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Dreizehnter Vortrag.

Keimes-Geschichte und Stammes-Geschichte.

Allgemeine Bedeutung der Keimes-Geschichte (Ontogenie). Mängel unserer heutigen Bildung. Thatsachen der individuellen Entwickelung. Uebereinstimmung der Keimung beim Menschen und den Wirbelthieren. Das Ei des Menschen. Befruchtung. Unsterblichkeit. Eifurchung. Bildung der Keimblätter. Gastrulation. Keimes-Geschichte des Central-Nervensystems, der Gliedmaassen, der Kiemenbogen und des Schwanzes. Ursächlicher Zusammenhang zwischen Keimes-Geschichte (Ontogenie) und Stammes-Geschichte (Phylogenie). Das biogenetische Grund-Gesetz. Auszugs-Entwickelung (Palingenesis) und Störungs-Entwickelung (Cenogenesis). Stufenleiter der vergleichenden Anatomie. Beziehung derselben zur paläontologischen und embryologischen Entwickelungs-Reihe.

 

Meine Herren! Die weiten Kreise der Gebildeten, welche heutzutage unseren Entwickelungs-Lehren ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse entgegenbringen, kennen leider die Thatsachen der organischen Entwickelung aus eigener Anschauung fast gar nicht. Der Mensch selbst wird, gleich den übrigen Säugethieren, in bereits entwickelter Form geboren. Das Hühnchen schlüpft, gleich den übrigen Vögeln, in fertiger, entwickelter Form aus dem Ei. Aber die wunderbaren Vorgänge, durch welche diese fertigen Thierformen entstehen, sind den Meisten ganz unbekannt. Und doch liegt in diesen wenig beachteten Vorgängen eine Quelle der Erkenntniss verborgen, welche von keiner anderen an allgemeiner Bedeutung übertroffen wird. Denn hier liegt die Entwickelung als greifbare Thatsache vor unseren Augen, und wir brauchen bloss eine Anzahl Hühner-Eier in die Brutmaschine zu legen, und ihre Ausbildung drei Wochen lang aufmerksam mit dem Mikroskope zu verfolgen, um das Wunder zu verstehen, durch welches sich aus einer einzigen einfachen Zelle ein hochorganisirter Vogel entwickelt. Schritt für Schritt können wir diese wunderbare Verwandlung mit Augen verfolgen; und Schritt für Schritt können wir nachweisen, wie ein Organ sich aus dem andern entwickelt.

Schon aus diesem Grunde, weil auf diesem Gebiete allein die Thatsachen der Entwickelung uns in greifbarer Wirklichkeit vor Augen treten, halte ich es für unerlässlich, Ihre besondere Aufmerksamkeit auf jene unendlich wichtigen und interessanten Vorgänge hinzulenken, auf die Ontogenesis oder die individuelle Entwickelung der Organismen; und ganz vorzüglich auf die Keimes-Geschichte der Wirbelthiere, mit Einschluss des Menschen. Ich möchte diese ausserordentlich merkwürdigen und lehrreichen Erscheinungen, deren ausführliche Darstellung Sie in meiner »Anthropogenie« 56) finden, ganz besonders Ihrem eingehendsten Nachdenken empfehlen; denn einerseits gehören dieselben zu den stärksten Stützen der Descendenz-Theorie und der monistischen Weltanschauung überhaupt; andererseits sind sie bisher nur von Wenigen entsprechend ihrer unermesslichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden.

Man muss in der That erstaunen, wenn man die tiefe Unkenntniss erwägt, welche noch gegenwärtig in den weitesten Kreisen über die Thatsachen der individuellen Entwickelung des Menschen und der Organismen überhaupt herrscht. Diese Thatsachen, deren allgemeine Bedeutung man gar nicht hoch genug anschlagen kann, wurden in ihren wichtigsten Grundzügen schon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, von dem grossen deutschen Naturforscher Caspar Friedrich Wolff in seiner classischen »Theoria generationis« festgestellt. Aber gleichwie Lamarck's 1809 begründete Descendenz-Theorie ein halbes Jahrhundert hindurch schlummerte und erst 1859 durch Darwin zu neuem unsterblichem Leben erweckt wurde, so blieb auch Wolff's Theorie der Epigenesis fast ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt. Erst nachdem Oken 1806 seine Entwickelungs-Geschichte des Darmkanals veröffentlicht und Meckel 1812 Wolff's Arbeit über denselben Gegenstand in's Deutsche übersetzt hatte, wurde Wolff's Theorie allgemeiner bekannt und bildete seitdem die Grundlage aller folgenden Untersuchungen über individuelle Entwickelungs-Geschichte. Das Studium der Keimes-Geschichte nahm nun einen mächtigen Aufschwung, und bald erschienen die classischen Untersuchungen der beiden Freunde Christian Pander (1817) und Carl Ernst Baer (1819). Insbesondere wurden durch Baer's epochemachende »Entwickelungs-Geschichte der Thiere« 20) die bedeutendsten, die Ontogenie der Wirbelthiere betreffenden Thatsachen durch so vortreffliche Beobachtungen festgestellt, und durch so vorzügliche philosophische Reflexionen erläutert, dass sie für das Verständniss dieser wichtigsten Thiergruppe, zu welcher ja auch der Mensch gehört, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatsachen würden für sich allein schon ausreichen, die Frage von der Stellung des Menschen in der Natur und somit das höchste aller Probleme zu lösen. Betrachten Sie aufmerksam und vergleichend die acht Figuren, welche auf den nachstehenden Tafeln II und III abgebildet sind, und Sie werden erkennen, dass man die philosophische Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anschlagen kann. (Siehe S. 304, 305.)

siehe Bildunterschrift

Tafel II
Keime oder Embryonen
v Vorderhirn, z Zwischenhirn, m Mittelhirn, h Hinterhirn, n Nachhirn, w Wirbel, r Rückenmark.

siehe Bildunterschrift

Tafel III
Keime oder Embryonen von vier Wirbeltieren

na Nase, a Auge,

o Ohr, k 1 k 2 k 3 Kiemenbogen, s Schwanz, br Vorderbein, bh Hinterbein

Nun darf man wohl fragen: Was wissen unsere sogenannten »gebildeten« Kreise, die auf die hohe Kultur des neunzehnten Jahrhunderts sich so Viel einbilden, von diesen wichtigsten biologischen Thatsachen, von diesen unentbehrlichen Grundlagen für das Verständniss ihres eigenen Organismus? Was wissen unsere speculativen Philosophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch göttliche Inspirationen das Verständniss des menschlichen Organismus gewinnen zu können meinen? Ja, was wissen selbst die meisten Naturforscher davon, viele sogenannte »Zoologen« (mit Einschluss der Entomologen!) nicht ausgenommen?

Die Antwort auf diese Frage fällt sehr beschämend aus, und wir müssen wohl oder übel eingestehen, dass jene unschätzbaren Thatsachen der menschlichen Keimes-Geschichte noch heute den Meisten ganz unbekannt sind. Selbst von Vielen, welche sie kennen, werden sie doch keineswegs in gebührender Weise gewürdigt.

Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem schiefen und einseitigen Wege sich die vielgerühmte Bildung des neunzehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwissenheit und Aberglauben sind die Grundlagen, auf denen sich die meisten Menschen das Verständniss ihres eigenen Organismus und seiner Beziehungen zur Gesammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatsachen der Entwickelungs-Geschichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbreiten könnten, werden ignorirt.

Die Hauptschuld an dieser bedauerlichen und unheilvollen Thatsache trifft unstreitig unsere höhere Schulbildung, vor allen die sogenannte »classische Gymnasialbildung«. Tief befangen in der Scholastik des Mittelalters, kann diese sich immer noch nicht entschliessen, die ungeheuren Fortschritte, welche die Naturerkenntniss in unserem Jahrhundert gemacht hat, in sich aufzunehmen. Immer noch gilt als Hauptaufgabe nicht die umfassende Kenntniss der Natur, von der wir selbst einen Theil bilden, und der heutigen Kulturwelt, in der wir leben; sondern vielmehr die genaueste Kenntniss der alten Staaten-Geschichte, und vor allen der lateinischen und griechischen Grammatik. Gewiss ist die gründliche Kenntniss des classischen Alterthums ein höchst wichtiger und unentbehrlicher Bestandtheil unsrer höheren Bildung; allein das liebevolle Verständniss desselben verdanken wir in viel höherem Grade den Malern und Bildhauern, den epischen und dramatischen Dichtern, als den classischen Philologen und den gefürchteten Grammatikern. Um aber jene Dichter zu geniessen und zu verstehen, brauchen wir sie ebenso wenig im Urtext zu lesen als die Bibel. Der ungeheure Aufwand von Zeit und Arbeitskraft, welchen der luxuriöse Sport der classischen Grammatik erfordert, würde unendlich zweckmässiger auf das Studium des wundervollen Erscheinungs-Gebiets verwendet, welches uns die Riesen-Fortschritte der Naturkunde, insbesondere der Geologie, Biologie und Anthropologie, im letzten halben Jahrhundert erst zugänglich gemacht haben.

Leider wird aber das Missverhältniss zwischen der täglich sich erweiternden Erkenntniss der realen Welt, und dem beschränkten Standpunkte unserer sogenannten idealen Jugend-Bildung von Tag zu Tage grösser. Gerade diejenigen Gebildeten, welche im practischen Kulturleben die einflussreichste Rolle spielen, die Theologen und Juristen, und ebenso die bevorzugten Lehrer, die Philologen und Historiker, wissen von den wichtigsten Erscheinungen der wirklich existirenden Welt und von der wahren Natur-Geschichte am Wenigsten. Der Bau und die Entstehung unseres Erd-Körpers, wie unseres eigenen menschlichen Körpers, durch die erstaunlichen Fortschritte der modernen Geologie und Anthropologie zu einem der interessantesten Wissens-Objecte erhoben, bleibt den Meisten unbekannt. Von dem menschlichen Ei und seiner Entwickelung zu sprechen, gilt entweder als eine lächerliche Fabel oder als eine grobe Unanständigkeit. Und doch offenbart uns dieselbe eine Reihe von wirklich erkannten Thatsachen, welche von keinen anderen im weiten Gebiete der menschlichen Erkenntniss an allgemeinem Interesse und an hoher Bedeutung übertroffen werden.

Allerdings sind diese bedeutungsvollen Thatsachen nicht geeignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durchgreifenden Unterschied zwischen dem Menschen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thierischen Ursprung des Menschen-Geschlechts nicht zugeben wollen. Insbesondere müssen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falscher Auffassung der Erblichkeits-Gesetze eine erbliche Kasten-Eintheilung existirt, die Mitglieder der herrschenden privilegirten Kasten dadurch sehr unangenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Kultur-Ländern die erbliche Abstufung der Stände so weit, dass z. B. der Adel ganz anderer Natur, als der Bürgerstand zu sein glaubt, und dass Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adelskaste ausgestossen und in die Pariakaste des »gemeinen« Bürgerstandes hinabgeschleudert werden. Was sollen diese Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn sie erfahren, dass alle menschlichen Embryonen, adelige ebenso wie bürgerliche, während der ersten beiden Monate der Entwickelung von den geschwänzten Embryonen des Hundes und anderer Säugethiere kaum zu unterscheiden sind?

Da die Absicht dieser Vorträge lediglich ist, die allgemeine Erkenntniss der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemässe Anschauung von den Beziehungen des Menschen zur übrigen Natur in weiteren Kreisen zu verbreiten, so werden Sie es hier gewiss gerechtfertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahme-Stellung des Menschen in der Schöpfung nicht berücksichtige. Vielmehr werde ich Ihnen einfach die embryologischen Thatsachen vorführen, aus denen Sie selbst sich die Schlüsse von der Grundlosigkeit jener Vorurtheile bilden können. Ich möchte Sie um so mehr bitten, über diese Thatsachen der Keimes-Geschichte eingehend nachzudenken, als es meine feste Ueberzeugung ist, dass die allgemeine Kenntniss derselben nur die intellectuelle Veredelung und somit die geistige Vervollkommnung des Menschen-Geschlechts fördern kann.

Aus dem unendlich reichen und interessanten Erfahrungs-Material, das uns die Keimes-Geschichte der Wirbelthiere bietet, will ich zunächst einige Thatsachen hervorheben, welche sowohl für die Descendenz-Theorie im Allgemeinen, als für deren Anwendung auf den Menschen von der höchsten Bedeutung sind. Der Mensch ist im Beginn seiner individuellen Existenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine Zelle, so gut wie jeder andere thierische Organismus, welcher auf dem Wege der geschlechtlichen Zeugung entsteht. Das menschliche Ei ist wesentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleich, und namentlich von dem Ei der höheren Säugethiere absolut nicht zu unterscheiden. Das in Fig. 5 abgebildete Ei könnte ebenso gut vom Menschen oder vom Affen, als vom Hunde, vom Pferde oder irgend einem anderen höheren Säugethiere herrühren. Nicht allein die Form und Structur, sondern auch die Grösse des Eies ist bei den meisten Säugethieren dieselbe wie beim Menschen, nämlich ungefähr 1/10 ''' Durchmesser, der 120ste Theil eines Zolles, so dass man das Ei unter günstigen Umständen mit blossem Auge eben als ein feines Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterschiede, welche zwischen den Eiern der verschiedenen Säugethiere und Menschen wirklich vorhanden sind, bestehen nicht in der Form-Bildung, sondern in der chemischen Mischung, in der molekularen Zusammensetzung der eiweissartigen Kohlenstoff-Verbindung, aus welcher das Ei wesentlich besteht. Diese feinen individuellen Unterschiede aller Eier, besonders in der Molekular-Structur des Kernes, beruhen wahrscheinlich auf der indirecten oder potentiellen Anpassung (und zwar speciell auf dem Gesetze der individuellen Anpassung); sie sind zwar für die ausserordentlich groben Erkenntnissmittel des Menschen nicht direct sinnlich wahrnehmbar, aber durch wohlbegründete indirecte Schlüsse als die ersten Ursachen des ursprünglichen Unterschiedes aller Individuen erkennbar.

siehe Bildunterschrift

Fig. 5. Das Ei des Menschen, hundertmal vergrössert. a Kernkörperchen oder Nucleolus (sogenannter Keimfleck des Eies); b Kern oder Nucleus (sogenanntes Keimbläschen des Eies); c Zellstoff oder Protoplasma (sogenannter Dotter des Eies); d Zellhaut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchsichtigkeit Zona pellucida genannt). Die Eier der anderen Säugethiere haben ganz dieselbe einfache Form.

Das Ei des Menschen ist, wie das aller anderen Säugethiere, ein kugeliges Bläschen, welches alle wesentlichen Bestandtheile einer einfachen organischen Zelle enthält (Fig. 5). Der wesentlichste Theil desselben ist der schleimartige Zellstoff oder das Protoplasma (c), welches beim Ei »Dotter« genannt wird, und der davon umschlossene Zellenkern oder Nucleus (b), welcher hier den besonderen Namen des »Keim-Bläschens« führt. Dies letztere ist ein zartes, glashelles Eiweiss-Kügelchen von ungefähr 1/50 ''' Durchmesser, und umschliesst noch ein viel kleineres, scharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das Kern-Körperchen oder den Nucleolus der Zelle (beim Ei »Keimfleck« genannt). Nach aussen ist die kugelige Ei-Zelle des Säugethiers durch eine dicke, glasartige Haut, die Zellen-Membran oder Dotterhaut, abgeschlossen, welche hier den besonderen Namen der Zona pellucida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (z. B. vieler Medusen) sind dagegen nackte Zellen, ohne jede äussere Hülle.

Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethieres seinen vollen Reifegrad erlangt hat, tritt dasselbe aus dem Eierstock des Weibes, in dem es entstand, heraus, und gelangt in den Eileiter, und durch diese enge Röhre in den weiteren Keim-Behälter oder Frucht-Behälter (Uterus). Wird inzwischen das Ei durch den entgegenkommenden männlichen Samen (Sperma) befruchtet, so entwickelt es sich in diesem Behälter weiter zum Keim (Embryon), und verlässt denselben nicht eher, als bis der Keim vollkommen ausgebildet und fähig ist, als junges Säugethier durch den Geburtsact in die Welt zu treten.

Der Vorgang der Befruchtung, früher für eine der räthselhaftesten und wunderbarsten Erscheinungen gehalten, ist uns durch die grossen Erkenntniss-Fortschritte des letzten Jahrzehnts vollkommen klar und verständlich geworden. Dank vor Allen den ausgezeichneten Untersuchungen der Gebrüder Oscar und Richard Hertwig 54), von Eduard Strasburger, Bütschli und vielen Anderen. Wir wissen jetzt, dass die Befruchtung des Eies, als das Wesentlichste der geschlechtlichen Zeugung, weiter Nichts ist, als eine Verschmelzung von zwei verschiedenen Zellen, der väterlichen Sperma-Zelle und der mütterlichen Ei-Zelle. Von den Tausenden beweglicher kleiner Geisselzellen, welche sich in einem Tröpfchen männlicher Samen-Flüssigkeit finden, dringt eine einzige in die weibliche Ei-Zelle ein und verschmilzt mit ihr vollständig. Bei dieser Verschmelzung der beiden Geschlechts-Zellen ist die Hauptsache die Copulation der beiden Zellkerne. Der männliche Sperma-Kern verschmilzt mit dem weiblichen Ei-Kern, und so entsteht der neue Stammkern, der Nucleus der neuen Stammzelle (Cytula).

Schon vor 23 Jahren hatte ich in meiner Generellen Morphologie (Bd. I, S. 288) die Bedeutung der beiden activen Zell-Bestandtheile dahin bestimmt, »dass der innere Kern die Vererbung der erblichen Charaktere, das äussere Plasma (oder Cytoplasma) dagegen die Anpassung an die Verhältnisse der Aussenwelt zu besorgen hat«. Dieser Satz ist durch die zahlreichen sorgfältigen Untersuchungen der neuesten Zeit vollinhaltlich bestätigt worden. Der männliche Sperma-Kern überträgt bei der Befruchtung die erblichen Eigenschaften des Vaters, während der weibliche Ei-Kern die Vererbung der Eigenthümlichkeiten der Mutter besorgt.

Die Stammzelle (Cytula) oder die sogenannte »befruchtete Ei-Zelle« (– oft auch unpassend »erste Furchungszelle« genannt –) ist demnach ein ganz neues Wesen. Denn wie ihre Substanz ein materielles Mischungs-Product von der väterlichen Samen-Zelle und der mütterlichen Ei-Zelle ist, so sind auch die davon untrennbaren Lebens-Eigenschaften gemischt aus den physiologischen Eigenthümlichkeiten beider Eltern. Die individuelle Mischung des Charakters, welchen jedes Kind von beiden Eltern geerbt hat, ist zurückzuführen auf die Vermischung der beiden Kern-Massen im Augenblicke der Befruchtung. Mit diesem wichtigsten Augenblicke beginnt auch erst die lebendige Existenz des Individuums, und nicht etwa mit der Geburt, welche beim Menschen erst neun Monate später eintritt.

Die allgemeine Bedeutung dieser höchst interessanten Vorgänge ist bisher nicht entfernt in dem Maasse gewürdigt worden, wie sie es verdient. Um nur eine ihrer wichtigsten Folgerungen hier anzudeuten, so werfen sie ein ganz neues Licht auf die wichtige Frage von der Unsterblichkeit. Das Dogma von der persönlichen Unsterblichkeit des Menschen war zwar schon seit einem halben Jahrhundert durch die grossen Fortschritte der vergleichenden Physiologie und Ontogenie, der vergleichenden Psychologie und Psychiatrie, gründlich widerlegt worden. Indessen konnten immer noch einige Zweifel darüber entstehen, ob nicht wenigstens ein Theil unsers Seelenlebens vom Gehirn unabhängig und auf die Thätigkeit einer immateriellen »Seele« zurückzuführen sei. Seitdem wir aber den Vorgang der Befruchtung ganz genau kennen, seitdem wir wissen, dass selbst die feinsten Seelen-Eigenschaften beider Eltern durch den Befruchtungs-Act auf das Kind erblich übertragen werden, und dass diese Vererbung lediglich auf der Verschmelzung der beiden copulirenden Zell-Kerne beruht, sind alle jene Zweifel hinfällig geworden. Es muss nun vollkommen widersinnig erscheinen, noch von einer Unsterblichkeit der menschlichen Person zu sprechen, seit wir wissen, dass diese Person, mit allen ihren individuellen Eigenschaften des Körpers und Geistes, erst durch den Befruchtungs-Act entstanden ist, also einen endlichen Anfang ihres Daseins hat. Wie kann diese Person ein ewiges Leben ohne Ende haben? Die menschliche Person, wie jedes andere vielzellige Einzel-Thier, ist nur eine vorübergehende Erscheinungs-Form des organischen Lebens. Mit ihrem Tode hört die Kette ihrer Lebensthätigkeiten ebenso vollständig auf, wie sie mit dem Befruchtungs-Act ihren Anfang genommen hat.

Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das befruchtete Ei innerhalb des Keim-Behälters durchlaufen muss, ehe es die Gestalt des jungen Säugethieres annimmt, sind äusserst merkwürdig; sie verlaufen vom Anfang an beim Menschen ganz ebenso wie bei den übrigen Säugethieren. Zunächst benimmt sich das befruchtete Säugethier-Ei gerade so, wie ein einzelliger Organismus, welcher sich auf seine Hand selbstständig fortpflanzen und vermehren will, z. B. eine Amoebe (vergl. Fig. 2, S. 169). Die einfache Ei-Zelle zerfällt nämlich durch den Process der Zellen-Theilung, welchen ich Ihnen bereits früher beschrieben habe, in zwei Zellen. (Fig. 6 A.)

siehe Bildunterschrift

Fig. 6. Erster Beginn der Entwickelung des Säugethier-Eies, sogenannte »Ei-Furchung« (Vermehrung der Ei-Zelle durch wiederholte Selbsttheilung). A. Das Ei zerfällt durch Bildung der ersten Furche in zwei Zellen. B. Diese zerfallen durch Halbirung in vier Zellen. C. Diese letzteren sind in acht Zellen zerfallen. D. Durch fortgesetzte Theilung ist ein kugeliger Haufen von zahlreichen Zellen entstanden, die Bromheer-Form oder der Maulbeer-Keim (Morula).

Derselbe Vorgang der Zellen-Theilung wiederholt sich nun mehrmals hinter einander. In der gleichen Weise entstehen aus zwei Zellen (Fig. 6A) vier (Fig. 6B); aus vier werden acht

(Fig. 6C), aus acht sechszehn, aus diesen zweiunddreissig u. s. w. Jedesmal geht die Theilung des Zellkerns oder Nucleus derjenigen des Zellstoffs oder Protoplasma vorher. Weil die Theilung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ringförmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Vorgang gewöhnlich die Furchung des Eies, und die Producte desselben, die kleinen, durch fortgesetzte Zwei-Theilung entstehenden Zellen die Furchungs-Kugeln (Blastomeren). Indessen ist der ganze Vorgang weiter Nichts als eine einfache, oft wiederholte Zellen-Theilung, und die Produkte desselben sind echte, nackte Zellen. Schliesslich entsteht aus der fortgesetzten Theilung oder »Furchung« des Säugethier-Eies der sogenannte Maulbeer-Keim (Morula), eine maulbeerförmige oder brombeerförmige Kugel, welche aus sehr zahlreichen kleinen Kugeln, nackten kernhaltigen Zellen zusammengesetzt ist (Fig. 6D). Diese Zellen sind die Bausteine, aus denen sich der Leib des jungen Säugethiers aufbaut. Jeder von uns war einmal eine solche einfache, brombeerförmige, aus lauter kleinen Zellen zusammengesetzte Kugel, eine Morula.

Die weitere Entwickelung des kugeligen Zellenhaufens, welcher den jungen Säugethier-Körper jetzt präsentirt, besteht zunächst darin, dass derselbe sich in eine kugelige Blase verwandelt, indem im Inneren sich Flüssigkeit ansammelt. Diese Blase nennt man Keim-Blase (Blastula oder Vesicula blastodermica). Die Wand derselben ist anfangs aus lauter gleichartigen Zellen zusammengesetzt. Bald aber entsteht an einer Stelle der Wand eine scheibenförmige Verdickung, indem sich hier die Zellen rasch vermehren; und diese Verdickung ist nun die Anlage für den eigentlichen Leib des Keimes oder Embryo, während der übrige Theil der Keim-Blase bloss zur Ernährung des Embryo verwendet wird. Die verdickte Scheibe der Embryonalanlage nimmt bald eine länglich runde und dann, indem rechter und linker Seitenrand ausgeschweift werden, eine sohlenförmige oder bisquitförmige Gestalt an (Fig. 7, Seite 304). In diesem Stadium der Entwickelung, in der ersten Anlage des Keims oder Embryo, sind nicht allein alle Säugethiere mit Inbegriff des Menschen, sondern sogar alle Wirbelthiere überhaupt, alle Säugethiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische im Wesentlichen noch gleich; theils kann man sie gar nicht, theils nur durch ihre Grösse oder durch unwesentliche Form-Differenzen, sowie durch die Bildung der Ei-Hüllen und des Dotter-Anhangs von einander unterscheiden. Bei Allen besteht der ganze Leib aus weiter nichts, als aus zwei dünnen Schichten oder Lagen von einfachen Zellen; diese liegen wie zwei runde dünne Blätter über einander und heissen daher die »primären Keimblätter«. Das äussere oder obere Keimblatt ist das Hautblatt (Exoderma), das innere oder untere hingegen das Darmblatt (Entoderma).

Die Keimform des Thierleibes, welche in dieser Weise bloss aus den beiden primären Keimblättern besteht, ist allen vielzelligen Thieren (oder Metazoen) gemeinsam, und daher von der grössten Bedeutung. Ich habe die allgemeine Verbreitung dieser zweiblättrigen Keimform bei allen Metazoen, und die daraus folgende »Homologie der beiden primären Keimblätter«, zuerst 1872 in meiner Monographie der Kalk-Schwämme 50) behauptet, und dann in meinen »Studien zur Gasträa-Theorie« 15) die ausführlichen Beweise dafür geliefert. Da diese bedeutungsvolle Keimform in ihrer ursprünglichen reinen Gestalt (Taf. V, Fig. 8, 18; Taf. XII, Fig. A4, B4) einem doppelwandigen Becher gleicht, nannte ich sie Becherkeim (Gastrula) und den Vorgang ihrer Bildung Gastrulation. Ich werde dieselbe später (im XX. Vortrage) näher besprechen. Schon damals (1872, a. a. O. Bd. I, S. 467) schloss ich aus der merkwürdigen Uebereinstimmung der Gastrula bei allen vielzelligen Thieren, dass alle diese Metazoen (– entsprechend dem biogenetischen Grundgesetze –) von einer einzigen gemeinsamen Stammform ursprünglich abstammen müssten; und diese hypothetische Stammform, im Wesentlichen der becherförmigen Gastrula gleichgebildet, ist die Gasträa.

Die Gastrula der Säugethiere, ebenso wie diejenige vieler anderer höherer Thiere, hat in Folge der eigenthümlichen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelt, die ursprüngliche Becherform verloren und die schon beschriebene Scheibenform angenommen. Allein diese Keimscheibe (Discogastrula) ist nur eine secundäre Abänderung oder Modification des ursprünglichen Becherkeims. Wie bei diesem letzteren, so zerfallen auch bei der ersteren die beiden primären Keimblätter später in die vier secundären Keimblätter. Auch diese bestehen aus weiter Nichts, als aus gleichartigen Zellen; jedes hat aber eine andere Bedeutung für den Aufbau des Wirbelthier-Körpers. Aus dem oberen oder äusseren Keimblatt entsteht bloss die äussere Oberhaut (Epidermis) nebst den Centraltheilen des Nervensystems (Rückenmark und Gehirn); aus dem unteren oder inneren Blatt entsteht bloss die innere zarte Haut (Epithelium), welche den ganzen Darmkanal vom Schlund bis zum After, nebst allen seinen Anhangsdrüsen (Lunge, Leber, Speicheldrüsen u. s. w.) auskleidet; aus den zwischen jenen gelegenen mittleren beiden Keimblättern entstehen alle übrigen Organe. (Vergl. über die Vorgänge der Keimes-Entwickelung beim Menschen und bei den Thieren meine »Anthropogenie« 56) und meine »Studien zur Gasträa-Theorie« 15).

Die Vorgänge nun, durch welche aus so einfachem Baumaterial, aus den vier einfachen, nur aus Zellen zusammengesetzten Keimblättern, die verschiedenartigen und höchst verwickelt zusammengesetzten Theile des reifen Wirbelthier-Körpers entstehen, sind erstens wiederholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits-Theilung oder Differenzirung dieser Zellen, drittens ungleiches Wachsthum der Zellen-Gruppen, und viertens Verbindung der verschiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bildung der verschiedenen Organe. So entsteht der stufenweise Fortschritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryonalen Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen ist. Die einfachen Embryonal-Zellen, welchen den Wirbelthier-Körper zusammensetzen wollen, verhalten sich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die einen ergreifen diese, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieselbe zum Besten des Ganzen aus. Durch diese Arbeits-Theilung und Form-Spaltung, sowie durch die damit im Zusammenhang stehende Vervollkommnung (den organischen Fortschritt), wird es dem ganzen Staate möglich, Leistungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Individuum unmöglich wären. Der ganze Wirbelthier-Körper, wie jeder andere mehrzellige Organismus, ist somit ein republikanischer Zellenstaat; er kann daher organische Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle als Einsiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leisten könnte 59).

Es wird keinem vernünftigen Menschen einfallen, in den zweckmässigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Einzelnen in jedem menschlichen Staate getroffen sind, die planvolle Thätigkeit eines persönlichen überirdischen Schöpfers zu suchen. Vielmehr weiss Jedermann, dass jene zweckmässigen Organisations-Einrichtungen des Staates die Folge von dem Zusammenwirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, sowie von deren Anpassung an die Existenzbedingungen der Aussenwelt sind. Ganz ebenso müssen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurtheilen. Auch in diesem sind alle zweckmässigen Einrichtungen lediglich die natürliche und nothwendige Folge des Zusammenwirkens, der Differenzirung und Vervollkommnung der einzelnen Staatsbürger, der Zellen; und nicht etwa die künstlichen Einrichtungen eines zweckmässig thätigen Schöpfers. Wenn Sie diesen Vergleich recht erwägen und weiter verfolgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualistischen Naturanschauung klar werden, welche in der Zweckmässigkeit der Organisation die Wirkung eines schöpferischen Bauplans sucht.

Lassen Sie uns nun die individuelle Entwickelung des Wirbelthier-Körpers noch einige Schritte weiter verfolgen, und sehen, was die Staatsbürger dieses embryonalen Organismus zunächst anfangen. In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, (Fig. 7, S. 304), welche aus den vierzelligen Keimblättern zusammengesetzt ist, entsteht eine gerade feine Furche, die sogenannte »Primitivrinne«, durch diese wird der geigenförmige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt, ein rechtes und ein linkes Gegenstück oder Antimer. Beiderseits jener Rinne oder Furche erhebt sich das obere oder äussere Keimblatt in Form einer Längsfalte, und beide Falten wachsen dann über der Rinne in der Mittellinie zusammen und bilden so ein cylindrisches Rohr. Dieses Rohr heisst das Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des Central-Nervensystems, des Rückenmarks (Medulla spinalis) ist. Anfangs ist dasselbe vorn und hinten zugespitzt, und so bleibt dasselbe bei den niedersten Wirbelthieren, den gehirnlosen und schädellosen Lanzetthieren (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren aber, die wir von letzteren als Schädelthiere oder Kranioten unterscheiden, wird alsbald ein Unterschied zwischen vorderem und hinterem Ende des Medullarrohrs sichtbar, indem das erstere sich aufbläht und in eine rundliche Blase, die Anlage des Gehirns verwandelt.

Bei allen Kranioten, d. h. bei allen mit Schädel und Gehirn versehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloss die blasenförmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rückenmarks ist, bald in fünf hinter einander liegende Blasen, indem sich vier oberflächliche quere Einschnürungen bilden. Diese fünf Hirnblasen, aus denen sich späterhin alle verschiedenen Theile des so verwickelt gebauten Gehirns hervorbilden, sind an dem in Fig. 7 abgebildeten Embryo in ihrer ursprünglichen Anlage zu erblicken. Es ist ganz gleich, ob wir den Embryo eines Hundes, eines Huhnes, einer Schildkröte oder irgend eines anderen höheren Wirbelthieres betrachten. Denn die Embryonen der verschiedenen Schädelthiere (mindestens der drei höheren Klassen, der Reptilien, Vögel und Säugethiere) sind in dem [in] Fig. 7 dargestellten Stadium entweder noch gar nicht oder nur durch ganz unwesentliche Merkmale zu unterscheiden. Die ganze Körperform ist noch höchst einfach, eine dünne, blattförmige Scheibe. Gesicht, Beine, Eingeweide u. s. w. fehlen noch gänzlich. Aber die fünf Hirnblasen sind schon deutlich von einander abgesetzt.

Die erste Blase, das Vorderhirn (v) ist insofern die wichtigste, als sie vorzugsweise die sogenannten grossen Hemisphären, oder die Halbkugeln des grossen Gehirns bildet, desjenigen Theiles, welcher der Sitz der höheren Geistesthätigkeiten ist. Je höher diese letzteren sich bei dem Wirbelthier entwickeln, desto mehr wachsen die beiden Seitenhälften des Vorderhirns oder die grossen Hemisphären auf Kosten der vier übrigen Blasen und legen sich von vorn und oben her über die anderen herüber. Beim Menschen, wo sie verhältnissmässig am stärksten entwickelt sind, entsprechend der höheren Geistesentwickelung, bedecken sie später die übrigen Theile von oben her fast ganz. (Vergl. Taf. II und III.) Die zweite Blase, das Zwischenhirn (z) bildet besonders denjenigen Gehirntheil, welchen man Sehhügel nennt, und steht in der nächsten Beziehung zu den Augen (a), welche als zwei Blasen rechts und links aus dem Vorderhirn hervorwachsen und später am Boden des Zwischenhirns liegen. Die dritte Blase, das Mittelhirn (m) geht grösstentheils in der Bildung der sogenannten Vierhügel auf, eines hochgewölbten Gehirntheiles, welcher besonders bei den Reptilien und bei den Vögeln stark ausgebildet ist (Fig. E, F, Taf. II), während er bei den Säugethieren viel mehr zurücktritt (Fig. G, H, Taf. III). Die vierte Blase, das Hinterhirn (h) bildet die sogenannten kleinen Hemisphären oder die Halbkugeln nebst dem Mitteltheil des kleinen Gehirns (Cerebellum), einen Gehirntheil, über dessen Bedeutung man die widersprechendsten Vermuthungen hegt, der aber vorzugsweise die Coordination der Bewegungen zu regeln scheint. Endlich die fünfte Blase, das Nachhirn (n), bildet sich zu demjenigen sehr wichtigen Theile des Central-Nervensystems aus, welchen man das Nackenmark oder das verlängerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es ist das Central-Organ der Athem-Bewegungen und anderer wichtiger Functionen, und seine Verletzung führt sofort den Tod herbei, während man die grossen Hemisphären des Vorderhirns (oder das Organ der »Seele« im engeren Sinne) stückweise abtragen und zuletzt ganz vernichten kann, ohne dass das Wirbelthier deshalb stirbt; nur seine höheren Geistesthätigkeiten schwinden dadurch.

siehe Bildunterschrift

Fig. 7. Embryo eines Säugethieres oder Vogels, in dem soeben die fünf Hirnblasen angelegt sind. v Vorderhirn. z Zwischenhirn. m Mittelhirn. h Hinterhirn. n Nachhirn. p Rückenmark. a Augenblasen. w Urwirbel. d Rückenstrang oder Chorda.

Diese fünf Hirnblasen sind ursprünglich bei allen Wirbelthieren, die überhaupt ein Gehirn besitzen, gleichmässig angelegt, und bilden sich erst allmählich bei den verschiedenen Gruppen so verschiedenartig aus, dass es nachher sehr schwierig ist, in den ganz entwickelten Gehirnen die gleichen Theile wieder zu erkennen. In dem frühen Entwickelungs-Stadium, welches in Fig. 7 dargestellt ist, erscheint es noch ganz unmöglich, die Embryonen der verschiedenen Säugethiere, Vögel und Reptilien von einander zu unterscheiden. Wenn Sie dagegen die viel weiter entwickelten Embryonen auf Taf. II und III mit einander vergleichen, werden Sie schon deutlich die ungleichartige Ausbildung erkennen, und namentlich wahrnehmen, dass das Gehirn der beiden Säugethiere (G) und (H) schon stark von dem der Vögel (F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzteren beiden zeigt bereits das Mittelhirn, bei den ersteren dagegen das Vorderhirn sein Uebergewicht. Aber auch noch in diesem Stadium ist das Gehirn des Vogels (F) von dem der Schildkröte (E) kaum verschieden, und ebenso ist das Gehirn des Hundes (G) demjenigen des Menschen (H) jetzt noch fast gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne dieser vier Wirbelthiere im ausgebildeten Zustande mit einander vergleichen, so finden Sie dieselben in allen anatomischen Einzelheiten so sehr verschieden, dass Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel sein können, welchem Thiere jedes Gehirn angehört.

Ich habe Ihnen hier die ursprüngliche Gleichheit und die erst allmählich eintretende und dann immer wachsende Sonderung oder Differenzirung des Embryo bei den verschiedenen Wirbelthieren speciell an dem Beispiele des Gehirns erläutert, weil gerade dieses Organ der Seelen-Thätigkeit von ganz besonderem Interesse ist. Ich hätte aber eben so gut das Herz oder die Gliedmaassen, kurz jeden anderen Körpertheil statt dessen anführen können; immer wiederholt sich hier dasselbe Schöpfungs-Wunder: nämlich die Thatsache, dass alle Theile ursprünglich bei den verschiedenen Wirbelthieren gleich sind, und dass erst allmählich ihre Verschiedenheiten sich ausbilden. In meinen Vorträgen über »Entwickelungs-Geschichte des Menschen« 56) finden Sie den Beweis für jedes einzelne Organ geführt.

Es giebt gewiss wenige Körpertheile, welche so verschiedenartig ausgebildet sind, wie die Gliedmaassen oder Extremitäten der verschiedenen Wirbelthiere. (Vergl. unten Taf. IV, und deren Erklärung im Anhang.) Nun bitte ich Sie, in Fig. A-H auf Taf. II und III die vorderen Extremitäten (bv) der verschiedenen Embryonen mit einander zu vergleichen, und Sie werden kaum im Stande sein, irgend welche bedeutende Unterschiede zwischen dem Arm des Menschen (H bv), dem Flügel des Vogels (F bv), dem schlanken Vorderbein des Hundes (G bv) und dem plumpen Vorderbein der Schildkröte (E bv) zu erkennen. Eben so wenig werden Sie bei Vergleichung der hinteren Extremität (bh) in diesen Figuren herausfinden, wodurch das Bein des Menschen (H bh) und des Vogels (F bh), das Hinterbein des Hundes (G bh) und der Schildkröte (E bh) sich unterscheiden. Vordere sowohl als hintere Extremitäten sind jetzt noch kurze und breite Platten, an deren Endausbreitung die Anlagen der fünf Zehen noch durch eine Schwimmhaut verbunden sind. In einem noch früheren Stadium (Fig. A-D) sind die fünf Zehen noch nicht einmal angelegt, und es ist ganz unmöglich, auch nur vordere und hintere Gliedmaassen zu unterscheiden. Diese sowohl als jene sind nichts als ganz einfache, rundliche Fortsätze, welche aus der Seite des Rumpfes hervorgesprosst sind. In dem frühen Stadium, welches Fig. 7 darstellt, fehlen dieselben überhaupt noch ganz, und der ganze Embryo ist ein einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaassen.

An den auf Taf. II und III dargestellten Embryonen aus der vierten Woche der Entwickelung (Fig. A-D), in denen Sie jetzt wohl noch keine Spur des erwachsenen Thieres werden erkennen können, möchte ich Sie noch besonders aufmerksam machen auf eine äusserst wichtige Bildung, welche allen Wirbelthieren ursprünglich gemeinsam ist, welche aber späterhin zu den verschiedensten Organen umgebildet wird. Sie kennen gewiss alle die Kiemenbogen der Fische, jene knöchernen Bogen, welche zu drei oder vier hinter einander auf jeder Seite des Halses liegen, und welche die Athmungs-Organe der Fische, die Kiemen, tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche das Volk »Fischohren« nennt). Diese Kiemenbogen und die dazwischen befindlichen Kiemenspalten sind beim Menschen (D) und beim Hunde (C), beim Huhne (B) und bei der Schildkröte (A) ursprünglich ganz eben so vorhanden, wie bei allen übrigen Wirbelthieren. (In Fig. A-D sind die drei Kiemenbogen der rechten Halsseite mit den Buchstaben k1, k2, k3 bezeichnet.) Allein nur bei den Fischen bleiben dieselben in der ursprünglichen Anlage bestehen und bilden sich zu Athmungs-Organen aus. Bei den übrigen Wirbelthieren werden dieselben theils zur Bildung des Gesichts, theils zur Bildung des Gehör-Organs verwendet.

Endlich will ich nicht verfehlen, Sie bei Vergleichung der auf Taf. II und III abgebildeten Embryonen nochmals auf das Schwänzchen des Menschen (s) aufmerksam zu machen, welches derselbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der ursprünglichen Anlage theilt. Die Auffindung »geschwänzter Menschen« wurde lange Zeit von vielen Monisten mit Sehnsucht erwartet, um darauf eine nähere Verwandtschaft des Menschen mit den übrigen Säugethieren begründen zu können. Und eben so hoben ihre dualistischen Gegner oft mit Stolz hervor, dass der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigsten körperlichen Unterschiede zwischen dem Menschen und den Thieren bilde, wobei sie nicht an die vielen schwanzlosen Thiere dachten, die es wirklich giebt. Nun besitzt aber der Mensch in den ersten Monaten der Entwickelung eben so gut einen wirklichen Schwanz, wie die nächstverwandten schwanzlosen Affen (Orang, Schimpanse, Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derselbe aber bei den meisten, z. B. beim Hunde (Fig. C, G), im Laufe der Entwickelung immer länger wird, bildet er sich beim Menschen (Fig. D, H) und bei den ungeschwänzten Säugethieren von einem gewissen Zeitpunkt der Entwickelung an zurück und verwächst zuletzt völlig. Indessen ist auch beim ausgebildeten Menschen der Rest des Schwanzes als verkümmertes oder rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf Schwanzwirbeln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welche das hintere oder untere Ende der Wirbelsäule bilden; ein untrügliches Zeugniss der Abstammung von geschwänzten Ahnen (S. 285).

Die meisten Menschen wollen noch gegenwärtig die wichtigste Folgerung der Descendenz-Theorie, die paläontologische Entwickelung des Menschen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säugethieren nicht anerkennen, und halten eine solche Umbildung der organischen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, sind die Erscheinungen der individuellen Entwickelung des Menschen, von denen ich Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunderbar? Ist es nicht im höchsten Grade merkwürdig, dass alle Wirbelthiere aus den verschiedensten Klassen, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, in den ersten Zeiten ihrer embryonalen Entwickelung geradezu nicht zu unterscheiden sind; und dass selbst viel später noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel sich deutlich von den Säugethieren unterscheiden, Hund und Mensch noch beinahe identisch sind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungs-Reihen mit einander vergleicht, und sich fragt, welche von beiden wunderbarer ist, so muss uns die Ontogenie oder die kurze und schnelle Entwickelungs-Geschichte des Individuums viel räthselhafter erscheinen, als die Phylogenie oder die lange und langsame Entwickelungs-Geschichte des Stammes. Denn eine und dieselbe grossartige Form-Wandelung und Umbildung wird von der letzteren im Lauf von vielen tausend Jahren, von der ersteren dagegen im Laufe weniger Wochen oder Monate vollbracht. Offenbar ist diese überaus schnelle und auffallende Umbildung des Individuums in der Ontogenesis, welche wir thatsächlich durch directe Beobachtung feststellen können, an sich viel wunderbarer, viel erstaunlicher, als die entsprechende, aber viel langsamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahren-Kette desselben Individuums in der Phylogenesis durchgemacht hat.

Beide Reihen der organischen Entwickelung, die Ontogenesis des Individuums, und die Phylogenesis des Stammes, zu welchem dasselbe gehört, stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhange. Die Keimes-Geschichte ist ein Auszug der Stammes-Geschichte, oder mit anderen Worten: die Ontogenie ist eine Recapitulation der Phylogenie. Ich habe diese Theorie, welche ich für äusserst wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie 4) ausführlich zu begründen versucht und in meiner »Anthropogenie« 56) am Menschen selbst durchgeführt. Wie ich dort an jedem einzelnen Organ-System des Menschen nachwies, ist die Ontogenesis, oder die Entwickelung des Individuums, eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung (Recapitulation) der Phylogenesis oder der Entwickelung des zugehörigen Stammes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden. Dieser fundamentale Satz ist das wichtigste allgemeine Gesetz der organischen Entwickelung, das biogenetische Grundgesetz. (Vergl. meine »Studien zur Gasträa-Theorie«, 1877, S. 70.)

Die Uebereinstimmung vieler Keim-Formen höherer Thiere mit den entwickelten Formen von stammverwandten niederen Thieren, ist so auffallend, dass sie schon der älteren Natur-Philosophie nicht entging; Oken, Treviranus u. A. wiesen schon im Anfang unseres Jahrhunderts darauf hin. Meckel sprach schon 1821 von einer »Gleichung zwischen der Entwickelung des Embryo und der Thierreihe«. Baer erläuterte schon 1828 kritisch die Frage, wie weit innerhalb eines Typus oder Stammes, (z. B. der Wirbelthiere), die Keim-Formen der höheren Thiere die bleibenden Formen der niederen durchlaufen. Allein von einem wirklichen Verständniss dieser wunderbaren Gleichung konnte natürlich so lange nicht die Rede sein, als die Abstammungs-Lehre noch nicht zur Anerkennung gelangt war. Als dann endlich Darwin 1859 diese Anerkennung durchsetzte, wies er auch im XIV. Capitel seines Hauptwerks kurz auf die grosse Bedeutung der Embryologie hin. Eingehend und mit voller Klarheit hat aber dieselbe zuerst Fritz Müller an dem Beispiele der Krebs-Klasse erläutert, in seiner vorzüglichen Schrift »Für Darwin« 16). Ich selbst habe dann seiner Theorie eine schärfere Fassung in der Form meines »biogenetischen Grundgesetzes« gegeben, und sie in den Studien zur Gasträa-Theorie, sowie in der Anthropogenie weiter ausgeführt.

In dem innigen Zusammenhange der Keimes- und Stammes-Geschichte erblicke ich einen der wichtigsten und unwiderleglichsten Beweise der Descendenz-Theorie. Es vermag Niemand diese Erscheinungen zu begreifen, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze zurückgeht; durch diese erst sind sie erklärlich. Ganz besonders verdienen dabei die Gesetze unsere Beachtung, welche wir früher als die Gesetze der abgekürzten, der gleichzeitlichen und der gleichörtlichen Vererbung erläutert haben. Indem sich ein so hochstehender und verwickelter Organismus, wie der des Menschen oder eines anderen Säugethieres, von jener einfachen Zellen-Stufe an aufwärts erhebt, indem er fortschreitet in seiner Differenzirung und Vervollkommnung, durchläuft er dieselbe Reihe von Umbildungen, welche seine thierischen Ahnen vor undenklichen Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon früher habe ich auf diesen äusserst wichtigen Parallelismus der individuellen und Stammes-Entwickelung hingewiesen (S. 10). Gewisse, sehr frühe und tief stehende Entwickelungs-Stadien des Menschen und der höheren Wirbelthiere überhaupt entsprechen durchaus gewissen Bildungen, welche zeitlebens bei niederen Fischen fortdauern. Es folgt dann eine Umbildung des fischähnlichen Körpers zu einem amphibienartigen. Viel später erst entwickelt sich aus diesem der Säugethier-Körper mit seinen bestimmten Charakteren, und man kann hier wieder in den auf einander folgenden Entwickelungs-Stadien eine Reihe von Stufen fortschreitender Umbildung erkennen, welche offenbar den Verschiedenheiten verschiedener Säugethier-Ordnungen und Familien entsprechen. In derselben Reihenfolge sehen wir aber auch die Vorfahren des Menschen und der höheren Säugethiere in der Erd-Geschichte nach einander auftreten: zuerst Fische, dann Amphibien, später niedere und zuletzt erst höhere Säugethiere. So läuft die embryonale Entwickelung des Individuums durchaus parallel der paläontologischen Entwickelung des ganzen zugehörigen Stammes; und diese äusserst interessante und wichtige Erscheinung ist einzig und allein durch die Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze zu erklären.

Um übrigens das biogenetische Grundgesetz richtig zu verstehen und anzuwenden, muss man bedenken, dass die erbliche Wiederholung der ursprünglichen Stammformen-Kette durch die entsprechende und parallele Keimformen-Kette nur selten (oder strenggenommen niemals!) ganz vollständig ist. Denn die wechselnden Existenz-Bedingungen üben ihre Wirkung auf jede einzelne Keimform ebenso aus, wie auf den entwickelten Organismus. Ausserdem wirkt das Gesetz der abgekürzten Vererbung (S. 191) beständig auf eine Vereinfachung des ursprünglichen Entwickelungsganges hin. Andererseits kann aber der Keim durch Anpassung an neue Lebens-Verhältnisse (z. B. Bildung schützender Hüllen) neue Formen gewinnen, welche dem ursprünglichen, durch Vererbung übertragenen Bilde der Stammform fehlten. So muss denn nothwendig das Bild der Keimform (besonders der späteren Keimungsstufen) mehr oder weniger von dem ursprünglichen Bilde der entsprechenden Stammform abweichen, und zwar um so mehr, je höher der Organismus entwickelt ist.

Demnach zerfallen eigentlich alle Erscheinungen der Keimung oder der individuellen Entwickelung (Ontogenesis) in zwei verschiedene Gruppen: Die erste Gruppe umfasst die Ur-Entwickelung oder Auszugs-Entwickelung (Palingenesis) und führt uns noch heute jene uralten Bildungs-Verhältnisse vor Augen, welche durch Vererbung von den ursprünglichen Stammformen übertragen worden sind (so z. B. beim menschlichen Embryo die Kiemenbogen, die Chorda, der Schwanz u. s. w.). Die zweite Gruppe hingegen enthält die Störungs-Entwickelung oder Fälschungs-Entwickelung (Cenogenesis) und trübt das ursprüngliche Bild des Entwickelungs-Ganges durch Einführung neuer, fremder Bildungen, welche den älteren Stammformen fehlten und erst durch Anpassung an die besonderen Bedingungen ihrer individuellen Entwickelung von den Keimformen erworben wurden (so z. B. beim menschlichen Embryo die Ei-Hüllen, der Dottersack, die Placenta u. s. w.).

Jede kritische Untersuchung und Verwerthung der individuellen Entwickelung wird daher vor Allem zu unterscheiden haben, wie viel von den embryologischen Thatsachen palingenetische Documente sind (zur Auszugs-Geschichte gehörig) – wieviel anderseits cenogenetische Abänderungen jener Documente (der Störungs-Geschichte angehörig). Je mehr in der Keimes-Geschichte jedes Organismus durch Vererbung die ursprüngliche Palingenie erhalten ist, desto treuer ist das Bild, welches uns dieselbe von der Stammes-Geschichte desselben entwirft; je mehr anderseits durch Anpassung der Keimformen die Cenogenie störend eingewirkt hat, desto mehr wird jenes Bild verwischt oder entstellt.

Der wichtige Parallelismus der paläontologischen und der individuellen Entwickelungsreihe lenkt nun unsere Aufmerksamkeit noch auf eine dritte Entwickelungsreihe, welche zu diesen beiden in den innigsten Beziehungen steht und denselben ebenfalls im Ganzen parallel läuft. Das ist nämlich diejenige Stufenleiter von Formen, welche das Untersuchungs-Object der vergleichenden Anatomie bildet, und welche wir kurz die systematische Entwickelung nennen wollen. Wir verstehen darunter die Kette von verschiedenartigen, aber doch verwandten und zusammenhängenden Formen, welche zu irgend einer Zeit der Erdgeschichte, also z. B. in der Gegenwart, neben einander existiren. Indem die vergleichende Anatomie die verschiedenen ausgebildeten Formen der entwickelten Organismen mit einander vergleicht, sucht sie das gemeinsame Urbild zu erkennen, welches den mannichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klassen u. s. w. zu Grunde liegt, und welches durch deren Differenzirung nur mehr oder minder versteckt wird. Sie sucht die Stufenleiter des Fortschritts festzustellen, welche durch den verschiedenen Vervollkommnungsgrad der divergenten Zweige des Stammes bedingt ist. Um bei dem angeführten Beispiele zu bleiben, so zeigt uns die vergleichende Anatomie, wie die einzelnen Organe und Organ-Systeme des Wirbelthier-Stammes in den verschiedenen Klassen, Familien und Arten desselben sich ungleichartig entwickelt, differenzirt und vervollkommnet haben. Sie erklärt uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbelthier-Klassen von den Fischen aufwärts durch die Amphibien zu den Säugethieren, und hier wieder von den niederen zu den höheren Säugethier-Ordnungen, eine aufsteigende Stufenleiter bildet. Welches klare Licht die Erkenntniss dieser stufenweisen Entwickelung der Organe verbreitet, können Sie aus den vergleichend-anatomischen Arbeiten von Goethe, Meckel, Cuvier, Johannes Müller, Gegenbaur, Huxley, Fürbringer u. A. sehen; die letzteren haben durch Anwendung der Descendenz-Theorie dieser Wissenschaft eine ganz neue Gestalt gegeben.

Die Stufenleiter der ausgebildeten Formen, welche die vergleichende Anatomie in den verschiedenen Divergenz- und Fortschritts-Stufen des organischen Systems nachweist, und welche wir die systematische Entwickelungsreihe nannten, entspricht einem Theile der paläontologischen Entwickelungsreihe; sie betrachtet das anatomische Resultat der letzteren in der Gegenwart; und sie ist zugleich parallel der individuellen Entwickelungsreihe; diese selbst ist wiederum der paläontologischen parallel.

Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleiche Grad von Vervollkommnung, welchen die vergleichende Anatomie in der Entwickelungsreihe des Systems nachweist, ist wesentlich bedingt durch die zunehmende Mannichfaltigkeit der Existenzbedingungen, denen sich die verschiedenen Gruppen im Kampf um das Dasein anpassten, und durch den verschiedenen Grad von Schnelligkeit und Vollständigkeit, mit welchem diese Anpassung geschah. Die conservativen Gruppen, welche die ererbten Eigenthümlichkeiten am zähesten festhielten, blieben in Folge dessen auf der tiefsten Entwickelungsstufe stehen. Die am schnellsten und vielseitigsten fortschreitenden Gruppen, welche sich den vervollkommneten Existenzbedingungen am bereitwilligsten anpassten, erreichten selbst den höchsten Vollkommenheitsgrad. Je weiter sich die organische Welt im Laufe der Erdgeschichte entwickelte, desto grösser musste die Divergenz der niederen conservativen und der höheren progressiven Gruppen werden, wie das ja eben so auch aus der Völkergeschichte ersichtlich ist. Hieraus erklärt sich auch die historische Thatsache, dass die vollkommensten Thier- und Pflanzen-Gruppen sich in verhältnissmässig kurzer Zeit zu sehr bedeutender Höhe entwickelt haben, während die niedrigsten, conservativsten Gruppen durch alle Zeiten hindurch auf der ursprünglichen Stufe stehen geblieben, oder nur sehr langsam und allmählich etwas fortgeschritten sind.

Auch die Ahnenreihe des Menschen zeigt dieses Verhältniss deutlich. Die Haifische der Jetztzeit stehen den Ur-Fischen, welche zu den ältesten Wirbelthier-Ahnen des Menschen gehören, noch sehr nahe, ebenso die heutigen niedersten Amphibien (Kiemenmolche und Salamander) den Amphibien, welche sich aus jenen zunächst entwickelten. Und eben so sind unter den späteren Vorfahren des Menschen die Monotremen und Beutelthiere, die ältesten Säugethiere, zugleich die unvollkommensten Thiere dieser Klasse die heute noch leben. Die uns bekannten Gesetze der Vererbung und Anpassung genügen vollständig, um diese äusserst wichtige und interessante Erscheinung zu erklären, die man kurz als den Parallelismus der individuellen, der paläontologischen und der systematischen Entwickelung, des betreffenden Fortschrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Descendenz-Theorie ist im Stande gewesen, für diese höchst wunderbare Thatsache eine Erklärung zu liefern, während sie sich nach der Descendenz-Theorie aus den Gesetzen der Vererbung und Anpassung vollkommen erklärt.

Wenn Sie diesen Parallelismus der drei organischen Entwickelungsreihen schärfer in's Auge fassen, so müssen sie noch folgende nähere Bestimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsgeschichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiterförmige Kette von Formen; und eben so derjenige Theil der Phylogenie, welcher die paläontologische Entwickelungsgeschichte der directen Vorfahren jedes individuellen Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem natürlichen System jedes organischen Stammes oder Phylum entgegentritt, und welche die paläontologische Entwickelung aller Zweige dieses Stammes untersucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Untersuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieses Stammbaums in der Gegenwart, und stellen Sie dieselben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkommnung zusammen, so erhalten Sie die systematische Stufenleiter der vergleichenden Anatomie. Genau genommen ist also diese letztere nur ein Theil der ganzen Phylogenie und auch nur theilweise der Ontogenie parallel; die Ontogenie selbst ist nur einem Theile der Phylogenie parallel.

In neuerer Zeit ist vielfach darüber gestritten worden, welche von jenen drei grossen Entwickelungs-Reihen die höchste Bedeutung für den Transformismus und für die Erkenntniss der Stamm-Verwandtschaft besitze. Dieser Streit ist überflüssig; denn im Allgemeinen sind alle drei von gleich hohem Werthe; im Einzelnen aber muss der phylogenetische Forscher für jeden besonderen Fall kritisch untersuchen, ob er den Thatsachen der Palaeontologie, oder der Ontogenie, oder der vergleichenden Anatomie grössere Wichtigkeit beimessen soll.

Alle im Vorhergehenden erläuterten Erscheinungen der organischen Entwickelung, insbesondere dieser dreifache genealogische Parallelismus, und die Differenzirungs- und Fortschritts-Gesetze, welche in jeder dieser drei organischen Entwickelungsreihen sichtbar sind, liefern äusserst wichtige Belege für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. Denn sie sind nur durch diese zu erklären, während die Gegner derselben auch nicht die Spur einer Erklärung dafür aufbringen können. Ohne die Abstammungs-Lehre lässt sich die Thatsache der organischen Entwickelung überhaupt nicht begreifen. Wir würden daher gezwungen sein, auf Grund derselben Lamarck's Abstammungs-Theorie anzunehmen, auch wenn wir nicht Darwin's Züchtungs-Theorie besässen.


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