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Die Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie als die einheitliche Erklärung der organischen Natur-Erscheinungen durch natürliche wirkende Ursachen. Vergleichung derselben mit Newtons Gravitations-Theorie. Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung und der menschlichen Erkenntniss überhaupt. Alle Erkenntniss ursprünglich durch sinnliche Erfahrung bedingt, aposteriori. Uebergang der aposteriorischen Erkenntnisse durch Vererbung in apriorische Erkenntnisse. Gegensatz der übernatürlichen Schöpfungs-Geschichten von Linné, Cuvier, Agassiz, und der natürlichen Entwickelungs-Theorien von Lamarck, Goethe, Darwin. Zusammenhang der ersteren mit der monistischen (mechanischen), der letzteren mit der dualistischen (teleologischen) Weltanschauung. Monismus und Materialismus. Wissenschaftlicher und sittlicher Materialismus. Schöpfungs-Geschichte des Moses. Linné als Begründer der systematischen Naturbeschreibung und Artunterscheidung. Linné's Classification und binäre Nomenclatur. Bedeutung des Species-Begriffs bei Linné. Seine Schöpfungs-Geschichte. Linne's Ansicht von der Entstehung der Arten.
Meine Herren! Der Werth einer jeden naturwissenschaftlichen Theorie wird sowohl durch die Anzahl und das Gewicht der zu erklärenden Gegenstände gemessen, als auch durch die Einfachheit und Allgemeinheit der bewirkenden Ursachen oder der wahren Erklärungsgründe. Je grösser einerseits die Anzahl, je wichtiger die Bedeutung der durch die Theorie zu erklärenden Erscheinungen ist, und je einfacher andrerseits, je allgemeiner die Ursachen sind, welche die Theorie zur Erklärung in Anspruch nimmt, desto höher ist ihr wissenschaftlicher Werth, desto sicherer bedienen wir uns ihrer Leitung, desto mehr sind wir verpflichtet zu ihrer Annahme.
Denken Sie z. B. an diejenige Theorie, welche bisher als der grösste Erwerb des menschlichen Geistes galt, an die Gravitationstheorie, welche der Engländer Newton vor 200 Jahren in seinen mathematischen Principien der Naturphilosophie begründete. Hier finden Sie das zu erklärende Object so gross genommen als Sie es nur denken können. Er unternahm es, die Bewegungs-Erscheinungen der Planeten und den Bau des Weltgebäudes auf mathematische Gesetze zurückzuführen. Als die höchst einfache Ursache dieser verwickelten Bewegungs-Erscheinungen begründete Newton das Gesetz der Schwere oder der Massenanziehung, dasselbe, welches die Ursache des Falles der Körper, der Adhäsion, der Cohäsion und vieler anderen Erscheinungen ist.
Wenn Sie nun den gleichen Maassstab an die Theorie Darwins anlegen, so müssen Sie zu dem Schluss kommen, dass diese ebenfalls zu den grössten Eroberungen des menschlichen Geistes gehört, und dass sie sich unmittelbar neben die Gravitations-Theorie Newtons stellen kann. Vielleicht erscheint Ihnen dieser Ausspruch übertrieben oder wenigstens sehr gewagt; ich hoffe Sie aber im Verlauf dieser Vorträge zu überzeugen, dass diese Schätzung nicht zu hoch gegriffen ist. In der vorigen Stunde wurden bereits einige der wichtigsten und allgemeinsten Erscheinungen aus der organischen Natur namhaft gemacht, welche durch Darwins Theorie erklärt werden. Dahin gehören vor Allen die Formveränderungen bei der individuellen Entwickelung der Organismen, äusserst mannichfaltige und verwickelte Erscheinungen, welche bisher einer mechanischen Erklärung, d. h. einer Zurückführung auf wirkende Ursachen die grössten Schwierigkeiten in den Weg legten. Wir haben die rudimentären Organe erwähnt, jene ausserordentlich merkwürdigen Einrichtungen in den Thier- und Pflanzenkörpern, welche keinen Zweck haben, welche jede teleologische, jede nach einem Endzweck des Organismus suchende Erklärung vollständig widerlegen. Es liesse sich noch eine grosse Anzahl von anderen Erscheinungen anführen, die nicht minder wichtig sind, die bisher nicht minder räthselhaft erschienen, und die in der einfachsten Weise durch die von Darwin reformirte Abstammungs-Lehre erklärt werden. Ich erwähne vorläufig noch die Erscheinungen, welche uns die geographische Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten auf der Oberfläche unseres Planeten, sowie die geologische Vertheilung der ausgestorbenen und versteinerten Organismen in den verschiedenen Schichten der Erdrinde darbietet. Auch diese wichtigen paläontologischen und geographischen Gesetze, welche wir bisher nur als Thatsachen kannten, werden durch die Abstammungslehre in ihren wirkenden Ursachen erkannt. Dasselbe gilt ferner von allen allgemeinen Gesetzen der vergleichenden Anatomie, insbesondere von dem grossen Gesetze der Arbeitstheilung oder Sonderung (Polymorphismus oder Differenzirung); dieses Gesetz ist ebenso in der ganzen menschlichen Gesellschaft, wie in der Organisation des einzelnen Thier- und Pflanzenkörpers die wichtigste gestaltende Ursache, diejenige Ursache, welche ebenso eine immer grössere Mannichfaltigkeit, wie eine fortschreitende Entwickelung der organischen Formen bedingt. In gleicher Weise, wie dieses bisher nur als Thatsache erkannte Gesetz der Arbeitstheilung, wird auch das Gesetz der fortschreitenden Entwickelung oder das Gesetz des Fortschritts, welches wir ebenso in der Geschichte der Völker, wie in der Geschichte der Thiere und Pflanzen überall wirken sehen, in seinem Ursprung durch die Abstammungs-Lehre erklärt. Und wenn Sie endlich Ihre Blicke auf das grosse Ganze der organischen Natur richten, wenn Sie vergleichend alle grossen Erscheinungsgruppen dieses ungeheuren Lebensgebietes zusammenfassen, so stellt sich Ihnen dasselbe im Lichte der Abstammungs-Lehre nicht mehr als das künstlich ausgedachte Werk eines planmässig bauenden Schöpfers dar, sondern als die nothwendige Folge wirkender Ursachen, welche in der chemischen Zusammensetzung der Materie selbst und in ihren physikalischen Eigenschaften liegen.
Man kann also im weitesten Umfang behaupten (und ich hoffe diese Behauptung im Verlaufe meiner Vorträge zu rechtfertigen), dass die Abstammungs-Lehre uns zum ersten Male in die Lage versetzt, die Gesammtheit aller organischen Naturerscheinungen auf ein einziges Gesetz zurückzuführen, eine einzige wirkende Ursache für das unendlich verwickelte Getriebe dieser ganzen reichen Erscheinungswelt aufzufinden. In dieser Beziehung stellt sie sich ebenbürtig Newtons Gravitations-Theorie an die Seite; ja sie erhebt sich vielleicht noch über dieselbe!
Aber auch die Erklärungsgründe sind hier nicht minder einfach, wie dort. Es sind nicht neue, bisher unbekannte Eigenschaften des Stoffes, welche Darwin zur Erklärung dieser höchst verwickelten Erscheinungswelt herbeizieht; es sind nicht etwa Entdeckungen neuer Verbindungs-Verhältnisse der Materie, oder neuer Organisationskräfte derselben; sondern es ist lediglich die ausserordentlich geistvolle Verbindung, die synthetische Zusammenfassung und denkende Vergleichung einer Anzahl längst bekannter Thatsachen, durch welche er das »heilige Räthsel« der lebendigen Formenwelt löst. Die erste Rolle spielt dabei die Erwägung der Wechselbeziehungen, welche zwischen zwei allgemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen bestehen, den Functionen der Vererbung und der Anpassung. Lediglich durch Erwägung des Wechselverhältnisses zwischen diesen beiden Lebensthätigkeiten oder physiologischen Functionen der Organismen, sowie ferner durch Erwägung der gegenseitigen Beziehungen, welche alle an einem und demselben Orte zusammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwendig zu einander besitzen – lediglich durch richtige Würdigung dieser einfachen Thatsachen, und durch die geschickte Verbindung derselben ist es Darwin möglich geworden, in denselben die wahren wirkenden Ursachen (causae efficientes) für die unendlich verwickelten Gestaltungen der organischen Natur zu finden.
Wir sind nun verpflichtet, diese Theorie auf jeden Fall anzunehmen und so lange zu behaupten, bis sich eine bessere findet, die es unternimmt, die gleiche Fülle von Thatsachen ebenso einfach zu erklären. Bisher entbehrten wir einer solchen Theorie vollständig. Zwar war der Grundgedanke nicht neu, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzenformen von einigen wenigen oder sogar von einer einzigen höchst einfachen Grundform abstammen müssen. Dieser Gedanke war längst ausgesprochen und zuerst von dem grossen Lamarck 2) im Anfang unseres Jahrhunderts bestimmt formulirt worden. Allein Lamarck sprach doch eigentlich bloss die Hypothese der gemeinsamen Abstammung aus, ohne sie durch Erläuterung der wirkenden Ursachen genügend zu begründen. Und gerade in dem Nachweis dieser Ursachen liegt der ausserordentliche Fortschritt, welchen Darwin über Lamarcks Theorie hinaus gethan hat. Er fand in der physiologischen Vererbungs- und Anpassungs-Fähigkeit der organischen Materie die wahre Ursache jenes genealogischen Verhältnisses auf. Auch konnte der geistvolle Lamarck noch nicht über das gewaltige Material biologischer Thatsachen gebieten, welches durch die emsigen zoologischen und botanischen Forschungen der letzten achtzig Jahre angesammelt und von Darwin zu einem überwältigenden Beweis-Apparat verwerthet wurde.
Die Theorie Darwins ist also nicht, wie seine Gegner häufig behaupten, eine beliebige, aus der Luft gegriffene, bodenlose Hypothese. Es liegt nicht im Belieben der einzelnen Zoologen und Botaniker, ob sie dieselbe als erklärende Theorie annehmen wollen oder nicht. Vielmehr sind sie dazu gezwungen und verpflichtet nach dem allgemeinen, in den Naturwissenschaften überhaupt gültigen Grundsatze, dass wir zur Erklärung der Erscheinungen jede mit den wirklichen Thatsachen vereinbarte, wenn auch nur schwach begründete Theorie so lange annehmen und beibehalten müssen, bis sie durch eine bessere ersetzt wird. Wenn wir dies nicht thun, so verzichten wir auf eine wissenschaftliche Erklärung der Erscheinungen, und das ist in der That der Standpunkt, den Viele noch gegenwärtig einnehmen. Sie betrachten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthsel und halten die Entstehung der Thier- und Pflanzenarten, die Erscheinungen ihrer Entwickelung und Verwandtschaft für ganz unerklärlich., für ein Wunder; sie wollen von einem wahren Verständniss derselben überhaupt nichts wissen.
Diejenigen Gegner Darwins, welche nicht geradezu in dieser Weise auf eine biologische Erklärung verzichten wollen, pflegen freilich zu sagen: »Darwins Lehre von dem gemeinschaftlichen Ursprung der verschiedenartigen Organismen ist nur eine Hypothese; wir stellen ihr eine andere entgegen, die Hypothese, dass die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abstammung sich auseinander entwickelt haben, sondern dass sie unabhängig von einander durch ein noch unentdecktes Naturgesetz entstanden sind.« So lange aber nicht gezeigt wird, wie diese Entstehung zu denken ist, und was das für ein »Naturgesetz« ist, so lange nicht einmal wahrscheinliche Erklärungsgründe geltend gemacht werden können, welche für eine unabhängige Entstehung der Thier- und Pflanzenarten sprechen, so lange ist diese Gegenhypothese in der That keine Hypothese, sondern eine leere, nichtssagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer Hypothese. Denn eine wissenschaftliche Hypothese ist eine Annahme, welche sich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die sinnliche Erfahrung wahrgenommene Eigenschaften oder Bewegungs-Erscheinungen der Naturkörper stützt. Darwins Lehre aber nimmt keine derartigen unbekannten Verhältnisse an; sie gründet sich auf längst anerkannte allgemeine Eigenschaften der Organismen. Aber die ausserordentliche geistvolle, umfassende Verbindung einer Menge bisher vereinzelt dagestandener Erscheinungen verleiht dieser Theorie ihren hohen inneren Werth. Mit ihrer Hülfe vermögen wir für die Gesammtheit aller uns bekannten morphologischen Erscheinungen in der Thier- und Pflanzenwelt eine bewirkende Ursache nachzuweisen; und zwar ist diese wahre Ursache immer ein und dieselbe, nämlich die Wechselwirkung der Anpassung und Vererbung. Diese ist aber ein physiologisches Verhältniss, und als solches durch physikalisch-chemische oder mechanische Ursachen bedingt. Aus diesen Gründen ist die Annahme der durch Darwin mechanisch begründeten Abstammungs-Lehre für die gesammte Zoologie und Botanik eine zwingende und unabweisbare Nothwendigkeit.
Da nach meiner Ansicht also die unermessliche Bedeutung unserer neuen Entwickelungs-Lehre darin liegt, dass sie die bisher nicht erklärten organischen Formerscheinungen mechanisch erklärt, so ist es wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort über den vieldeutigen Begriff der Erklärung einzuschalten. Häufig wird dem Transformismus entgegengehalten, dass er allerdings jene Erscheinungen durch die Vererbung und Anpassung vollkommen erkläre, dass dadurch aber nicht diese Eigenschaften der organischen Materie selbst erklärt werden, dass wir nicht zu den letzten Gründen gelangen. Dieser Einwurf ist ganz richtig; allein er gilt in dieser Weise von allen Erscheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniss der letzten Gründe. Die Entstehung jedes einfachen Salzkrystalles, den wir beim Abdampfen einer Mutterlauge erhalten, ist uns im letzten Grunde nicht minder räthselhaft, und an sich nicht minder unbegreiflich, als die Entstehung jedes Thieres, das sich aus einer einfachen Eizelle entwickelt. Bei Erklärung der einfachsten physikalischen oder chemischen Erscheinungen, z. B. des Falles eines Steins oder der Bildung einer chemischen Verbindung gelangen wir durch Auffindung der wirkenden Ursachen, z. B. der Schwerkraft oder der chemischen Verwandtschaft, zu anderen weiter zurückliegenden Erscheinungen, die an und für sich Räthsel sind. Das liegt in der Beschränktheit oder Relativität unseres Erkenntniss-Vermögens. Wir dürfen niemals vergessen, dass die menschliche Erkenntniss-Fähigkeit allerdings absolut beschränkt ist und nur eine relative Ausdehnung besitzt. Sie ist zunächst schon beschränkt durch die Beschaffenheit unserer Sinne und unseres Gehirns.
Ursprünglich stammt alle Erkenntniss aus der sinnlichen Wahrnehmung. Man führt wohl dieser gegenüber die angeborene, a priori gegebene Erkenntniss des Menschen an; indessen können wir mit Hülfe der Descendenz-Theorie nachweisen, dass die sogenannten apriorischen Erkenntnisse anfänglich a posteriori erworben, in ihren letzten Gründen durch Erfahrungen bedingt sind. Erkenntnisse, welche ursprünglich auf rein sinnlichen Wahrnehmungen beruhen, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch erhalten und vererbt werden, treten bei den jüngeren Generationen angeboren auf; ebenso wie die sogenannten Instincte der Thiere. Von unseren uralten thierischen Voreltern sind alle sogenannten »Erkenntnisse a priori« ursprünglich a posteriori gefasst worden und erst durch Vererbung allmählich zu apriorischen geworden; sie beruhen in letzter Instanz auf Erfahrungen. Die Gesetze der Vererbung und Anpassung erklären uns, wie die Erkenntnisse a priori ursprünglich aus Erkenntnissen a posteriori sich entwickelt haben. Die sinnliche Erfahrung ist die ursprüngliche Quelle aller Erkenntnisse. Schon aus diesem Grunde bleibt alle unsere Wissenschaft beschränkt, und niemals vermögen wir die letzten Gründe irgend einer Erscheinung zu erfassen. Die Krystallisationskraft, die Schwerkraft und die chemische Verwandtschaft bleiben uns, an und für sich, eben so unbegreiflich, wie die Anpassung und die Vererbung, wie der Wille und das Bewusstsein.
Wenn uns nun die heutige Descendenz-Theorie die Gesammtheit aller vorhin zusammengefassten Erscheinungen aus einem einzigen Gesichtspunkt erklärt, wenn sie eine und dieselbe Beschaffenheit des Organismus als die wirkende Ursache nachweist, so leistet sie vorläufig Alles, was wir verlangen können. Ausserdem lässt sich aber auch mit gutem Grunde hoffen, dass wir die letzten, von Darwin gefundenen Ursachen, nämlich die Eigenschaften der Erblichkeit und der Anpassungsfähigkeit, noch weiter werden erklären lernen; dass wir z. B. dahin gelangen werden, die Molekular-Verhältnisse in der Zusammensetzung der Eiweissstoffe als die weiter zurückliegenden, einfachen Gründe jener Erscheinungen aufzudecken. Freilich ist in der nächsten Zukunft hierzu noch keine Aussicht, und wir begnügen uns vorläufig mit jener Zurückführung, wie wir uns in der Newton'schen Theorie mit der Zurückführung der Planeten-Bewegungen auf die Schwerkraft begnügen. Die Schwerkraft selbst ist uns ebenfalls ein Räthsel, an sich nicht erkennbar.
Bevor wir nun an unsere Hauptaufgabe, an die eingehende Erörterung der Abstammungs-Lehre und der aus ihr sich ergebenden Folgerungen herantreten, lassen Sie uns einen geschichtlichen Rückblick auf die wichtigsten und verbreitetsten von denjenigen Ansichten werfen, welche sich die Menschen vor Darwin über die organische Schöpfung, über die Entstehung der mannichfaltigen Thier- und Pflanzenarten gebildet hatten. Es liegt dabei keineswegs in meiner Absicht, Sie mit einem vergleichenden Ueberblick über alle die zahlreichen Schöpfungs-Dichtungen der verschiedenen Völker zu unterhalten. So interessant und lohnend diese Aufgabe, sowohl in ethnographischer als in culturhistorischer Beziehung, auch wäre, so würde uns dieselbe doch hier viel zu weit führen. Auch trägt die übergrosse Mehrzahl aller dieser Schöpfungssagen zu sehr das Gepräge willkürlicher Dichtung und des Mangels eingehender Naturbetrachtung, als dass dieselben für eine naturwissenschaftliche Behandlung der Schöpfungs-Geschichte von Interesse wären. Ich werde daher von den nicht wissenschaftlich begründeten Schöpfungs-Geschichten bloss die mosaische hervorheben, wegen des beispiellosen Einflusses, den diese morgenländische Sage in der abendländischen Culturwelt gewonnen hat. Dann werde ich sogleich zu den wissenschaftlich formulirten Schöpfungs-Hypothesen übergehen, welche erst nach Beginn des verflossenen Jahrhunderts, mit Linné, ihren Anfang nahmen.
Alle verschiedenen Vorstellungen, welche sich die Menschen jemals von der Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten gemacht haben, lassen sich füglich in zwei entgegengesetzte Gruppen bringen, in natürliche und übernatürliche Schöpfungs-Geschichten.
Diese beiden Gruppen entsprechen im Grossen und Ganzen den beiden verschiedenen Hauptformen der menschlichen Weltanschauung, welche wir vorher als monistische (einheitliche) und dualistische (zwiespältige) Naturauffassung gegenüber gestellt haben. Die gewöhnliche dualistische oder teleologische (vitale) Weltanschauung muss die organische Natur als das zweckmässig ausgeführte Product eines planvoll wirkenden Schöpfers ansehen. Sie muss in jeder einzelnen Thier- und Pflanzenart einen »verkörperten Schöpfungs-Gedanken« erblicken, den materiellen Ausdruck einer zweckmässig thätigen Endursache oder einer zweckthätigen Ursache (causa finalis). Sie muss nothwendig übernatürliche (nicht mechanische) Vorgänge für die Entstehung der Organismen in Anspruch nehmen. Wir dürfen sie daher mit Recht als übernatürliche Schöpfungs-Geschichte bezeichnen. Von allen hierher gehörigen teleologischen Schöpfungs-Geschichten gewann diejenige des Moses den grössten Einfluss, da sie durch so bedeutende Naturforscher, wie Linné, selbst in der Naturwissenschaft allgemeinen Eingang fand. Auch die Schöpfungs-Ansichten von Cuvier und Agassiz, und überhaupt von den meisten älteren Naturforschern gehören in diese dualistische Gruppe.
Die von Darwin ausgebildete Entwicklungs-Theorie dagegen, welche wir hier als natürliche Schöpfungs-Geschichte zu behandeln haben, und welche bereits von Goethe und Lamarck angebahnt wurde, muss bei folgerichtiger Durchführung schliesslich nothwendig zu der monistischen oder mechanischen (causalen) Weltanschauung hinleiten. Im Gegensatze zu jener dualistischen oder teleologischen Naturauffassung betrachtet dieselbe die Formen der organischen Naturkörper, ebenso wie diejenigen der anorganischen, als die nothwendigen Producte natürlicher Kräfte. Sie erblickt in den einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht verkörperte Gedanken des persönlichen Schöpfers, sondern den zeitweiligen Ausdruck eines mechanischen Entwickelungs-Ganges der Materie, den Ausdruck einer nothwendig wirkenden Ursache oder einer mechanischen Ursache (causa efficiens). Wo der teleologische Dualismus in den Schöpfungs-Wundern die willkürlichen Einfälle eines launenhaften Schöpfers aufsucht, da findet der causale Monismus in den Entwickelungs-Processen die nothwendigen Wirkungen ewiger und unabänderlicher Naturgesetze.
Man hat diesen, hier von uns vertretenen Monismus auch oft für identisch mit dem Materialismus erklärt. Da man demgemäss auch den Darwinismus und überhaupt die ganze Entwickelungs-Theorie als »materialistisch« bezeichnet hat, so kann ich nicht umhin, schon hier mich von vornherein gegen die Zweideutigkeit dieser Bezeichnung und gegen die Arglist, mit welcher dieselbe von mehreren Seiten zur Entstellung unserer Lehre benutzt wird, ausdrücklich zu verwahren.
Unter dem Stichwort »Materialismus« werden sehr allgemein zwei gänzlich verschiedene Dinge mit einander verwechselt und vermengt, die im Grunde gar Nichts mit einander zu thun haben, nämlich der naturwissenschaftliche und der sittliche Materialismus. Der sogenannte naturwissenschaftliche Materialismus ist in gewissem Sinne mit unserem Monismus identisch. Denn er behauptet im Grunde weiter nichts, als dass Alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht, dass jede Wirkung ihre Ursache und jede Ursache ihre Wirkung hat. Er stellt also über die Gesammtheit aller uns erkennbaren Erscheinungen das mechanische Causal-Gesetz, oder das Gesetz von dem nothwendigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dagegen verwirft er entschieden jeden Wunderglauben und jede wie immer geartete Vorstellung von übernatürlichen Vorgängen. Für ihn giebt es daher eigentlich in dem ganzen Gebiete menschlicher Erkenntniss nirgends mehr eine wahre Metaphysik, sondern überall nur Physik. Für ihn ist der unzertrennliche Zusammenhang von Stoff, Form und Kraft selbstverständlich. Dieser wissenschaftliche Materialismus ist auf dem ganzen grossen Gebiete der anorganischen Naturwissenschaft, in der Physik und Chemie, in der Mineralogie und Geologie, längst so allgemein anerkannt, dass kein Mensch mehr seine alleinige Berechtigung in Zweifel zieht. Ganz anders verhält es sich jedoch in der Biologie, in der organischen Naturwissenschaft, wo man die Geltung desselben noch fortwährend von vielen Seiten her bestreitet, ihm aber nichts Anderes, als das metaphysische Gespenst der Lebenskraft, oder gar nur theologische Dogmen, entgegenhalten kann. Wenn wir nun aber den Beweis führen können, dass die ganze erkennbare Natur nur Eine ist, dass dieselben »ewigen, ehernen, grossen Gesetze« in dem Leben der Thiere und Pflanzen, wie in dem Wachsthum der Krystalle und in der Triebkraft des Wasserdampfes thätig sind, so werden wir auch auf dem gesammten Gebiete der Biologie, in der Zoologie wie in der Botanik, überall mit demselben Rechte den monistischen oder mechanischen Standpunkt festhalten, mag man denselben nun als »Materialismus« verdächtigen oder nicht. In diesem Sinne ist die ganze exacte Naturwissenschaft, und an ihrer Spitze das Causal-Gesetz, rein »materialistisch«. Man könnte sie aber mit demselben Rechte auch rein »spiritualistisch« nennen, wenn man nur consequent die einheitliche Betrachtung für alle Erscheinungen ohne Ausnahme durchführt. Denn eben durch diese consequente Einheit gestaltet sich unser heutiger Monismus zur Versöhnung von Idealismus und Realismus, zur Ausgleichung des einseitigen Spiritualismus und Materialismus.
Ganz etwas Anderes als dieser naturwissenschaftliche ist der sittliche oder ethische Materialismus, der mit dem ersteren gar Nichts gemein hat. Dieser »eigentliche« Materialismus verfolgt in seiner practischen Lebensrichtung kein anderes Ziel, als den möglichst raffinirten Sinnengenuss. Er schwelgt in dem traurigen Wahne, dass der rein sinnliche Genuss dem Menschen wahre Befriedigung geben könne, und indem er diese in keiner Form der Sinnenlust finden kann, stürzt er sich schmachtend von einer zur andern. Die tiefe Wahrheit, dass der eigentliche Werth des Lebens nicht im materiellen Genuss, sondern in der sittlichen That, und dass die wahre Glückseligkeit nicht in äusseren Glücksgütern, sondern nur in tugendhaftem Lebenswandel beruht, bleibt jenem ethischen Materialismus unbekannt. Daher sucht man denselben auch vergebens bei solchen Naturforschern und Philosophen, deren höchster Genuss der geistige Naturgenuss und deren höchstes Ziel die Erkenntniss der Naturgesetze ist. Diesen Materialismus muss man in den Palästen der Kirchenfürsten und bei allen jenen Heuchlern suchen, welche unter der äusseren Maske frommer Gottesverehrung nur hierarchische Tyrannei und materielle Ausbeutung ihrer Mitmenschen erstreben. Stumpf für den unendlichen Adel der sogenannten »rohen Materie« und der aus ihr entspringenden herrlichen Erscheinungswelt, unempfindlich für die unerschöpflichen Reize der Natur, wie ohne Kenntniss von ihren Gesetzen, verketzern dieselben die ganze Naturwissenschaft und die aus ihr entspringende Bildung als sündlichen Materialismus, während sie selbst dem letzteren in der widerlichsten Gestalt fröhnen. Nicht allein die ganze Geschichte der »unfehlbaren« Päpste mit ihrer endlosen Kette von gräulichen Verbrechen, sondern auch die widerwärtige Sitten-Geschichte der Orthodoxie in allen Religionsformen liefert hierfür genügende Beweise.
Um nun in Zukunft die übliche Verwechselung dieses ganz verwerflichen sittlichen Materialismus mit unserem naturphilosophischen Materialismus zu vermeiden, und um überhaupt das einseitige Missverständniss des letzteren zu beseitigen, halten wir es für nöthig, denselben entweder Monismus oder Causalismus zu nennen. Das Princip dieses Monismus ist dasselbe, was Kant das Princip des Mechanismus« nennt; und Kant erklärt ausdrücklich, dass es ohne dasselbe überhaupt keine Naturwissenschaft geben könne. Dieses Princip ist von unserer »natürlichen Schöpfungs-Geschichte« ganz untrennbar, und kennzeichnet dieselbe gegenüber dem teleologischen Wunderglauben der übernatürlichen Schöpfungs-Geschichte.
Lassen Sie uns nun zunächst einen Blick auf die wichtigste von allen übernatürlichen Schöpfungs-Geschichten werfen, diejenige des Moses, wie sie uns durch die alte Geschichts- und Gesetzes-Urkunde des jüdischen Volkes, durch die Bibel, überliefert worden ist. Bekanntlich ist die mosaische Schöpfungs-Geschichte, wie sie im ersten Capitel der Genesis den Eingang zum alten Testament bildet, in der ganzen jüdischen und christlichen Culturwelt bis auf den heutigen Tag fast allgemein in Geltung geblieben. Dieser ausserordentliche Erfolg erklärt sich nicht allein aus der engen Verbindung derselben mit den jüdischen und christlichen Glaubenslehren, sondern auch aus dem einfachen und natürlichen Ideengang, welcher dieselbe durchzieht, und welcher vortheilhaft gegen die bunte Schöpfungs-Mythologie der meisten anderen Völker des Alterthums absticht. Zuerst schafft Gott der Herr die Erde als anorganischen Weltkörper. Dann scheidet er Licht und Finsterniss, darauf Wasser und Festland. Nun erst ist die Erde für Organismen bewohnbar geworden und es werden zunächst die Pflanzen, später erst die Thiere erschaffen, und zwar von den letzteren zuerst die Bewohner des Wassers und der Luft, später erst die Bewohner des Festlandes. Endlich zuletzt von allen Organismen schafft Gott den Menschen, sich selbst zum Ebenbilde und zum Beherrscher der Erde.
Zwei grosse und wichtige Grundgedanken der natürlichen Entwickelungslehre treten uns in dieser Schöpfungs-Hypothese des Moses mit überraschender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fortschreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Moses diese grossen Gesetze der organischen Entwickelung, die wir später als nothwendige Folgerungen der Abstammungs-Lehre nachweisen werden, als die unmittelbare Bildungs-Thätigkeit eines gestaltenden Schöpfers ansieht, kann man doch darin den erhabeneren Gedanken einer fortschreitenden Entwickelung und Differenzirung der ursprünglich einfachen Materie finden. Wir können daher dem grossartigen Naturverständniss des jüdischen Gesetzgebers und der einfach natürlichen Fassung seiner Schöpfungs-Hypothese unsere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen, ohne darin eine sogenannte »göttliche Offenbarung« zu erblicken. Dass sie dies nicht sein kann, geht einfach schon daraus hervor, dass darin zwei grosse Grundirrthümer behauptet werden, nämlich erstens der geocentrische Irrthum, dass die Erde der feste Mittelpunkt der ganzen Welt sei, um welchen sich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentrische Irrthum, dass der Mensch das vorbedachte Endziel der irdischen Schöpfung, und nur für seinen Dienst die ganze übrige Natur geschaffen sei. Der erstere Irrthum wurde durch Copernicus' Weltsystem im Beginn des sechszehnten, der letztere durch Lamarcks Abstammungs-Lehre im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vernichtet.
Trotzdem durch Copernicus bereits der geocentrische Irrthum der mosaischen Schöpfungs-Geschichte nachgewiesen und damit die Autorität derselben als einer absolut vollkommenen göttlichen Offenbarung aufgehoben wurde, erhielt sich dieselbe dennoch bis auf den heutigen Tag in solchem Ansehen, dass sie in weiten Kreisen das Haupthinderniss für die Annahme einer natürlichen Entwickelungs-Theorie bildet. Bekanntlich haben selbst viele Naturforscher noch in unserem Jahrhundert versucht, dieselbe mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft, insbesondere der Geologie, in Einklang zu bringen; so hat man z. B. die sieben Schöpfungstage des Moses als sieben grosse geologische Perioden gedeutet. Indessen sind alle diese künstlichen Deutungsversuche so vollkommen verfehlt, dass sie hier keiner Widerlegung bedürfen. Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Werk, sondern eine Geschichts-, Gesetzes- und Religions-Urkunde des jüdischen Volkes, deren hoher culturgeschichtlicher Werth dadurch nicht geschmälert wird, dass sie in allen naturwissenschaftlichen Fragen ohne jede massgebende Bedeutung und voll von groben Irrthümern ist.
Wir können nun einen grossen Sprung von mehr als drei Jahrtausenden machen, von Moses, welcher ungefähr um das Jahr 1480 vor Christus starb, bis auf Linné, welcher 1707 nach Christus geboren wurde. Während dieses ganzen Zeitraums wurde keine Schöpfungs-Geschichte aufgestellt, welche eine bleibende Bedeutung gewann, oder deren nähere Betrachtung an diesem Orte von Interesse wäre. Insbesondere während der letzten 1500 Jahre, als das Christenthum die Weltherrschaft gewann, blieb die mit dessen Glaubens-Lehren verknüpfte mosaische Schöpfungs-Geschichte so allgemein herrschend, dass erst das neunzehnte Jahrhundert sich entschieden dagegen aufzulehnen wagte. Selbst der grosse schwedische Naturforscher Linné, der Begründer der neueren Naturgeschichte, schloss sich in seinem Natursystem auf das Engste an die Schöpfungs-Geschichte des Moses an.
Der ausserordentliche Fortschritt, welchen Karl Linné in den sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften that, besteht bekanntlich in der Aufstellung eines Systems der Thier- und Pflanzenarten; er führte dasselbe in so folgerichtiger und logisch vollendeter Form durch, dass es bis auf den heutigen Tag in vielen Beziehungen die Richtschnur für alle folgenden, mit den Formen der Thiere und Pflanzen sich beschäftigenden Naturforscher geblieben ist. Obgleich das »Systema naturae« von Linné (1735 erschienen) ein künstliches war, obgleich er für die Classification der Thier- und Pflanzen-Arten nur einzelne Merkmale als Eintheilungs-Grundlagen anwendete, hat dennoch dieses System sich den grössten Erfolg errungen; erstens durch seine consequente Durchführung, und zweitens durch seine ungemein wichtig gewordene Benennungsweise der Naturkörper, auf welche wir hier nothwendig eine Blick werfen müssen. Nachdem man nämlich vor Linné sich vergeblich abgemüht hatte, in das unendliche Chaos der schon damals bekannten verschiedenen Thier- und Pflanzen-Formen durch irgend eine passende Namengebung und Zusammenstellung Licht zu bringen, gelang es Linné durch Aufstellung der sogenannten »binären Nomenclatur« mit einem glücklichen Griff diese wichtige und schwierige Aufgabe zu lösen. Die binäre Nomenclatur oder die zweifache Benennung wie sie Linné zuerst aufstellte, wird noch heutigen Tages ganz allgemein von allen Zoologen und Botanikern angewendet und wird sich unzweifelhaft sehr lange noch in gleicher Geltung erhalten. Sie besteht darin, dass jede Thier- und Pflanzenart mit zwei Namen bezeichnet wird, welche sich ähnlich verhalten, wie Tauf- und Familien-Namen der menschlichen Individuen. Der besondere Name, welcher dem menschlichen Taufnamen entspricht, drückt den Begriff der Art (Species) aus; er dient zur gemeinschaftlichen Bezeichnung aller thierischen oder pflanzlichen Einzelwesen, welche in allen wesentlichen Formeigenschaften sich gleich sind. und sich nur durch ganz untergeordnete Merkmale unterscheiden. Der allgemeinere Name dagegen, welcher dem menschlichen Familiennamen entspricht, drückt den Begriff der Gattung (Genus) aus; er dient zur gemeinschaftlichen Bezeichnung aller nächst ähnlichen Arten oder Species. Der allgemeinere, umfassende Genusname wird nach Linné's allgemein gültiger Benennungsweise vorangesetzt; der besondere, untergeordnete Speciesname folgt ihm nach. So z. B. heisst die Hauskatze Felis domestica, die wilde Katze Felis catus, der Panther Felis pardus, der Jaguar Felis onca, der Tiger Felis tigris, der Löwe Felis leo; alle sechs Raubthierarten sind verschiedene Species eines und desselben Genus: Felis. Oder, um ein Beispiel aus der Pflanzenwelt hinzuzufügen, so heisst nach Linné's Benennung die Fichte Pinus abies, die Tanne Pinus picea, die Lärche Pinus larix, die Pinie Pinus pinea, die Zirbelkiefer Pinus cembra, die Ceder Pinus cedrus, die gewöhnliche Kiefer Pinus silvestris; alle sieben Nadelholzarten sind verschiedene Species eines und desselben Genus: Pinus.
Vielleicht scheint Ihnen dieser von Linné herbeigeführte Fortschritt in der practischen Unterscheidung und Benennung der vielgestaltigen Organismen nur von untergeordneter Wichtigkeit zu sein. Allein in Wirklichkeit war er von der allergrössten Bedeutung, und zwar sowohl in practischer als in theoretischer Beziehung. Denn es wurde nun erst möglich, die Unmasse der verschiedenartigen organischen Formen nach dem grösseren oder geringeren Grade ihrer Aehnlichkeit zusammenzustellen und übersichtlich in dem Fachwerk des Systems zu ordnen. Die Registratur dieses Fachwerks machte Linné dadurch noch übersichtlicher, dass er die nächstähnlichen Gattungen (Genera) in sogenannte Ordnungen (Ordines) zusammenstellte, und dass er die nächstähnlichen Ordnungen in noch umfassenderen Hauptabtheilungen, den Classen (Classes) vereinigte. Es zerfiel also zunächst jedes der beiden organischen Reiche nach Linné in eine geringe Anzahl von Classen; das Pflanzenreich in 24 Classen, das Thierreich in 6 Classen. Jede Classe enthielt wieder mehrere Ordnungen. Jede einzelne Ordnung konnte eine Mehrzahl von Gattungen und jede einzelne Gattung wiederum mehrere Arten enthalten.
Der practische Nutzen, welchen Linné's binäre Nomenclatur sofort für eine übersichtliche systematische Unterscheidung, Benennung, Anordnung und Eintheilung der organischen Formenwelt hatte, war unschätzbar; nicht minder bedeutungsvoll aber war der unberechenbare theoretische Einfluss, welchen dieselbe alsbald auf die gesammte allgemeine Beurtheilung der organischen Formen, und ganz besonders auf die Schöpfungs-Geschichte gewann. Noch heute drehen sich alle die wichtigen Grundfragen, welche wir vorher kurz berührten, zuletzt um die Entscheidung der scheinbar sehr abgelegenen und unwichtigen Vorfrage, was denn eigentlich die Art oder Species ist? Noch heute kann der Begriff der organischen Species als der Angelpunkt der ganzen Schöpfungsfrage bezeichnet werden, als der streitige Mittelpunkt, um dessen verschiedene Auffassung alle Darwinisten und Antidarwinisten kämpfen.
Nach der Meinung Darwins und seiner Anhänger sind die verschiedenen Species einer und derselben Gattung von Thieren und Pflanzen weiter nichts, als verschiedenartig entwickelte Abkömmlinge einer und derselben ursprünglichen Stammform. Die verschiedenen vorhin genannten Nadelholz-Arten würden demnach von einer einzigen ursprünglichen Pinus-Form abstammen. Ebenso würden alle oben angeführten Katzenarten aus einer einzigen gemeinsamen Felis-Form ihren Ursprung ableiten, dem Stammvater der ganzen Gattung. Weiterhin müssten dann aber, der Abstammungs-Lehre entsprechend, auch alle verschiedenen Gattungen einer und derselben Ordnung von einer einzigen gemeinschaftlichen Urform abstammen, und ebenso endlich alle Ordnungen einer Classe von einer einzigen Stammform.
Nach der entgegengesetzten Vorstellung der Gegner Darwins sind dagegen alle Thier- und Pflanzen-Species ganz unabhängig von einander, und nur die Einzelwesen oder Individuen einer jeden Species stammen von einer einzigen gemeinsamen Stammform ab. Fragen wir sie nun aber, wie sie sich denn diese ursprünglichen Stammformen der einzelnen Arten entstanden denken, so antworten sie uns mit einem Sprung in das Unbegreifliche: »Diese sind als solche geschaffen worden«.
Linné selbst bestimmte den Begriff der Species bereits in dieser Weise, indem er sagte: »Es giebt soviel verschiedene Arten, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind«. (»Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens.«) Er schloss sich also in dieser Beziehung aufs Engste an die mosaische Schöpfungs-Geschichte an, welche ja ebenfalls die Pflanzen und Thiere »ein jegliches nach seiner Art« erschaffen werden lässt. Näher hierauf eingehend, meinte Linné, dass ursprünglich von jeder Thier- und Pflanzenart entweder ein einzelnes Individuum oder ein Pärchen geschaffen worden sei; und zwar ein Pärchen, oder wie Moses sagt: »ein Männlein und ein Fräulein« von jenen Arten, welche getrennte Geschlechter haben; für jene Arten dagegen, bei welchen jedes Individuum beiderlei Geschlechtsorgane in sich vereinigt (Hermaphroditen oder Zwitter) wie z. B. die Regenwürmer, die Blutegel, die Garten- und Weinbergsschnecken, sowie die grosse Mehrzahl der Gewächse, meinte Linné, es sei hinreichend. wenn ein einzelnes Individuum erschaffen worden sei. Linné schloss sich weiterhin an die mosaische Legende auch in Betreff der Sündfluth an; er glaubte, dass bei dieser grossen allgemeinen Ueberschwemmung alle vorhandenen Organismen ertränkt worden seien, bis auf jene wenigen Individuen von jeder Art (sieben Paar von den Vögeln und von dem reinen Vieh, ein Paar von dem unreinen Vieh), welche in der Arche Noah gerettet und nach beendigter Sündfluth auf dem Ararat an das Land gesetzt wurden. Die geographische Schwierigkeit des Zusammenlebens der verschiedensten Thiere und Pflanzen suchte er sich dadurch zu erklären: der Ararat in Armenien, in einem warmen Klima gelegen und bis über 16,000 Fuss Höhe aufsteigend, vereinigt in sich die Bedingungen für den zeitweiligen gemeinsamen Aufenthalt auch solcher Thiere, die in verschiedenen Zonen leben. Es konnten zunächst also die an das Polarklima gewöhnten Thiere auf den kalten Gebirgsrücken hinaufklettern, die an das warme Klima gewöhnten an den Fuss hinabgehen, und die Bewohner der gemässigten Zone in der Mitte der Berghöhe sich aufhalten. Von hier aus war die Möglichkeit gegeben, sich über die Erde nach Norden und Süden zu verbreiten.
Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, dass diese naive Schöpfungs-Hypothese Linné's, welche sich offenbar möglichst eng an den herrschenden Bibelglauben anzuschliessen sucht, keiner ernstlichen Widerlegung bedarf. Wenn man die sonstige Klarheit des scharfsinnigen Linné erwägt, darf man vielleicht zweifeln, dass er selbst daran glaubte. Was die gleichzeitige Abstammung aller Individuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphroditischen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, so ist sie offenbar ganz unhaltbar; denn abgesehen von anderen Gründen, würden schon in den ersten Tagen nach geschehener Schöpfung die wenigen Raubthiere ausgereicht haben, sämmtlichen Pflanzenfressern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfressenden Thiere die wenigen Individuen der verschiedenen Pflanzenarten hätten zerstören müssen. Ein solches Gleichgewicht in der Oeconomie der Natur, wie es gegenwärtig existirt, konnte unmöglich stattfinden, wenn von jeder Art nur ein Individuum oder nur ein Paar ursprünglich und gleichzeitig geschaffen wurde.
Wie wenig übrigens Linné auf diese unhaltbare Schöpfungs-Hypothese Gewicht legte, geht unter Anderem daraus hervor, dass er die Bastarderzeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Entstehung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, dass eine grosse Anzahl von selbstständigen neuen Species auf diesem Wege, durch geschlechtliche Vermischung zweier verschiedener Species, entstanden sei. In der That kommen solche Bastarde (Hybridae) durchaus nicht selten in der Natur vor; es ist jetzt erwiesen, dass eine grosse Anzahl von Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Wollkrauts (Verbascum), der Weide (Salix), der Distel (Cirsium) Bastarde von verschiedenen Arten dieser Gattungen sind. Ebenso kennen wir Bastarde von Hasen und Kaninchen (zwei Species der Gattung Lepus), ferner Bastarde verschiedener Arten der Hundegattung (Canis), der Hirschgattung (Cervus) u. s. w., welche als selbstständige Arten sich fortzupflanzen im Stande sind. Ja, wir sind sogar aus vielen wichtigen Gründen zu der Annahme berechtigt, dass die Bastardzeugung eine sehr ergiebige Quelle für die Entstehung neuer Arten bildet; und diese Quelle ist ganz unabhängig von der natürlichen Züchtung, durch welche nach Darwins Ansicht die meisten Species entstanden sind. Wahrscheinlich sind sehr zahlreiche Thier- und Pflanzen-Formen, die wir heute als sogenannte »gute Arten« in unseren systematischen Registern aufführen, weiter Nichts, als fruchtbare Bastarde, welche ganz zufällig durch die gelegentliche Vermischung der Geschlechtsproducte von zwei verschiedenen Arten entstanden sind. Namentlich ist diese Annahme für die Wasserthiere und Wasserpflanzen gerechtfertigt. Wenn man bedenkt, welche Massen von verschiedenartigen Samenzellen und Eizellen im Wasser beständig zusammentreffen, so erscheint dadurch der Bastardzeugung der weiteste Spielraum geöffnet.
Es ist gewiss sehr bemerkenswerth, dass Linné bereits die physiologische (also mechanische) Entstehung von neuen Species auf diesem Wege der Bastardzeugung behauptete. Offenbar steht dieselbe in unvereinbarem Gegensatze zu der übernatürlichen Entstehung der anderen Species durch Schöpfung, welche er der mosaischen Schöpfungs-Geschichte gemäss annahm. Die eine Abtheilung der Species würde demnach durch dualistische (teleologische) Schöpfung, die andere durch monistische (mechanische) Entwickelung entstanden sein.
Das grosse und wohlverdiente Ansehen, welches sich Linné durch seine systematische Classification und durch seine übrigen Verdienste um die Biologie erworben hatte, war offenbar die Ursache, dass auch seine Schöpfungs-Ansichten das ganze vorige Jahrhundert hindurch unangefochten in voller und ganz allgemeiner Geltung blieben. Wenn nicht die ganze systematische Zoologie und Botanik die von ihm eingeführte Unterscheidung, Classification und Benennung der Arten und den damit verbundenen dogmatischen Species-Begriff mehr oder minder unverändert beibehalten hätte, würde man nicht begreifen, dass seine Vorstellung von einer selbstständigen Schöpfung der einzelnen Species bis vor Kurzem ihre Herrschaft behaupten konnte. Denn je mehr sich unsere Kenntnisse vom Bau und von der Entwickelung der Organismen erweiterten, desto unhaltbarer wurde jene Vorstellung. Nur durch die grosse Autorität Linné's und durch seine Anlehnung an den herrschenden Bibel-Glauben war die Erhaltung seiner Schöpfungs-Hypothese bis auf unsere Zeit möglich.