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Seit Konsul Wernicke an jenem Junimorgen den Plan zu der »ganz großen Sache« entwickelt hatte, waren anderthalb Jahre vergangen. In rastloser Arbeit war das Riesenunternehmen soweit gefördert worden, daß man am 1. Oktober sowohl mit dem »Phöbus« als mit den ersten hundert Bänden der »Phöbus-Bücherei« an die Öffentlichkeit treten konnte, und an den Plakatsäulen aller Groß- und Mittelstädte prangten schon grellfarbige Anschläge, die der Welt verkündeten, daß deutscher Idealismus ohne Ansehen der gewaltigen Opfer eine noch nie dagewesene Kulturtat vollbracht und der Menschheit endlich die vornehme, vollkommen unabhängige und nur im Sinne eines gesunden völkischen Höhendranges geleitete Halbmonatsschrift und den sorgfältig ausgewählten, nach Inhalt wie Ausstattung unübertrefflichen und dabei unerhört wohlfeilen Bücherschatz beschert habe, nach denen sie schon so lange schmachte.
Es war ein Sonntagmorgen im September, kurz vor dem Tage, wo in dem Backsteinpalast der Erasmus-Reich-Straße die Schleusen geöffnet und die in den Lagern aufgestaute Hochflut der Zwei-Mark-Bände über den Erdball abgelassen werden sollten.
Auch in Wernickes Villa, die in dem auf dem ehemaligen Exerzierplatz am Rosental entstandenen vornehmen Viertel lag, machte sich das bevorstehende Ereignis bemerkbar. In diesem Hause, das mit seinen in kalte Pracht gekleideten weitläufigen Räumen so ganz zu Repräsentationszwecken bestimmt zu sein schien, und das bis zur Stunde doch noch nie einen größeren Kreis von Gästen unter seinem Dache gesehen hatte, rüstete man sich, zur Feier des Stapellaufs der Phöbusbände und zugleich – und dies wurde als die Hauptsache hingestellt! – zu Ehren des in der kommenden Woche in Leipzig tagenden Reichsverbandes deutscher Redakteure ein Festmahl zu veranstalten.
Für Leute, die in solchen Dingen keine Erfahrung haben, sind die Vorbereitungen zu einem Schmause großen Stiles keine leichte Aufgabe. Das erkannten auch Wernicke und seine Gattin, die jetzt in dem mit hellem Eichenholz getäfelten kühlen Speisesaal etwas erregt umherspazierten und zum soundsovielten Male über die Reihenfolge der Gänge berieten. Augenblicklich stritten sie darüber, ob die schwedische Platte – für diese hatte sich Irmgard ins Zeug gelegt, und zwar mit einer den Eltern ganz unerklärlichen Entschiedenheit! – vor oder nach der Suppe aufgetragen werden müsse, und ob man schon vom ersten Gange an Sekt geben solle. Über die schwedische Platte kam schließlich eine Einigung zustande, über den Zeitpunkt jedoch, wo der Sekt in die Gläser schäumen sollte, gingen die Ansichten nach wie vor auseinander, da sich Frau Wernicke aus Sparsamkeitsgründen gegen die vorzeitige Vergeudung des kostspieligen Getränkes sträubte. »Bedenk' doch nur, wie das ins Geld laufen würde, Paul«, sagte sie, den Tränen nahe.
»Ist ganz gleichgültig, Lina!« erwiderte der Konsul sehr bestimmt. »Sei doch nicht so kleinlich! Es kommt doch nur darauf an, daß wir den Kerlen imponieren. Gelingt uns das, dann macht sich der ganze Rummel doppelt und dreifach bezahlt.«
»Dann wollen wir aber deutschen Sekt geben,« meinte sie, vor seiner Entschlossenheit die Waffen streckend. »Wenn die Diener die Flaschen in eine Serviette eingehüllt tragen, merkt es kein Mensch.«
»Da kennst du aber die Redakteure schlecht! Solche Leute sind an Abfütterungen gewöhnt und taxieren die Weine beim ersten Schluck. Ach nein, nur keine Surrogate! Echter Sekt, echter Kognak, echter Benediktiner, echter Malossol!«
»Aber Paul, was soll denn das alles kosten?«
»Ich sage dir ja, das spielt keine Rolle, Lina. Das sind eben Geschäftsspesen. Die Propaganda für die ›Phöbus-Bücherei‹ kostet mich jetzt schon, wo doch noch kein einziger Band erschienen ist, bare zweihundertundvierzigtausend Mark, da kommt es auf die paar tausend für das Souper auch nicht an. Aber du hast für solche Dinge eben noch immer kein Verständnis. Du bist nicht mitgewachsen, steckst mit deinen ganzen Anschauungen noch immer in den kleinen Verhältnissen. Ich bin der letzte, der dir einen Vorwurf daraus macht, daß du kleinbürgerlichen Kreisen entstammst und in deiner Jugend selbst noch ins Geschäft gegangen bist; mein Vater war ja auch noch ein einfacher Mann. Aber mit dem Aufschwung der Firma ist unsere gesellschaftliche Position doch eine völlig andere geworden. Du mußt dich endlich daran gewöhnen, als Dame aufzutreten. Ich habe schon längst einmal mit dir darüber reden wollen. Vor allem ist es nötig, daß du auf jede Vertraulichkeit mit den Dienstboten verzichtest. So oft ich nach Hause komme, sitzt du in der Küche und läßt dir von den Mädchen Klatsch aus der Nachbarschaft erzählen. Das schickt sich doch für die Frau Konsul Wernicke nicht. Gewiß, man soll nicht stolz und hochfahrend sein, man kann auch bei passender Gelegenheit ein freundliches Wort mit den Leuten wechseln und ihnen dabei zu verstehen geben, daß man auf ihr persönliches Wohl bedacht ist, aber der Abstand muß unbedingt gewahrt bleiben.«
Frau Lina seufzte. »Ja, du lieber Gott, man hat doch das Bedürfnis, einmal ein paar Worte zu reden,« sagte sie. »Wenn ich wenigstens noch netten Umgang hätte! Aber du willst ja nicht einmal, daß ich mir meine beste Freundin, die Frau Schornsteinfegermeister Künzel, einlade.«
»Na ja, die Künzel ist ja eine sehr brave Frau, aber höhere Interessen hat sie doch ganz und gar nicht. Und ich meine, in unserm Hause müßte das Geistige ausschlaggebend sein. Noblesse oblige. Ich finde, daß für Leute in unserer gesellschaftlichen Stellung gar kein Verkehr besser ist als ungeeigneter. Ich wenigstens entbehre den Verkehr nicht im geringsten.«
»Ja du, Paul! Du hast dein Geschäft und deinen Klub; das kann dir freilich genügen. Aber ich komme mir hier in den ungemütlichen großen Zimmern wie von Gott und aller Welt verlassen vor. Was habe ich davon, daß ich in einem goldenen Käfig sitze? Aber das habe ich längst gemerkt: für unsereins ist es furchtbar schwer, in die feinen Kreise hineinzukommen.«
Der Konsul nickte. »Das gebe ich zu. Das Geld allein tut's nicht. Man muß auch die nötige Bildung haben. Aber du machst eben gar keinen Versuch, dir Bildung anzueignen. Und das ist doch gar nicht so schwer. Sieh mal, ich habe dir zu deinem Geburtstag ›Meyers Kleines Konversationslexikon‹ geschenkt. Warum benutzt du das nicht? Warum liest du nicht jeden Tag ein Stündchen darin? An Zeit fehlt es dir doch nicht, und ein gutes Gedächtnis hast du auch. Jetzt spricht zum Beispiel alle Welt über Marokko. Weißt du etwas davon, Lina? Hast du auch nur eine Ahnung, wo dieses Land liegt? Ich wette nein. Siehst du, sowie die Geschichte losging, habe ich mich sofort darüber orientiert. Ich weiß jetzt, daß Marokko der Teil Afrikas ist, der Spanien gegenüberliegt, daß es achthunderttausend Quadratkilometer groß ist und sieben Millionen Einwohner hat, die in Berber, Amazirghen, Schelluh und Kabylen zerfallen.«
Wäre Frau Linas Haar nicht so fest zusammengewunden gewesen, es hätte sich in diesem Augenblick unfehlbar gesträubt. »Und so was soll ich mir merken?« jammerte sie. »Ach, Paul, ich fürchte, das bringe ich nie fertig. Lieber will ich den ganzen Tag Gemüse zuputzen.«
»Ja, meine gute Lina, Gemüsezuputzen ist allerdings bequemer als an seiner Bildung arbeiten,« sagte der Konsul milde. »Aber mache nur einmal den Anfang und merke dir die marokkanischen Völkerschaften. Weißt du sie noch? Nun?«
»Berber –«
»Richtig! Aber weiter? Gib genau acht: Amazirghen, Schelluh und Kabylen.«
Nicht ohne einige Anstrengung wiederholte sie die Namen.
»Na ja, nun präge sie dir aber auch ein,« mahnte er. »Es ist sehr wahrscheinlich, daß bei unserm Pressesouper das Gespräch auf Marokko kommt; da wäre es doch schön, wenn du mitreden könntest.«
Die in eine geographische Unterrichtsstunde ausgeartete Beratung über die Speisenfolge wurde zu Frau Wernickes Genugtuung durch Irmgards Eintritt unterbrochen. In einem koketten weinroten Kimonokleide hüpfte das junge Mädchen, strahlend wie immer, herein. Die Eltern betrachteten sie mit stolzer Befriedigung, aber der Vater konnte sich doch nicht enthalten, dem Töchterlein zu verstehen zu geben, daß es recht spät aufgestanden sei.
»Aber Pappi! Heute, am Sonntag, werde ich doch wohl ausschlafen dürfen!« erwiderte die Kleine mit der Miene gekränkter Unschuld.
Der Konsul lächelte. »Du tust doch an Wochentagen ebensowenig wie an Sonntagen«, meinte er.
»Bitte sehr! Gestern früh hatte ich Gesangstunde und nachmittags englisches Kränzchen. Siehst du, my dearest father? Du denkst immer, du wärst der einzige in der Familie, der was tut. Ist denn keine Post für mich gekommen?«
»Nein, Liebling. Erwartest du denn einen Brief?«
»Erwarten? Nun, einen bestimmten nicht. Aber ich lebe eigentlich immer in Erwartung. Ihr alten Leute könnt euch das wohl gar nicht vorstellen? Sind denn schon Antworten auf die Einladungen gekommen?«
»Ja, eine ganze Menge.«
»Auch Absagen?«
»Auch einige.«
»Auch von hiesigen Herren?«
»Allerdings. Doktor Lungwitz zum Beispiel kommt nicht«, berichtete Frau Wernicke.
Irmgard rümpfte das Näschen. »Dann bleibt er eben weg,« bemerkte sie geringschätzig. »Wir werden's schon überleben.«
Der Vater bemühte sich, ernst und streng auszusehen. »Mir ist seine Absage im höchsten Grade unangenehm. Ich hätte auf sein Erscheinen großen Wert gelegt«, sagte er.
Das Mädchen lachte. »Gott, Pappi, was du nur an dem Menschen hast! Der trägt doch noch Umlegekragen.«
»Was jedoch nicht hindert, daß er in literarischen Dingen vom allergrößten Einfluß ist. Du mußt nämlich wissen: seit dem 1. Januar redigiert er das ›Zentralblatt für Volksbildungswesen‹.«
»Richtig! Ich hatte ganz vergessen, daß ihr das Bacchanal ja nur wegen der Phöbusgeschichte veranstaltet,« sagte Irmgard gelangweilt. »Aber wenn auf Doktor Lungwitz so viel ankommt, so schickt ihm doch am andern Tage ein Töpfchen Kaviar, ein paar Stücke Baumkuchen und eine Portion Ananaseis. Zu Hause schmeckt so was noch tausendmal besser als bei einer großen Abfütterung.«
Die Mutter warf der Tochter einen erstaunten Blick zu. »Meinst du, das ginge?« fragte sie unsicher.
»Dummes Zeug! Wir wollen uns doch nicht lächerlich machen,« rief der Vater, über den Vorschlag entsetzt. »Den Lungwitz kaufe ich mir schon auf eine andere Manier.«
»Kommt denn der ulkige Herr mit den kurzen Ärmeln auch?« fragte Irmgard.
»Wen meinst du damit, Maus?«
»Nun, der – der früher Musiker war; mir fällt der Name nicht gleich ein – unser Redakteur.«
»Schlick? Natürlich kommt der. Das versteht sich doch ganz von selbst«, erklärte der Konsul.
»Dann tut mir aber den einzigen Gefallen und sorgt dafür, daß er sich nicht an den Flügel setzt. Der Mensch hat einen Anschlag, der mir auf die Nerven fällt. Als er im vergangenen Winter Besuch machte und auf Pappi warten mußte, hat er losgepaukt, daß Lora von der Stange fiel und Krämpfe kriegte.«
»Da kannst du ganz unbesorgt sein, Kind. Zum Musizieren wird niemand kommen,« versicherte Wernicke. »Wir haben Wichtigeres zu tun.«
»Ich fürchte, die ganze Geschichte läuft auf bocklederne Geschäftssimpelei hinaus,« meinte Irmgard lieblos. »Und ich muß still dabeisitzen und mich zu Tode langweilen, unter Larven die einzig fühlende Brust. Wenn ihr nur einen Menschen geladen hättet, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann!«
Man hörte die Haustürklingel.
»Da kommt gewiß Besuch,« sagte das junge Mädchen mit dem Ausdruck hoffnungsfreudiger Erwartung. »Kann ich mich in diesem Kleide sehen lassen, oder soll ich was Besseres anziehen?«
Frau Wernicke ließ einen prüfenden Blick über die Tochter gleiten. »Ich finde, daß du sehr gut aussiehst«, versicherte sie mit Überzeugung.
Der Konsul lauschte. »Es wird Hennig sein,« bemerkte er, ohne die leise Enttäuschung in den Mienen seiner Tochter zu beachten. »Ich habe ihn hergebeten, um wegen des Soupers einiges mit ihm zu besprechen. Er hat in solchen Sachen einen sehr sichern Takt, obgleich er doch auch aus bescheideneren Verhältnissen stammt.«
Irmgard wurde stutzig. » Auch aus bescheideneren Verhältnissen?« fragte sie. »Geht das ›Auch‹ auf uns? Ich denke, der Großvater hat ein Bombengeld verdient?«
»Nun, ein tüchtiger Geschäftsmann war er schon,« erklärte Wernicke nicht ohne einige Anzeichen von Verlegenheit, »aber er hat doch klein angefangen, und zur Hautevolee hat er sich nie gerechnet. Dazu war Großvater viel zu bescheiden.«
Der Prokurist wurde gemeldet und sogleich vorgelassen. Er begrüßte die Familie in seiner sicheren und ungezwungenen Weise. Der Konsul erkundigte sich bei ihm nach den Posteingängen, die Hennig am Sonntagvormittag gewöhnlich durchsah, und begann dann über die bevorstehende Festlichkeit zu sprechen. »Was halten Sie davon: ob wir die Tafel mit einem Blumenarrangement schmücken lassen?«
»Das könnte nicht schaden. Allerdings dürfte es die Unterhaltung über den Tisch weg nicht behindern«, meinte Hennig.
Wernicke hatte noch eine ganze Anzahl Fragen in Bereitschaft. »Wie sollen wir die Gäste setzen? Die Herren von der Tagespresse zusammen oder in bunter Reihe mit den Herausgebern der Revuen und Familienblätter?«
»Ich bin für bunte Reihe. Dadurch beugt man etwaigen Reibungen vor und sichert der allgemeinen Unterhaltung den neutralen Boden, den man unbedingt braucht, wenn man für irgend etwas Stimmung machen will«, entschied der Prokurist.
»Sehr richtig! Ist auch meine Meinung. Sie halten es doch wohl auch für gut, daß wir gleich vom ersten Gange an neben den andern Weinen auch Sekt geben?«
»Das wird kaum zu umgehen sein. Es ist jetzt ja so üblich.«
»Siehst du, Lina? Herr Hennig pflichtet mir auch darin bei,« wandte sich der Konsul triumphierend an seine Gattin. »Ich werde die Gäste natürlich mit einer kurzen Ansprache begrüßen; das geschieht wohl am besten bei der Suppe?« fragte er weiter.
»Gewiß, Herr Konsul.«
»Ob ich da gleich auf unser neues Unternehmen zu sprechen komme?«
»Das würde ich doch lieber erst später tun,« riet der Prokurist. »Geschieht es gleich, so merkt man die Absicht. Meines Erachtens müßte es nach dem Schlusse zu geschehen, und zwar mehr beiläufig.«
»Beiläufig? Erlauben Sie mal, das Allerwichtigste soll ich beiläufig behandeln?« Wernicke war so überrascht, daß er mit der bekannten weit ausholenden Bewegung den Klemmer aufsetzte.
Hennig ließ sich nicht einschüchtern. »Für uns ist das neue Unternehmen allerdings das Wichtigste, für die Herren, die Sie zu bewirten gedenken, aber kaum,« sagte er. »Die Fiktion, als sei das Souper lediglich zu Ehren der Presse veranstaltet worden, muß unter allen Umständen aufrecht erhalten werden. Die Herren von der Feder sind in solchen Dingen ungemein feinfühlig. Wenn die merken, daß sie nur eingeladen worden sind, um mit Hilfe von Sekt und Kaviar für die ›Phöbus-Bücherei‹ gewonnen zu werden, so ist die ganze Liebesmüh' verloren. Dann würden sie über die Bewirtung mit Besprechungen quittieren, mit denen nicht einmal Herr Eisold etwas anfangen könnte.«
»Da mögen Sie freilich recht haben,« bemerkte der Konsul nachdenklich. »Ich werde also die Ansprache, wodurch ich das neue Unternehmen ankündige und um dessen wohlwollende Aufnahme bitte, erst bei den getrüffelten Fasanen vom Stapel lassen.«
»Das dürfte wohl der geeignete Zeitpunkt sein. Aber ich würde auch die Bitte um wohlwollende Aufnahme unterdrücken. Wenn man die Überzeugung hegt, daß man der Welt etwas Gutes bietet – und diese Überzeugung werden Sie ja wohl haben, Herr Konsul –, so kommt man nicht mit einer Captatio benevolentiae. Das tut man nur bei einer Sache von zweifelhaftem Wert. Ich würde an Ihrer Stelle das Wohlwollen der Presse als etwas Selbstverständliches voraussetzen und den Herren nur mein Bedauern darüber ausdrücken, daß ich ihnen mit einem so großen Unternehmen eine neue Riesenarbeit verursachen müsse. Und dann vor allem: das Eingeständnis, daß die neue Bücherei trotz aller darauf verwandten Sorgfalt noch sehr verbesserungsbedürftig sei, und daß es die Aufgabe der Kritik wäre, an ihrer Vervollkommnung mitzuwirken!«
»Dann muß ich meine Rede freilich noch einmal umarbeiten,« sagte Wernicke gleichmütig. »Ich hatte sie nämlich schon fix und fertig.«
Jetzt wurde wirklich Besuch gemeldet, woraus hervorzugehen schien, daß Irmgards Ahnungen nicht zu unterschätzen waren. Auf der Visitenkarte, die der Diener auf einer silbernen Platte brachte, las das Wernickesche Paar den Namen »Graf Axel Cederholm«.
»Cederholm? Wer mag denn das sein? fragte der Konsul.
»Gott, Pappi, das ist doch der Schwede, der so entzückend Tennis spielt,« erklärte Irmgard, puterrot vor Freude. »Ich habe ihm zugeredet, bei uns Besuch zu machen.«
»So, so, du hast ihm zugeredet! Sehr nett, das muß ich sagen. Der junge Mann hätte auch zu einer gelegeneren Zeit kommen können. Paßt mir jetzt ganz und gar nicht.«
Frau Wernicke sah den Gatten beinahe entsetzt an. »Aber Paul! Bedenk' doch nur: ein Graf!« sagte sie. »Wir müssen ihn unter allen Umständen empfangen.«
»Es wird uns freilich nichts anderes übrig bleiben,« erwiderte der Konsul mit Ergebung. »Aber Irmgard hätte uns doch zum mindesten vorher verständigen müssen.«
»Dazu war keine Zeit mehr, Pappi. Axel – ich wollte sagen: Graf Cederholm legt so großen Wert darauf, noch zu dem Souper eingeladen zu werden. Er ist ja eigens hergekommen, um die Verhältnisse in Deutschland zu studieren, und da wäre es ihm selbstverständlich sehr lieb, auch die vielen interessanten Preßmenschen kennen zu lernen.«
»So. Dann werde ich wohl in den sauern Apfel beißen müssen,« bemerkte der Vater seiner Tochter, indem er sich anschickte, in den Empfangssalon zu gehen. »Du kannst ja in ein paar Minuten nachkommen, Lina.«
Als er weg war, entstand eine kleine Verlegenheitspause, während deren der Prokurist eine auf dem Kaminsimse stehende, offenbar neue Bronzegruppe betrachtete.
»Es ist Lena mit dem Schwan«, erklärte die Dame des Hauses.
»Leda«, verbesserte das junge Mädchen und machte dadurch erst Hennig auf die von ihm überhörte kleine Entgleisung der Mutter aufmerksam.
»Das Ding ist etwas ganz Kostbares,« fuhr diese unbeirrt fort, »denken Sie nur, mein Mann hat achthundertundsechzig Mark dafür bezahlt.«
»Gott, Mammi, bei Kunstsachen spielt der Preis doch keine Rolle. Da kommt es bloß auf den Schick an«, bemerkte die Tochter, die ihre ästhetischen Anschauungen in einem Genfer Pensionat erworben hatte.
»Ach was! Ansehen tut man's dem Ding ja nicht, was es wert ist, und wenn ich die quittierte Rechnung nicht gesehen hätte, würde ich's selbst nicht glauben,« meinte die brave Frau. »Aber nun werde ich doch wohl den Grafen begrüßen müssen.« Und damit rauschte sie hinaus.
»Kennen Sie Cederholm, Herr Hennig?« fragte Irmgard.
»Er ist wirklich ein sehr netter Mensch. Todschick!«
»Freut mich für ihn. Was tut er eigentlich? Spielt er nur Tennis?«
»O nein, auch Golf.«
»Dann ist er ja vielseitiger, als ich angenommen habe.«
»Hauptsächlich ist er aber hier, um die deutschen Verhältnisse kennen zu lernen. Ich glaube sogar, er studiert auch nebenbei.«
»So, nebenbei. Hoffentlich überarbeitet er sich nicht.«
»Ach nein, das hat er nicht nötig. Er muß sehr vermögend sein, direkt reich. Er hat mir von seinen Gütern in Schweden erzählt, von seinen Wäldern, Wiesen, Sägewerken und Erzgruben. Halb Wermland gehört ihm.«
»Da ist es aber recht merkwürdig, daß er noch Zeit findet, hier in Deutschland jahraus jahrein mit jungen Damen Tennis zu spielen.«
Irmgard schien den leisen Hohn, der in Hennigs Worten lag, gar nicht zu merken. »Das hat seine guten Gründe,« sagte sie unbefangen. »In seiner Heimat fehlt es ihm an Gelegenheit, mit Damen zu verkehren. Die Güter liegen dort so furchtbar weit auseinander. Der arme Mensch muß tagelang im Wagen oder im Schlitten fahren, wenn er seinen nächsten Nachbar besuchen will.«
»Der arme Mensch!«
»Und dieser nächste Nachbar hat noch dazu zwei uralte Töchter, eine von fünfundzwanzig und eine von siebenundzwanzig Jahren.«
»Entsetzlich! Da kann man's ihm allerdings nicht verdenken, daß er lieber in Leipzig ist.«
»Nicht wahr? Das mein' ich auch. Und daß er bei uns Besuch macht, ist eigentlich riesig nett von ihm.«
»Warum riesig nett, Fräulein Irmgard?«
Sie wollte nicht recht mit der Sprache heraus. Als er jedoch die Frage wiederholte, sagte sie ein wenig stockend: »Na ja, mit Ihnen kann ich ja darüber reden. Sie haben ja meistens ganz vernünftige Ansichten, Herr Hennig. Wissen Sie, wir sind nämlich gar keine richtige alte Patrizierfamilie. Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll, aber so vornehm, wie Sie denken, sind wir gar nicht.«
»Wie ich denke?« Der Prokurist hatte während seiner Unterhaltung mit der Tochter des Chefs schon einigemal Gelegenheit gehabt, in Erstaunen zu geraten, aber jetzt war er geradezu baff.
»Nun ja. Großvater stammte nämlich aus bescheideneren Verhältnissen.«
»Ich weiß. Er war aber ein sehr umsichtiger Geschäftsmann und hat offenbar immer verstanden, die Konjunktur auszunutzen.«
»Sie wissen wohl Näheres über ihn? Haben Sie ihn etwa noch gekannt?« fragte sie, vor Neugier brennend.
»So etwas, Fräulein Irmgard.«
»Wo lag denn sein Rittergut eigentlich?«
»Rittergut?«
»Ich denke, er war Rittergutsbesitzer?«
»Na ja, er wird wohl öfter mal ein Rittergut besessen haben. Aber jedenfalls nie sehr lange.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ihr Herr Großvater handelte mit Gütern. Er kaufte größere Liegenschaften, die aus irgendeinem Grunde schnell losgeschlagen werden mußten, und parzellierte sie.«
»Dann muß er aber doch Geld gehabt haben?«
»Das ist anzunehmen. Er hatte es jedenfalls in seinem Geschäfte verdient.«
»Ein Geschäft hatte er also auch? Doch keinen Verlag?«
»Das gerade nicht. Aber so was Ähnliches. Er handelte mit Kunstdünger.«
» Fi donc, wie unästhetisch!«
»Aber einträglich, Fräulein Irmgard.«
»Ich bin einfach platt. Davon haben mir meine Eltern nie was gesagt. Woher wissen Sie das alles so genau?«
»Mein Vater, der ein ehrsamer Tischlermeister war, wohnte in dem Hause, aus dem Ihr Herr Großvater stammte.«
»Ach was? Wie interessant! Welches Haus war das?«
»Der ›Grüne Hering‹ in der Gerberstraße. Ihr Herr Urgroßvater hatte dort im Hof ein – nun, sagen wir mal: ein Restaurant.«
»Wohl so eins wie jetzt Päge oder Aeckerlein?«
»Nun – etwas kleiner war es schon. Es verkehrten auch andere Gäste dort.«
»Interessiert Sie das wirklich so sehr, Fräulein Irmgard?«
»Aber natürlich, sonst würde ich doch nicht danach fragen.«
»Es waren wohl in der Hauptsache Fuhrleute.«
Warum sich gerade der höchst achtenswerte Stand der Fuhrleute bei Fräulein Irmgard Wernicke eines so geringen Ansehens erfreute, war schwer zu entscheiden. Jedenfalls bekam sie wieder ein rotes Köpfchen und sagte entrüstet: »Sie sind einfach scheußlich, Herr Hennig! Und ich hatte Sie immer für so nett gehalten – schon als kleines Mädchen. Und nun erzählen Sie mir da von Kunstdünger und Fuhrleuten!«
»Meine Schuld ist das nicht. Sie haben mich regelrecht ausgefragt«, verteidigte er sich.
»Aber Sie hätten mir nicht die Wahrheit zu sagen brauchen. Wenn Sie taktvoll wären, hätten Sie mir was vorgelogen. Sehen Sie, jetzt lasse ich Sie zur Strafe allein«, sagte sie, sich zur Tür wendend.
»Bedauere unendlich! Aber zur bewußten Fälschung historischer Tatsachen fühle ich mich nicht berufen«, rief er ihr lachend nach.
Sie blieb stehen, kam noch einmal zurück und sagte, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte, in bestrickend freundlichem Tone: »Herr Hennig, eins müssen Sie mir versprechen. Wollen Sie?«
»Es kommt darauf an, was es ist«, erwiderte er.
»Daß Sie dem Grafen Cederholm nie etwas von dem Kunstdünger und dem Fuhrmannsrestaurant erzählen.«
»Das kann ich Ihnen mit gutem Gewissen versprechen. Ich werde auch schwerlich jemals Gelegenheit zu vertraulichen Unterredungen mit dem Herrn haben«, versicherte er.
»Das kann man nicht wissen,« meinte sie. »Es kommt manchmal ganz sonderbar. Aber wenn Sie ihm auch nur die leiseste Andeutung über unsere Familienverhältnisse machen, sehe ich Sie nie wieder an.«
Zur Bekräftigung dieser furchtbaren Drohung fuchtelte sie ihm mit erhobenem Zeigefinger vor der Nase herum und eilte dann, über das Parkett schlitternd, zum Empfangszimmer.