebiet auf drei Jahrzehnte hinaus befestigte. Cuvier hatte durch seine künstliche Schöpfungs-Hypothese und die damit verbundene Katastrophen-Theorie einer natürlichen Entwickelungs-Theorie geradezu den Weg verlegt und den Faden der natürlichen Erklärung abgeschnitten. Lyell brach derselben wieder freie Bahn, und führte einleuchtend den geologischen Beweis, dass jene dualistischen Vorstellungen Cuvier's ebensowohl ganz unbegründet, als auch ganz überflüssig seien. Diejenigen Veränderungen der Erdoberfläche, welche noch jetzt unter unsern Augen vor sich gehen, erklären nach Lyell vollkommen hinreichend Alles, was wir von der Entwickelung der Erdrinde überhaupt wissen; es ist daher vollständig überflüssig und unnütz, in räthselhaften Revolutionen die unerklärlichen Ursachen dafür zu suchen. Man braucht weiter Nichts zu Hülfe zu nehmen als ausserordentlich lange Zeiträume, um die Entstehung des Baues der Erdrinde auf die einfachste und natürlichste Weise aus denselben Ursachen zu erklären, welche noch heutzutage wirksam sind. Viele Geologen hatten sich früher gedacht, dass die höchsten Gebirgsketten der Erde ihren Ursprung nur ungeheuren, einen grossen Theil der Erd-Oberfläche umgestaltenden Revolutionen, insbesondere colossalen vulkanischen Ausbrüchen verdanken könnten. Solche Bergketten z. B. wie die Alpen, oder wie die Cordilleren, sollten auf einmal aus dem feuerflüssigen Erd-Innern durch einen ungeheuren Spalt der weit geborstenen Erdrinde emporgestiegen sein. Lyell zeigte dagegen, dass wir uns die Entwickelung solcher ungeheuren Gebirgsketten ganz natürlich aus denselben langsamen, unmerklichen Hebungen und Senkungen der Erd-Oberfläche erklären können, die noch jetzt fortwährend vor sich gehen, und deren Ursachen keineswegs wunderbar sind. Wenn diese Senkungen und Hebungen auch vielleicht im Jahrhundert nur ein paar Zoll oder höchstens einige Fuss betragen, so können sie doch bei einer Dauer von einigen Jahr-Millionen vollständig genügen, um die höchsten Gebirgsketten hervortreten zu lassen. Auch die meteorologische Thätigkeit der Atmosphäre, die Wirksamkeit des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Küste, welche an und für sich nur unbedeutend zu wirken scheinen, müssen die grössten Veränderungen hervorbringen, wenn man nur hinlänglich grosse Zeiträume für ihre Wirksamkeit in Anspruch nimmt. Die Summirung der kleinsten Ursachen bringt die grössten Wirkungen hervor. Der Wassertropfen höhlt den Stein aus.
Auf die unermessliche Länge der geologischen Zeit-Räume, welche hierzu erforderlich sind, müssen wir nothwendig später noch einmal zurückkommen; denn auch für Darwin's Theorie, ebenso wie für diejenige Lyell's, bleibt die Annahme ungeheurer Zeit-Maasse ganz unentbehrlich. Wenn die Erde und ihre Organismen sich wirklich auf natürlichem Wege entwickelt haben, so muss diese langsame und allmähliche Entwickelung jedenfalls eine Zeit-Dauer in Anspruch genommen haben, deren Vorstellung unser Fassungs-Vermögen gänzlich übersteigt. Da Viele aber gerade hierin eine Haupt-Schwierigkeit jener Entwickelungs-Theorien erblicken, so will ich jetzt schon vorausgreifend bemerken, dass wir nicht einen einzigen vernünftigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit beschränkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, sondern selbst hervorragende Naturforscher, als Haupt-Einwand gegen diese Theorien geltend machen, dass dieselben zu lange Zeit-Räume in Anspruch nähmen, so ist dieser Einwand kaum zu begreifen. Denn es ist durchaus nicht einzusehen, was uns in der Annahme derselben irgendwie beschränken sollte. Wir wissen längst schon aus dem Bau und der Dicke der geschichteten Erdrinde, dass die Entstehung derselben, der Absatz der neptunischen Gesteine aus dem Wasser, allermindestens mehrere Millionen Jahre gedauert haben muss. Ob wir aber hypothetisch für diesen Process zehn Millionen oder zehntausend Billionen Jahre annehmen, ist vom Standpunkte der strengsten Natur-Philosophie gänzlich gleichgültig. Vor uns und hinter uns liegt die Ewigkeit. Wenn sich bei Vielen gegen die Annahme von so ungeheuren Zeiträumen das Gefühl sträubt, so ist das die Folge der falschen Vorstellungen, welche uns von frühester Jugend an über die angeblich kurze, nur wenige Jahrtausende umfassende Geschichte der Erde eingeprägt werden. Wie Albert Lange in seiner vortrefflichen Geschichte des Materialismus 12) schlagend beweist, ist es vom streng kritischen Standpunkte aus jeder naturwissenschaftlichen Hypothese viel eher erlaubt, die Zeit-Räume zu gross, als zu klein anzunehmen. Jeder Entwickelungs-Vorgang lässt sich um so eher begreifen, je längere Zeit er dauert. Ein kurzer und beschränkter Zeit-Raum für denselben ist von vornherein das Unwahrscheinlichste.
Wir haben hier nicht Zeit, auf Lyell's vorzügliches Werk näher einzugehen, und wollen daher bloss das wichtigste Resultat desselben hervorheben, dass es nämlich Cuvier's Schöpfungs-Geschichte mit ihren mythischen Revolutionen gründlich widerlegte; an ihre Stelle trat einfach die beständige Umbildung der Erd-Rinde durch die fortdauernde Thätigkeit der noch jetzt auf die Erd-Oberfläche wirkenden Kräfte, die Thätigkeit des Wassers und des vulkanischen Erd-Innern. Lyell wies also einen continuirlichen, ununterbrochenen Zusammenhang der ganzen Erd-Geschichte nach, und er bewies denselben so unwiderleglich, er begründete so einleuchtend die Herrschaft der »existing causes«, der noch heute wirksamen, dauernden Ursachen in der Umbildung der Erd-Rinde, dass in kurzer Zeit die Geologie Cuver's Hypothese vollkommen aufgab.
Nun ist es aber merkwürdig, dass die Paläontologie, die Wissenschaft von den Versteinerungen, soweit sie von den Botanikern und Zoologen betrieben wurde, von diesem grossen Fortschritt der Geologie scheinbar unberührt blieb. Die Biologie nahm fortwährend noch jene wiederholte neue Schöpfung der gesammten Thier- und Pflanzen-Bevölkerung im Beginne jeder neuen Periode der Erd-Geschichte an, obwohl diese Hypothese von den einzelnen, schubweise in die Welt gesetzten Schöpfungen ohne die Annahme der Revolutionen reiner Unsinn wurde und gar keinen Halt mehr hatte. Offenbar ist es vollkommen ungereimt, eine besondere neue Schöpfung der ganzen Thier- und Pflanzen-Welt zu bestimmten Zeit-Abschnitten anzunehmen, ohne dass die Erd-Rinde selbst dabei irgend eine beträchtliche allgemeine Umwälzung erfährt. Trotzdem also jene Vorstellung auf das Engste mit der Katastrophen-Theorie Cuvier's zusammenhing, blieb sie dennoch herrschend, nachdem die letztere bereits zerstört war.
Es war nun dem grossen englischen Natur-Forscher Charles Darwin vorbehalten, diesen Zwiespalt völlig zu beseitigen; er bewies klar, dass auch die Lebewelt der Erde eine ebenso continuirlich zusammenhängende Geschichte hat, wie die anorgische Rinde der Erde; dass auch die Thiere und Pflanzen ebenso allmählich durch Umwandlung oder Transformation auseinander hervorgegangen sind, wie die wechselnden Formen der Erd-Rinde, der Continente und der sie umschliessenden und trennenden Meere aus früheren, ganz davon verschiedenen Formen entstanden sind. Wir können in dieser Beziehung wohl sagen; dass Darwin auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik den gleichen Fortschritt herbeiführte, wie Lyell, sein grosser Landsmann, auf dem Gebiete der Geologie. Durch beide wurde der ununterbrochene Zusammenhang der geschichtlichen Entwickelung bewiesen, und eine allmähliche Umänderung der verschiedenen auf einander folgenden Zustände dargethan.
Das besondere Verdienst Darwin's ist nun, wie bereits in dem vorigen Vortrage bemerkt wurde, ein doppeltes. Er hat erstens die von Lamarck und Goethe aufgestellte Descendenz-Theorie in viel umfassenderer Weise als Ganzes behandelt und im Zusammenhang durchgeführt, als es von allen seinen Vorgängern geschehen war. Zweitens aber hat er dieser Abstammungs-Lehre durch seine, ihm eigenthümliche Züchtungs-Lehre (die Selections-Theorie) das causale Fundament gegeben, d. h. er hat die wirkenden Ursachen der Veränderungen nachgewiesen, welche von der Abstammungs-Lehre nur als Thatsachen behauptet werden. Die von Lamarck 1809 in die Biologie eingeführte Descendenz-Theorie behauptet, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten von einer einzigen oder einigen wenigen, höchst einfachen, spontan entstandenen Urformen abstammen. Die von Darwin 1859 begründete Selections-Theorie zeigt uns, warum dies der Fall sein musste, sie weist uns die wirkenden Ursachen so nach, wie es Kant nur wünschen konnte; Darwin ist in der That auf dem Gebiete der organischen Natur-Wissenschaft der neue Newton geworden, dessen Kommen Kant prophetisch verneinen zu können glaubte. (Vergl. S. 95).
Ehe wir nun an Darwin's Theorie herantreten, wollen wir Einiges über die Persönlichkeit dieses grossen Naturforschers vorausschicken, über sein Leben und die Wege, auf denen er zur Aufstellung seiner Lehre gelangte. Seine ausführliche Lebens-Geschichte (in drei Bänden) ist 1887 von einem seiner Söhne, Francis Darwin, herausgegeben worden 21). Charles Robert Darwin ist am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury am Severn-Fluss geboren, und am 19. April 1882 auf seinem Landgute Down in Kent, 73 Jahre alt, gestorben. Im siebzehnten Jahre (1825) bezog er die Universität Edinburg, und zwei Jahre später Christ's College zu Cambridge. Kaum 22 Jahre alt, wurde er 1831 zur Theilnahme an einer wissenschaftlichen Expedition berufen, welche von den Engländern ausgeschickt wurde, vorzüglich um die Süd-Spitze Süd-Amerikas genauer zu erforschen und verschiedene Punkte der Südsee zu untersuchen. Diese Expedition hatte, gleich vielen anderen, rühmlichen, von England ausgerüsteten Forschungs-Reisen, sowohl wissenschaftliche, als auch practische, auf die Schifffahrt bezügliche Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff, von Capitän Fitzroy commandirt, führte in treffend symbolischer Weise den Namen »Beagle« oder Spürhund. Die Reise des Beagle, welche fünf Jahre dauerte, wurde für Darwin's ganze Entwickelung von der grössten Bedeutung: Schon im ersten Jahre, als er zum ersten Mal den Boden Süd-Amerikas betrat, keimte in ihm der Gedanke der Abstammungs-Lehre auf, den er dann späterhin zu so vollendeter Blüthe entwickelte. Die Reise selbst hat Darwin in einem von Dieffenbach in das Deutsche übersetzten Werke beschrieben; sie ist sehr anziehend geschildert und wirft ein helles Licht auf die vielseitigen Talente des jungen Naturforschers.13) In dieser Reise-Beschreibung tritt Ihnen nicht allein die liebenswürdige Persönlichkeit Darwin's in sehr anziehender Weise entgegen, sondern Sie können auch vielfach die Spuren der Wege erkennen, auf denen er zu seinen Vorstellungen gelangte. Als Resultat dieser Reise erschien zunächst ein grosses wissenschaftliches Reise-Werk, an dessen zoologischem und geologischem Theil sich Darwin bedeutend betheiligte; ferner eine ausgezeichnete Arbeit desselben über die Bildung der Korallen-Riffe, welche allein genügt haben würde, seinen Namen mit bleibendem Ruhme zu krönen. Bekanntlich bestehen die Inseln der Südsee grösstentheils aus Korallen-Riffen oder sind von solchen umgeben. Die verschiedenen merkwürdigen Formen derselben und ihr Verhältniss zu den nicht aus Korallen gebildeten Inseln vermochte man sich früher nicht befriedigend zu erklären. Erst Darwin war es vorbehalten, diese schwierige Aufgabe zu lösen, indem er ausser der aufbauenden Thätigkeit der Korallen-Thiere auch geologische Hebungen und Senkungen des Meeres-Bodens für die Entstehung der verschiedenen Riff-Gestalten in Anspruch nahm. Darwin's Theorie von der Entstehung der Korallen-Riffe ist, ebenso wie seine spätere Theorie von der Entstehung der organischen Arten, eine Theorie, welche die Erscheinungen vollkommen erklärt, und dafür nur die einfachsten natürlichen Ursachen in Anspruch nimmt, ohne sich hypothetisch auf irgend welche unbekannten Vorgänge zu beziehen. Unter den übrigen früheren Arbeiten Darwin's ist noch seine ausgezeichnete Monographie der Cirripedien hervorzuheben, einer merkwürdigen Classe von See-Thieren, welche im äusseren Ansehen den Muscheln gleichen und von Cuvier in der That für zweischalige Mollusken gehalten wurden, während dieselben in Wahrheit zu den Krebs-Thieren (Crustaceen) gehören.
Nach der Rückkehr von seiner grossen Reise lebte Darwin sechs Jahre (von 1836-1842) theils in London, theils in Cambridge. Im Winter 1839 verheirathete er sich mit seiner Cousine Emma Wedgewood. Die ausserordentlichen Strapazen, denen er während der fünfjährigen Reise des Beagle ausgesetzt war, hatten seine Gesundheit dergestalt zerrüttet, dass er sich bald aus dem unruhigen Treiben Londons zurückziehen musste. Er kaufte sich im Herbst 1842 ein Landgut in dem kleinen Dorfe Down in der Nähe von Bromley in Kent (mit der Eisenbahn kaum eine Stunde von London entfernt). Hier verbrachte er in stiller Zurückgezogenheit vierzig Jahre, bis zum Ende seines Lebens unermüdlich mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt. Die Abgeschiedenheit von dem unruhigen Getreibe der grossen Weltstadt, der stille Verkehr mit der einsamen Natur, und das glückliche Leben im Schoosse seiner Familie, erhielten seine Lust und Kraft zur Arbeit stets frisch, trotz seiner schwächlichen Gesundheit. Unbehelligt durch die verschiedenen Geschäfte, welche in London seine Kräfte zersplittert haben würden, konnte er seine ganze Thätigkeit auf das Studium des grossen Problems concentriren, auf welches er durch jene Reise hingelenkt worden war. Um Ihnen zu zeigen, welche Wahrnehmungen während seiner Welt-Umsegelung vorzüglich den Grundgedanken der Selections-Theorie in ihm anregten, und in welcher Weise er denselben dann weiter entwickelte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe mitzutheilen, welchen Darwin am 8. October 1864 an mich richtete:
»In Süd-Amerika traten mir besonders drei Classen von Erscheinungen sehr lebhaft vor die Seele: Erstens die Art und Weise, in welcher nahe verwandte Species einander vertreten und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; – Zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Species, welche die Süd-Amerika nahe gelegenen Inseln bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Festland eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes Erstaunen, besonders die Verschiedenheit derjenigen Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Galopagos-Archipels bewohnen; – Drittens die nahe Beziehung der lebenden zahnlosen Säugethiere (Edentata) und Nagethiere (Rodentia) zu den ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Erstaunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzerstück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtel-Thieres.
»Als ich über diese Tatsachen nachdachte und einige ähnliche Erscheinungen damit verglich, schien es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besonderen Lebens-Verhältnissen angepasst werden konnte. Ich begann darauf systematisch die Hausthiere und die Garten-Pflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in des Menschen Zucht-Wahlvermögen liege, in seiner Benutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht. Dadurch, dass ich vielfach die Lebensweise und Sitten der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine geologischen Arbeiten gaben mir eine Vorstellung von der ungeheuren Länge der verflossenen Zeiträume. Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus »über die Bevölkerung« las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich schätzen lernte, die Bedeutung und Ursache des Divergenz-Princips.«
Während der Musse und Zurückgezogenheit, in der Darwin nach der Rückkehr von seiner Reise lebte, beschäftigte er sich, wie aus dieser Mittheilung hervorgeht, zunächst vorzugsweise mit dem Studium der Organismen im Cultur-Zustande, der Haus-Thiere und Garten-Pflanzen. Unzweifelhaft war dies der nächste und richtigste Weg, um zur Selections-Theorie zu gelangen. Wie in allen seinen Arbeiten, verfuhr Darwin dabei äusserst sorgfältig und genau. Er hat mit bewunderungswürdiger Vorsicht und Selbst-Verleugnung vom Jahre 1837-1858, also 21 Jahre lang, über diese Sache Nichts veröffentlicht, selbst nicht eine vorläufige Skizze seiner Theorie, welche er schon 1844 niedergeschrieben hatte. Er wollte immer noch mehr sicher begründete empirische Beweise sammeln, um so die Theorie ganz vollständig, auf möglichst breiter Erfahrungs-Grundlage festgestellt, mittheilen zu können. Dieses Streben nach möglichster Vervollkommnung barg in sich die Gefahr, dass die Theorie überhaupt niemals veröffentlicht würde. Zum Glück wurde Darwin aber darin durch einen Landsmann gestört, welcher unabhängig von ihm die Selections-Theorie sich ausgedacht und aufgestellt hatte; dieser sendete 1858 die Grundzüge derselben an Darwin selbst ein mit der Bitte, sie an Lyell zur Veröffentlichung in einem englischen Journale zu übergeben. Dieser Engländer war Alfred Wallace, einer der kühnsten und verdientesten naturwissenschaftlichen Reisenden der neueren Zeit.36) Viele Jahre war Wallace allein in den Wildnissen von Süd-Amerika und in den Urwäldern des indischen Archipels umhergestreift; und bei diesem unmittelbaren und umfassenden Studium der reichsten und interessantesten Natur, mit einer höchst mannichfaltigen Thier- und Pflanzen-Welt, war er genau zu denselben allgemeinen Anschauungen über die Entstehung der organischen Arten wie Darwin gelangt. Lyell und Hooker, welche Beide Darwin's Arbeit seit langer Zeit kannten, veranlassten ihn nun, einen kurzen Auszug aus seinen Manuscripten gleichzeitig mit dem eingesandten Manuscript von Wallace zu veröffentlichen, was auch im August 1858 im »Journal of the Linnean Society« geschah.
Im November 1859 erschien dann das epochemachende Werk Darwin's »Ueber die Entstehung der Arten«, in welchem die Selections-Theorie ausführlich begründet ist. Jedoch bezeichnete Darwin selbst dieses Buch, von welchem 1872 die sechste Auflage und bereits 1860 eine deutsche Uebersetzung von Bronn erschien 1), nur als einen vorläufigen Auszug aus einem grösseren und ausführlicheren Werke, welches in umfassender empirischer Beweisführung eine Masse von Thatsachen zu Gunsten seiner Theorie enthalten sollte. Der erste Theil dieses von Darwin in Aussicht gestellten Hauptwerkes erschien 1868 unter dem Titel: »Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication«; er wurde gleich den späteren Schriften, von Victor Carus ins Deutsche übersetzt.14) Er enthält eine reiche Fülle der trefflichsten Belege für die ausserordentlichen Veränderungen der organischen Formen, welche der Mensch durch seine Cultur und künstliche Züchtung hervorbringen kann. So sehr wir auch Darwin für diesen Ueberfluss an beweisenden Thatsachen verbunden sind, so theilen wir doch keineswegs die Meinung jener Naturforscher, welche glauben, dass durch diese weiteren Ausführungen die Selections-Theorie eigentlich erst fest begründet werden musste. Nach unserer Ansicht enthält bereits Darwin's erstes, 1859 erschienenes Werk diese Begründung in völlig ausreichendem Maasse. Die unangreifbare Stärke seiner Theorie liegt nicht in der Unmasse von einzelnen Thatsachen, welche man als Beweise dafür anführen kann, sondern in dem harmonischen Zusammenhang aller grossen und allgemeinen Erscheinungs-Reihen der organischen Natur; sie alle legen übereinstimmend für die Wahrheit der Selections-Theorie Zeugniss ab.
Den wichtigsten Folge-Schluss der Descendenz-Theorie, die Abstammung des Menschen-Geschlechts von anderen Säugethieren, musste Darwin natürlich bald ziehen, nachdem er sich von der Wahrheit der ersteren überzeugt hatte. Allein in seinem Hauptwerke ging er absichtlich darauf nicht ein. Erst nachdem dieser bedeutungsvolle Schluss von anderen Naturforschern entschieden als nothwendige Consequenz der Abstammungs-Lehre festgestellt war, hat Darwin denselben ausdrücklich anerkannt, und damit »die Krönung seines Gebäudes« vollzogen. Dies geschah in dem höchst interessanten, erst 1871 erschienen Werke über »die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht-Wahl« (ebenfalls von Victor Carus in das Deutsche übersetzt) 48). Als ein Nachtrag zu diesem Buche kann das geistreiche physiognomische Werk angesehen werden, welches Darwin 1872 »über den Ausdruck der Gemüths-Bewegungen bei dem Menschen und den Thieren« veröffentlicht hat.49)
Von der grössten Bedeutung für die Begründung der Selections-Theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus-Thieren und Cultur-Pflanzen widmete. Die unendlich mannichfaltigen Form-Veränderungen, welche der Mensch an diesen domesticirten Organismen durch künstliche Züchtung erzeugt hat, sind für das richtige Verständniss der Tier- und Pflanzen-Formen von der allergrössten Wichtigkeit; und dennoch ist ihr Studium in kaum glaublicher Weise von den Zoologen und Botanikern bis in die neueste Zeit vernachlässigt worden. Nicht allein dicke Bände, sondern ganze Bibliotheken sind mit Beschreibungen der einzelnen Arten oder Species angefüllt worden, und mit höchst kindischen Streitigkeiten darüber, ob diese Species gute oder ziemlich gute, schlechte oder ziemlich schlechte Arten seien; ohne dass dem Artbegriff selbst darin zu Leibe gegangen ist. Die wichtigste Vorfrage, was denn eigentlich eine Species sei, wurde dabei nicht berührt. Wenn die Naturforscher, statt auf jene unnützen Spielereien Zeit zu verwenden, die Cultur-Organismen gehörig studirt und nicht die einzelnen todten Formen, sondern die Umbildung der lebendigen Gestalten in das Auge gefasst hätten, so würden sie nicht so lange in den Fesseln des Cuvier'schen Dogmas befangen gewesen sein. Weil nun aber diese Cultur-Organismen gerade der dogmatischen Auffassung von der Beharrlichkeit der Art, von der Constanz der Species so äusserst unbequem sind, so hat man sich grossen Theils absichtlich nicht um dieselben bekümmert; vielfach ist sogar, selbst von berühmten Naturforschern, der Gedanke ausgesprochen worden, diese Cultur-Organismen, die Haus-Thiere und Garten-Pflanzen, seien Kunst-Producte des Menschen; ihre Bildung und Umbildung könne gar nicht über das Wesen der Species und über die Entstehung der Formen bei den wilden, im Natur-Zustande lebenden Arten entscheiden.
Diese verkehrte Auffassung ging so weit, dass z. B. ein Münchener Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernstes die lächerliche Behauptung aufstellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zustande sind vom Schöpfer als bestimmt unterschiedene und unveränderliche Arten erschaffen worden; allein bei den Haus-Thieren und Cultur-Pflanzen war dies deshalb nicht nöthig, weil er dieselben von vornherein für den Gebrauch des Menschen einrichtete. Der Schöpfer machte also den Menschen aus einem Erden-Kloss, blies ihm lebendigen Odem in seine Nase und schuf dann für ihn die verschiedenen nützlichen Haus-Thiere und Garten-Pflanzen, bei denen er sich in der That die Mühe der Species-Unterscheidung sparen konnte. Ob der Baum des Erkenntnisses im Paradies-Garten eine »gute« wilde Species, oder als Cultur-Pflanze überhaupt »keine Species« war, erfahren wir leider durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntnisses vom Schöpfer mitten in den Paradies-Garten gesetzt wurde, möchte man eher glauben, dass er eine höchst bevorzugte Cultur-Pflanze, also überhaupt keine Species war. Da aber andrerseits die Früchte vom Baume des Erkenntnisses dem Menschen verboten waren, und viele Menschen, wie Wagner's eigenes Beispiel klar zeigt, niemals von diesen Früchten genossen haben, so ist er offenbar nicht für den Gebrauch des Menschen erschaffen, also wahrscheinlich eine wirkliche Species! Wie Schade, dass uns Wagner über diese wichtige und schwierige Frage nicht belehrt hat!
Wie lächerlich Ihnen diese Ansicht auch vorkommen mag, so ist dieselbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falschen, in der That aber weit verbreiteten Ansicht von dem besonderen Wesen der Cultur-Organismen, und Sie können bisweilen von ganz angesehenen Naturforschern ähnliche Einwürfe hören. Gegen diese grundfalsche Auffassung muss ich mich von vornherein ganz bestimmt wenden; sie ist ebenso verkehrt, wie die Ansicht mancher Aerzte, welche behaupten, die Krankheiten seien künstliche Erzeugnisse der Cultur, keine Natur-Erscheinungen. Es hat viel Mühe gekostet, dieses Vorurtheil zu bekämpfen; erst in neuerer Zeit ist die Ansicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, dass die Krankheiten weiter nichts sind, als natürliche Veränderungen des Organismus, wirklich natürliche Lebens-Erscheinungen, hervorgebracht durch veränderte, abnorme Existenz-Bedingungen. Die Krankheit ist also nicht, wie die älteren Aerzte oft sagten, ein Leben ausserhalb der Natur (vita praeter naturam), sondern ein natürliches Leben unter bestimmten, schädlichen, den Körper mit Gefahr bedrohenden Bedingungen. Gleicherweise sind auch die Cultur-Organismen nicht künstliche Producte des Menschen, sondern sie sind Natur-Producte, welche unter eigenthümlichen Lebens-Bedingungen entstanden. Der Mensch vermag durch seine Cultur niemals unmittelbar eine neue organische Form zu erzeugen; sondern er kann nur die Organismen unter neuen Lebens-Bedingungen züchten, welche umbildend auf sie einwirken. Alle Hausthiere und alle Garten-Pflanzen stammen ursprünglich von wilden Arten ab, welche erst durch die Cultur allmählich umgebildet worden sind.
Die eingehende Vergleichung der Cultur-Formen (Rassen und Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veränderten Organismen (Arten und Varietäten) ist für die Selections-Theorie von der grössten Wichtigkeit. Was Ihnen bei dieser Vergleichung zunächst am Meisten auffällt, das ist die kurze Zeit, in welcher der Mensch im Stande ist, eine neue Form hervorzubringen, und die auffallende Verschiedenheit der Gestalt, durch welche diese vom Menschen producirte Form von der ursprünglichen Stamm-Form abweichen kann. Die wilden Thiere und Pflanzen, im freien Zustande, erscheinen Jahr aus, Jahr ein dem sammelnden Zoologen und Botaniker annähernd in derselben Form, so dass eben hieraus das falsche Dogma der Species-Constanz entstehen konnte. Hingegen zeigen uns die Hausthiere und die Garten-Pflanzen oft innerhalb weniger Jahre die grössten Veränderungen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungs-Kunst der Gärtner und der Landwirthe erreicht hat, gestattet jetzt in sehr kurzer Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzen-Form willkürlich zu schaffen. Man braucht zu diesem Zwecke bloss den Organismus unter dem Einflusse der besonderen Bedingungen zu erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande sind; und man kann schon nach Verlauf von wenigen Generationen neue Arten erhalten, welche von der Stamm-Form in viel höherem Grade abweichen, als die sogenannten guten Arten im wilden Zustande von einander verschieden sind. Diese Thatsache ist äusserst wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werden. Zwar wird noch oft behauptet, die Cultur-Formen, die von einer und derselben Form abstammen, seien nicht so sehr von einander verschieden, wie die wilden Thier- und Pflanzen-Arten unter sich. Allein das ist nicht wahr. Wenn man nur unbefangen Vergleiche anstellt, so überzeugt man sich leicht vom Gegentheil. Eine Menge von Rassen oder Spiel-Arten, die wir in einer kurzen Reihe von Jahren von einer einzigen Cultur-Form abgeleitet haben, sind in viel höherem Grade von einander unterschieden, als sogenannte gute Arten (»bonae species«) oder selbst verschiedene Gattungen einer Familie im wilden Zustande.
Um diese äusserst wichtige Thatsache möglichst fest empirisch zu begründen, beschloss Darwin, eine einzelne Gruppe von Hausthieren eingehend in dem ganzen Umfang ihrer Formen-Mannichfaltigkeit zu studiren. Er wählte dazu die Haus-Tauben, weil diese in mehrfacher Beziehung dafür ganz besonders geeignet sind. Er hielt sich lange Zeit hindurch auf seinem Gute alle möglichen Rassen und Spiel-Arten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit reichlichen Zusendungen aus allen Weltgegenden unterstützt. Ferner liess er sich in zwei Londoner Tauben-Clubs aufnehmen, welche die Züchtung der verschiedenen Tauben-Formen mit wahrhaft künstlerischer Virtuosität und unermüdlicher Leidenschaft betreiben. Endlich setzte er sich noch mit einigen der berühmtesten Tauben-Liebhaber in Verbindung. So stand ihm das reichste empirische Material zur Verfügung.
Die Kunst und Liebhaberei der Tauben-Züchtung ist uralt. Schon mehr als 3000 Jahre vor Christus wurde sie von den Aegyptern betrieben. Die Römer der Kaiserzeit gaben ungeheure Summen dafür aus und führten genaue Stammbaum-Register über ihre Abstammung, ebenso wie die Araber über ihre Pferde und die mecklenburgischen Edelleute über ihre eigenen Ahnen sehr sorgfältige genealogische Register führen. Auch in Asien war die Tauben-Zucht eine uralte Liebhaberei der reichen Fürsten, und zur Hofhaltung des Akber Khan, um das Jahr 1600, gehörten mehr als 20,000 Tauben. So entwickelten sich denn im Laufe mehrerer Jahrtausende, und in Folge der mannichfaltigen Züchtungs-Methoden, welche in den verschiedensten Weltgegenden geübt wurden, aus einer einzigen ursprünglich gezähmten Stamm-Form eine ungeheure Menge verschiedenartiger Rassen und Spiel-Arten; ihre extremen Formen sind ausserordentlich verschieden.
Eine der auffallendsten Tauben-Rassen ist die bekannte Pfauen-Taube, bei der sich der Schwanz ähnlich entwickelt wie beim Truthahn und eine Anzahl von 30-40 radartig gestellten Federn trägt; während die anderen Tauben eine viel geringere Anzahl von Schwanzfedern, fast immer 12, besitzen. Hierbei mag erwähnt werden, dass die Anzahl der Schwanzfedern bei den Vögeln als systematisches Merkmal von den Natur-Forschern sehr hoch geschätzt wird, so dass man ganze Ordnungen danach unterscheiden könnte. So besitzen z. B. .die Singvögel fast ohne Ausnahme 12 Schwanzfedern, die Schrillvögel (Strisores) 10 u. s. w. Besonders ausgezeichnet sind ferner mehrere Tauben-Rassen durch einen Busch von Nackenfedern, welcher eine Art Perrücke bildet; andere durch abenteuerliche Umbildung des Schnabels und der Füsse, durch eigenthümliche, oft sehr auffallende Verzierungen, z. B. Hautlappen, die sich am Kopf entwickeln; durch einen grossen Kropf, welcher eine starke Hervortreibung der Speiseröhre am Hals bildet u. s. w. Merkwürdig sind auch die sonderbaren Gewohnheiten, welche viele Tauben erworben haben, z. B. die Lach-Tauben und die Trommel-Tauben in ihren musikalischen Leistungen, die Brief-Tauben in ihrem topographischen Instinct. Die Purzel-Tauben haben die seltsame Gewohnheit, nachdem sie in grosser Schaar in die Luft gestiegen sind, sich zu überschlagen und aus der Luft wie todt herabzufallen. Die Sitten und Gewohnheiten dieser unendlich verschiedenen Tauben-Rassen, die Form, Grösse und Färbung der einzelnen Körpertheile, die Proportionen derselben unter einander, sind in erstaunlich hohem Maasse von einander verschieden, in viel höherem Maasse, als es bei den sogenannten guten Arten oder selbst bei ganz verschiedenen Gattungen unter den wilden Tauben der Fall ist. Und, was das Wichtigste ist, es beschränken sich jene Unterschiede nicht bloss auf die Bildung der äusserlichen Form, sondern erstrecken sich selbst auf die wichtigsten innerlichen Theile; es kommen sogar sehr bedeutende Abänderungen des Skelets und der Muskulatur vor. So finden sich z. B. grosse Verschiedenheiten in der Zahl der Wirbel und Rippen, in der Grösse und Form der Lücken im Brustbein, in der Form und Grösse des Gabelbeins, des Unterkiefers, der Gesichtsknochen u. s. w. Kurz das knöcherne Skelet, das die Morphologen für einen sehr beständigen Körpertheil halten, zeigt sich so sehr verändert, dass man viele Tauben-Rassen als besondere Gattungen aufführen könnte. Zweifelsohne würde dies geschehen, wenn man alle diese verschiedenen Formen getrennt in wildem Natur-Zustande auffände.
Wie weit die Verschiedenheit der Tauben-Rassen geht, zeigt am Besten der Umstand, dass fast alle Tauben-Züchter einstimmig der Ansicht sind, jede eigenthümliche oder besonders ausgezeichnete Tauben-Rasse müsse von einer besonderen wilden Stamm-Art abstammen. Freilich nimmt Jeder eine verschiedene Zahl von Stamm-Arten an. Und dennoch hat Darwin mit überzeugendem Scharfsinn den schwierigen Beweis geführt, dass dieselben ohne Ausnahme sämmtlich von einer einzigen wilden Stamm-Art, der blauen Fels-Taube (Columba livia) abstammen müssen. In gleicher Weise lässt sich bei den meisten übrigen Haus-Thieren und bei den meisten Cultur-Pflanzen der Beweis führen, dass alle verschiedenen Rassen Nachkommen einer einzigen ursprünglichen wilden Art sind, die vom Menschen in den Cultur-Zustand übergeführt wurde.
Ein ähnliches Beispiel, wie die Haus-Taube, liefert unter den Säugethieren unser zahmes Kaninchen. Alle Zoologen ohne Ausnahme halten es schon seit langer Zeit für erwiesen, dass alle Rassen und Spiel-Arten desselben von dem gewöhnlichen wilden Kaninchen, also von einer einzigen Stamm-Art, abstammen. Und dennoch sind die extremsten Formen dieser Rassen in einem ganz erstaunlichen Grade von einander verschieden; jeder Zoologe, welcher dieselben in wildem Zustande anträfe, würde sie unbedenklich nicht allein für ganz verschiedene »gute Species«, sondern sogar für Arten von ganz verschiedenen Gattungen der Leporiden-Familie erklären. Nicht nur ist die Färbung, Haarlänge und sonstige Beschaffenheit des Pelzes bei den verschiedenen zahmen Kaninchen-Rassen ausserordentlich mannichfaltig und in den extremen Gegensätzen äusserst abweichend, sondern auch, was noch viel wichtiger ist, die typische Form des Skelets und seiner einzelnen Theile, besonders die Form des Schädels und des für die Systematik so wichtigen Gebisses, ferner das relative Längenverhältniss der Ohren, der Beine u. s. w. In allen diesen Beziehungen weichen die Rassen des zahmen Kaninchens unbestritten viel weiter von einander ab, als alle die verschiedenen Formen von wilden Kaninchen und Hasen, die als anerkannt »gute Species« der Gattung Lepus über die ganze Erde zerstreut sind. Und dennoch behaupten Angesichts dieser klaren Thatsache die Gegner der Entwickelungs-Theorie, dass die letzteren, die wilden Arten, nicht von einer gemeinsamen Stamm-Form abstammen können, während sie dies bei den ersteren, den zahmen Rassen, ohne Weiteres zugeben. Mit Gegnern, welche so absichtlich ihre Augen vor dem sonnenklaren Lichte der Wahrheit verschliessen, lässt sich dann freilich nicht weiter streiten.
Während so für die Haus-Taube, für das zahme Kaninchen, für das Pferd u. s. w. trotz der merkwürdigen Verschiedenheit ihrer Spiel-Arten die Abstammung von einer einzigen wilden sogenannten »Species« gesichert erscheint, so ist es dagegen für andere Hausthiere, namentlich die Hunde, Schweine und Rinder, allerdings wahrscheinlicher, dass die mannichfaltigen Rassen derselben von mehreren wilden Stamm-Arten abzuleiten sind, welche sich nachträglich im Cultur-Zustande mit einander vermischt haben. Indessen ist die Zahl dieser ursprünglichen wilden Stamm-Arten immer gering und viel kleiner als die Zahl der aus ihrer Vermischung und Züchtung hervorgegangenen Cultur-Formen. Natürlich stammen auch jene ersteren ursprünglich von einer einzigen gemeinsamen Stamm-Form der ganzen Gattung ab. Auf keinen Fall aber stammt jede besondere Cultur-Rasse von einer eigenen wilden Art ab.
Im Gegensatz hierzu behaupten fast alle Landwirthe und Gärtner mit der grössten Bestimmtheit, dass jede einzelne, von ihnen gezüchtete Rasse von einer besonderen wilden Stamm-Art abstammen müsse, weil sie die Unterschiede der Rassen scharf erkennen, die Vererbung ihrer Eigenschaften sehr hochschätzen, und nicht bedenken, dass dieselben erst durch langsame Häufung kleiner, kaum merklicher Abänderungen entstanden sind. Auch in dieser Beziehung ist die Vergleichung der Cultur-Rassen mit den wilden Species äusserst lehrreich.
Von vielen Seiten, und namentlich von den Gegnern der Entwickelungs-Theorie, ist die grösste Mühe aufgewendet worden, irgend ein morphologisches oder physiologisches Merkmal, irgend eine charakteristische Eigenschaft aufzufinden, durch welche man die künstlich gezüchteten, cultivirten »Rassen« von den natürlich entstandenen, wilden »Arten« scharf und durchgreifend trennen könne. Alle diese Versuche sind gänzlich fehlgeschlagen und haben nur mit um so grösserer Sicherheit zu dem entgegengesetzten Resultate geführt; sie haben klar gelehrt, dass eine solche Trennung gar nicht möglich ist. Ich habe dieses Verhältniss in meiner Kritik des Species-Begriffes ausführlich erörtert und durch Beispiele erläutert. (Gen. Morph. II, 323-364.)
Nur eine Seite dieser Frage mag hier noch kurz berührt werden, weil dieselbe nicht allein von den Gegnern, sondern selbst von einigen der bedeutendsten Anhänger des Darwinismus, z. B. von Huxley 17), als eine der schwächsten Seiten desselben angesehen worden ist, nämlich das Verhältniss der Bastardzeugung oder des Hybridismus. Zwischen cultivirten Rassen und wilden Arten sollte der Unterschied bestehen, dass die ersteren der Erzeugung fruchtbarer Bastarde fähig sein sollten, die letzteren nicht. Je zwei verschiedene cultivirte Rassen oder wilde Varietäten einer Species sollten in allen Fällen die Fähigkeit besitzen, mit einander Bastarde zu erzeugen, welche sich unter einander oder mit einer ihrer Eltern-Formen fruchtbar vermischen und fortpflanzen könnten. Dagegen sollten zwei wirklich verschiedene Species, zwei cultivirte oder wilde Arten einer Gattung, niemals die Fähigkeit besitzen, mit einander Bastarde zu zeugen, die unter einander oder mit einer der elterlichen Arten sich fruchtbar kreuzen könnten.
Was zunächst die erste Behauptung betrifft, so wird sie einfach durch die Tatsache widerlegt, dass es Organismen giebt, die sich mit ihren nachweisbaren Vorfahren überhaupt nicht mehr vermischen, also auch keine fruchtbare Nachkommenschaft erzeugen können. So paart sich z. B. unser cultivirtes Meerschweinchen nicht mehr mit seinem wilden brasilianischen Stammvater. Umgekehrt geht die Hauskatze von Paraguay, welche von unserer europäischen Hauskatze abstammt, keine Verbindung mehr mit dieser ein. Zwischen verschiedenen Rassen unserer Haushunde, z. B. zwischen den grossen Neufundländern und den zwerghaften Schoosshündchen, ist schon aus einfachen mechanischen Gründen eine Paarung unmöglich. Ein besonderes interessantes Beispiel aber bietet das Porto-Santo-Kaninchen dar (Lepus Huxleyi). Auf der kleinen Insel Porto-Santo bei Madeira wurden im Jahre 1419 einige Kaninchen ausgesetzt, die an Bord eines Schiffes von einem zahmen spanischen Kaninchen geboren worden waren. Diese Thierchen vermehrten sich in kurzer Zeit, da keine Raubthiere dort waren, so massenhaft, dass sie zur Landplage wurden und sogar eine dortige Colonie zur Aufhebung zwangen. Noch gegenwärtig bewohnen sie die Insel in Menge, haben sich aber im Laufe von 450 Jahren zu einer ganz eigenthümlichen Spiel-Art –, oder wenn man will »guten Art« – entwickelt, ausgezeichnet durch eigenthümliche Färbung, rattenähnliche Form, geringe Grösse, nächtliche Lebensweise und ausserordentliche Wildheit. Das Wichtigste jedoch ist, dass sich diese neue Art, die ich Lepus Huxleyi nenne, mit dem europäischen Kaninchen, von dem sie abstammt, nicht mehr kreuzt und keine Bastarde mehr damit erzeugt.
Auf der andern Seite kennen wir jetzt zahlreiche Beispiele von fruchtbaren echten Bastarden, d. h. von Mischlingen, die aus der Kreuzung von zwei ganz verschiedenen Arten hervorgegangen sind, und trotzdem sowohl unter einander, als auch mit einer ihrer Stamm-Arten sich fortpflanzen. Den Botanikern sind solche »Bastard-Arten« (Species hybridae) längst in Menge bekannt, z. B. aus den Gattungen der Distel (Cirsium), des Goldregen (Cytisus), der Brombeere (Rubus) u. s. w. Aber auch unter den Thieren sind dieselben keineswegs selten, und vielleicht sogar sehr häufig. Man kennt fruchtbare Bastarde, die aus der Kreuzung von zwei verschiedenen Arten einer Gattung entstanden sind, aus mehreren Gattungen der Schmetterlings-Ordnung (Zygaena, Saturnia), der Karpfen-Familie, der Finken, Hühner, Hunde, Katzen u. s. w. Zu den interessantesten gehört das Hasen-Kaninchen (Lepus Darwinii), der Bastard von unsern einheimischen Hasen und Kaninchen, welcher in Frankreich schon seit 1850 zu gastronomischen Zwecken in vielen Generationen gezüchtet worden ist. Ich besitze selbst durch die Güte des Professor Conrad, welcher diese Züchtungs-Versuche auf seinem Gute wiederholt hat, solche Bastarde, welche aus reiner Inzucht hervorgegangen sind, d. h. deren beide Eltern selbst Bastarde von einem Hasenvater und einer Kaninchenmutter sind. Der so erzeugte Halbblut-Bastard, welchen ich Darwin zu Ehren benannt habe, scheint sich in reiner Inzucht so gut wie jede »echte Species« durch viele Generationen fortzupflanzen. Obwohl im Ganzen mehr seiner Kaninchenmutter ähnlich, besitzt derselbe doch in der Bildung der Ohren und der Hinterbeine bestimmte Eigenschaften seines Hasenvaters. Das Fleisch schmeckt vortrefflich, mehr hasenartig, obwohl die Farbe mehr kaninchenartig ist. Nun sind aber Hase (Lepus timidus) und Kaninchen (Lepus cuniculus) zwei so verschiedene Species der Gattung Lepus, dass kein Systematiker sie als Varietäten einer Art betrachten wird. Auch haben beide Arten so verschiedene Lebensweise und im wilden Zustande so grosse Abneigung gegen einander, dass sie sich aus freien Stücken nicht vermischen. Wenn man jedoch die neugeborenen Jungen beider Arten zusammen aufzieht, so kommt diese Abneigung nicht zur Entwickelung; sie vermischen sich mit einander und erzeugen den Lepus Darwinii.
Ein anderes ausgezeichnetes Beispiel von Kreuzung verschiedener Arten (wobei die beiden Species sogar verschiedenen Gattungen angehören!) liefern die fruchtbaren Bastarde von Schafen und Ziegen, die in Chile seit langer Zeit zu industriellen Zwecken gezogen werden. Welche unwesentlichen Umstände bei der geschlechtlichen Vermischung die Fruchtbarkeit der verschiedenen Arten bedingen, das zeigt der Umstand, dass Ziegenböcke und Schafe bei ihrer Vermischung fruchtbare Bastarde erzeugen, während Schafbock und Ziege sich überhaupt selten paaren, und dann ohne Erfolg. So sind also die Erscheinungen des Hybridismus, auf welche man irrthümlicherweise ein ganz übertriebenes Gewicht gelegt hat, für den Species-Begriff gänzlich bedeutungslos. Die Bastard-Zeugung setzt uns eben so wenig, als irgend eine andere Erscheinung, in den Stand, die cultivirten Rassen von den wilden Arten durchgreifend zu unterscheiden. Dieser Umstand ist aber von der grössten Bedeutung für die Selections-Theorie.