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Viertes Kapitel

Es war Rennsonntag, und das bedeutete nach seiner alten Erfahrung zugleich, daß sich über der Buchhändlerstadt an der Pleiße ein wolkenloser Himmel ausspannte.

Hennig, der mit seiner Mutter zusammen im Nordviertel wohnte, war auf dem Wege zur Rennbahn. Vom Pferdesport verstand er zwar nichts, aber er empfand das Bedürfnis, den schönen Nachmittag im Freien zu verbringen, im Gewühl der sonntäglich geputzten Menschen unterzutauchen und als leidenschaftsloser Beobachter seine Betrachtungen anzustellen.

Auf dem Promenadenring herrschte schon der lebhafteste Verkehr. Autos, herrschaftliche Kutschen und Droschken erster und zweiter Klasse rollten in rascher Folge südwärts, überholten einander und wichen in scharfer Kurve den ihnen begegnenden Straßenbahnwagen aus. Im Schatten der Linden und Platanen flutete der Strom der Fußgänger dahin, vereinigte sich vor dem hochragenden Rathausbau mit dem aus dem Ostviertel anrückenden Scharen und ergoß sich in die Karl-Tauchnitz-Straße, deren von Gärten umgebene vornehme Villen in der Hitze des Sommernachmittages träumten. Es schien beinahe, als wären die meisten dieser Prachtbauten unbewohnt; nur bei ganz wenigen öffneten sich die schmiedeeisernen Torflügel der Einfahrt, um ein elegantes Gespann in das lärmende Getriebe da draußen zu entlassen.

Der Prokurist der Firma Wernicke und Kompanie sah sich des Gedränges halber genötigt, seine Schritte zu verlangsamen. Das war ihm gar nicht so unlieb, denn er hatte keine besondere Eile und fand es ganz vergnüglich, die heiter-erregten Menschen um sich her mit Muße zu beobachten. Zunächst lockte es ihn, die Insassen der Gefährte zu mustern. Da gab es echte und Talmi-Eleganz: Damen, die im Bewußtsein ihrer unbestrittenen gesellschaftlichen Stellung auf allen Prunk verzichten durften und mit unauffälliger Gediegenheit gekleidet waren, und solche, denen man anmerkte, daß sie unter allen Umständen die Beachtung der Zeitgenossen auf sich zu lenken wünschten, und die das, was ihnen an natürlicher Vornehmheit abging, durch gewagte Toiletten, verwegene Hüte und blitzende Juwelen zu ersetzen suchten. Da waren Herren, die mit der anspruchslosen Sicherheit echter Aristokraten in ihren Kutschen saßen und das Publikum mit gleichgültigen Blicken streiften, und wieder andere, die sich mit protzenhaftem Behagen in die Polster schmiegten und mit selbstgefälligen Mienen ihre gewichtige Person den neidischen Augen der misera plebs zur Schau stellten.

In leichten Jagdwagen erschienen Gutsbesitzer aus der Umgegend, kenntlich an ihren gebräunten Gesichtern und der ein wenig rücksichtslosen Art, mit der sie ihre Gespanne kutschierten, in Krümperwagen und Droschken Kavallerieoffiziere: Leipziger Ulanen, Grimmaische Husaren und Bornaer Karabiniers, die, das Lederfutteral mit dem Feldstecher an der Seite, mit ihren Uniformen eine erfreulich bunte Note in das etwas eintönige Schwarz und Grau des Zivils brachten.

Mehr als diese flüchtigen Bilder fesselten Hennig jedoch die Leute, die um ihn her zu Fuß der Rennbahn zustrebten. Es waren in der Hauptsache Kleinbürger und einfache Handwerker, die, wie aus ihrer Unterhaltung hervorging, die Rennberichte genau verfolgten und über die Aussichten der heute startenden Pferde mit großer Sachkenntnis ihre Gedanken austauschten. Daß dabei immer wieder das Wort ›Sport‹ fiel, war nicht weiter verwunderlich, aber das, was sie darunter verstanden, hatte weder mit Reitkunst noch mit Pferdezucht etwas zu tun. Was diese Leutchen zum grünen Rasen zog, war nur der Trieb, das Glück am Totalisator zu versuchen und die süßen Aufregungen des Glücksspiels zu genießen, jene alte deutsche Leidenschaft also, die schon Tacitus mit Erstaunen erfüllt hatte.

Hennig war bei der König-Albert-Allee in den Park eingebogen und von dort quer durch das schattige Scheibenholz gegangen. Jetzt trat er bei der Rennbahntribüne wieder ins Freie. Der leichte Bau, von dessen beiden Türmen die Fahnen lustig im Sommerwinde wehten, lag, von Menschen umwogt, im vollen Sonnenlichte vor ihm. Die Logen da oben waren zum Teil schon besetzt: weiße und farbige Kleider und Hüte leuchteten über die Brüstungen, und auf den Treppen bewegten sich helle Gestalten aufwärts. Immer neue Autos und Kutschen fuhren vor, entledigten sich ihrer Insassen und ordneten sich auf dem Wagenplatz und unter den blühenden Linden der Sachsenallee zu langen Reihen. Zwischen der Tribüne und dem Sattelplatz im Innern der Bahn flutete die elegante Welt geschäftig hin und her; hier waren es vor allem die Uniformen, die die Farben des Bildes bestimmten. Alles gab sich der freudigsten Spannung hin; die Herren erwarteten für die nächsten Stunden allerlei sportliche Überraschungen, die Damen genossen schon in vollen Zügen das Glück, zu sehen und gesehen zu werden.

Was Hennig hier suchte, war etwas anderes. Er wollte sich, nicht allzusehr von Menschen umdrängt, des heute doppelt heiteren Gesamteindruckes freuen, den die an der Nordseite vom Wald umklammerte grüne Wiesenfläche mit der dahinterliegenden Stadt auf den Beschauer ausübte, und so nahm er bescheiden eine Eintrittskarte zum Dammstehplatz, wo er die Tribüne zur Linken hatte und das gewaltige Rasenoval mit seinen vereinzelten Baumgruppen, den verschiedenen Bahnen, Hecken und Hürden bequem überschauen und das Treiben auf dem Sattelplatz, wenn auch aus einiger Entfernung, gut beobachten konnte.

Als er an den Sitzplätzen vorüber kam, bemerkte er gleich in der ersten Reihe Blumhardt und Hilde. Er begrüßte sie und machte aus seiner Verwunderung, sie hier zu sehen, kein Hehl. Der alte Herr, der offenbar nicht in den Geruch kommen wollte, als nehme er am Rennsport tieferen Anteil, versicherte mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit, er habe sich nur seiner Tochter zuliebe dazu entschlossen, den schönen Nachmittag hier draußen zu verbringen, da sie aus künstlerischen Gründen Wert darauf lege, einmal das bunte Getriebe eines Rennens im vollen Sonnenlichte eines Sommertages auf sich wirken zu lassen.

»Aus künstlerischen Gründen?« fragte der Wernickesche Prokurist.

»Gewiß, meine Tochter befleißigt sich ja der Malkunst«, erklärte Blumhardt, ohne Hildens entsetzte Blicke zu beachten.

»Aber Vater, das darf Herr Hennig doch gar nicht wissen!« sagte das junge Mädchen in komischer Verzweiflung.

Hennig machte nicht gerade das geistreichste Gesicht. »Das darf ich nicht wissen?« fragte er, bald den alten Herrn, bald dessen Tochter anschauend. Plötzlich schien ihm eine Erleuchtung zu kommen. »Ach – nun verstehe ich! Das Bildchen im Kunstverein war also ein Werk von Ihnen, Fräulein Hilde? Aber weshalb tun Sie denn so geheimnisvoll damit?«

»Ich wollte Ihnen Ihre Illusionen nicht rauben, Herr Hennig. Wenn man ein Bild kauft, das, wie Sie mir neulich auseinandersetzten, nur von einem Heinrich oder Hermann Blumhardt gemalt sein kann, dann muß man sich ja enttäuscht fühlen, wenn man hinterher erfährt, daß dieser Hermann oder Heinrich eine Hilde ist.«

»Habe ich Ihnen nicht gleich versichert, die kleine Landschaft hätte mich nur um ihres Gegenstandes willen gereizt?«

»Das haben Sie allerdings gesagt. Ich weiß jedoch, daß die meisten Männer uns Frauen auch in künstlerischen Dingen nicht für voll ansehen, und deshalb hätte ich Ihnen die Enttäuschung gern erspart.«

»Erlauben Sie, Fräulein Hilde, ich bin der letzte, der nicht anerkennt, was die Frauen in der bildenden Kunst geleistet haben. Angelika Kauffmann, Madame Lebrun und Rosa Bonheur sind in meinen Augen genau soviel wert wie die meisten Berühmtheiten unter den malenden Männern ihrer Zeit.«

»Mehr als diese drei Malerinnen werden Sie aber auch kaum aufzählen können. Und diesen stehen Hunderte, wenn nicht Tausende von anerkannten Malern gegenüber. Ach nein, Herr Hennig, ich weiß sehr wohl, daß wir armen Weiblein in der bildenden Kunst unseren Befähigungsnachweis erst erbringen müssen, und deshalb würde es mir schon lieber gewesen sein, der Glaube an Ihren Heinrich oder Hermann wäre Ihnen erhalten geblieben.«

Inzwischen waren die Vorbereitungen zum ersten Rennen beendet worden, und die Bewegung, die plötzlich durch die Zuschauermenge ging, sowie das Glockenzeichen, das vom Sattelplatz aus gegeben wurde, um den erfolgten Start zu verkünden, unterbrachen das Gespräch und veranlaßten sowohl die beiden Blumhardts wie Hennig, im Rennprogramm einige Belehrung über das zu suchen, was sich jetzt vor ihren Augen abspielte. Sie machten dabei jedoch einen ziemlich hilflosen Eindruck, und ihre Bemerkungen über Pferde und Reiter verrieten so deutlich ihre völlige Unkenntnis alles dessen, was mit dem Rennsport zusammenhing, daß ein älterer Herr, der in ihrer nächsten Nähe stand und das dahingaloppierende Feld durch ein mächtiges Fernglas aufmerksam verfolgte, ein menschliches Rühren fühlte und ihnen über die Vorgänge auf der Bahn Aufschluß erteilte. »Bonbonniere wird schwerlich die Führung behalten,« sagte er, als Hilde aus dem kleinen Vorsprung, den die schwarzbraune Stute beim Ablauf gewonnen hatte, etwas voreilig den Schluß zog, daß dieses Pferd als erstes durchs Ziel gehen werde, »geben Sie einmal acht, wie schnell die abfällt. Ein günstiger Platz kann ja bei einem so kurzen Rennen wie diesem hier einen entscheidenden Einfluß haben, gewöhnlich ändert sich das Bild jedoch, und wo Konkurrenten von verhältnismäßig so guten Fähigkeiten im Rennen sind wie Angriff und Ganges, da wird ein Pferd wie Bonbonniere einen schweren Stand haben. Meiner Überzeugung nach sollten Angriff und Ganges am ehesten für den Sieg in Frage kommen.«

»Welche Pferde sind das?« fragte das junge Mädchen, das schon den Reiz der Sache zu spüren begann.

»Das hellbraune und das dunkelbraune, die einstweilen noch ganz hinten sind.«

»Von denen sollte eins siegen? Die sehen doch aus, als ob sie sich gar nicht recht ins Zeug legten.«

»Wird schon noch kommen, gnädiges Fräulein. Sie sparen vorläufig ihre Kräfte. Ganges, ein Sproß unseres ausgezeichneten Hannibal, ist allerdings schon ein älteres und etwas verbrauchtes Pferd, aber doch ein Pferd mit einer schönen Vergangenheit, dem man immer noch etwas zutrauen darf. Ich persönlich würde mehr Meinung für Angriff haben. Dieser Hengst ist ein Fünfjähriger, der manche recht achtenswerte Rennleistung gezeigt hat. Vor allem scheint er viel von seinem Vater Saraband zu haben, der ja meist Pferde für kurze Distanzen geliefert hat, wie wir sie gerade auf unserer Leipziger Bahn brauchen.«

Das Feld hatte die den Dammplätzen gegenüberliegende Seite passiert, und die acht Pferde kamen näher und näher. Das Publikum, das Kopf an Kopf auf dem Damm bei den Schrebergärten stand, war schon in höchster Erregung und brach in laute Ermunterungsrufe aus, die sich in der Richtung nach der Tribüne hin fortpflanzten.

Als sich das Feld den Dammplätzen näherte, trat eine große Veränderung ein: Angriff machte seinen Vorstoß und war mit ein paar Sprüngen an der Spitze, dann schlossen sich ihm zwei Füchse an, die bisher niemand sonderlich beachtet hatte, und auch Ganges, der sich auf seinen alten Ruhm zu besinnen schien, drängte mit sichtlichem Ehrgeiz vorwärts. Die übrigen Pferde, unter ihnen auch Bonbonniere, fielen zurück.

Wenige Augenblicke später ging Angriff als Sieger mit zwei Längen vor Hand in Hand, einem der beiden Füchse, die zuletzt noch so gut aufgekommen waren, durchs Ziel, während Ganges den dritten Platz, den er ein paar Sekunden lang behauptet hatte, an die Fuchsstute Assalide abtreten mußte.

Hildens Mentor wandte sich lächelnd nach dem jungen Mädchen um. »Sehen Sie, gnädiges Fräulein, Angriff hat mein Vertrauen nicht getäuscht, und ich bedauere nur, nicht gewettet zu haben. Es wäre kein übles Geschäft gewesen. Dem Hannibalsohn hätte ich allerdings ein besseres Los gewünscht. Ich habe immer etwas für ihn übrig gehabt.« Er wartete noch ab, bis die Nummern der plazierten Pferde aufgezogen wurden, machte sich in seinem Programm Notizen und schlenderte dann zum Totalisator, um sich nach dem Wettergebnis zu erkundigen.

Blumhardt sah ihm ein wenig belustigt nach und bemerkte, es sei ihm unfaßbar, daß ein gebildeter Mann in gesetzten Jahren eine Sache von so fragwürdigem Wert wie den Rennsport zum Gegenstand seines Studiums machen und mit so großem Ernst darüber reden könne. Wenn Kavallerieoffiziere und Leute, die sich berufsmäßig mit der Pferdezucht beschäftigten, in solchen Dingen aufgingen, so sei das begreiflich, daß aber ein Mensch, der weder das eine noch das andere sei, und der offenbar nicht einmal daran denke, seine Sachkenntnis am Totalisator zu verwerten, Geschmack daran finde, sich die Familienverhältnisse und Leistungen von Gäulen einzuprägen, müsse er als eine bedauerliche Verirrung betrachten.

»Wer weiß, ob der Herr unser Interesse an literarischen Dingen nicht ebenso seltsam und erheiternd finden würde, wie wir seine Begeisterung für Rennpferde!« meinte Hennig.

»Oho, bester Freund, das werden Sie doch wohl nicht im Ernst behaupten wollen!« erwiderte der Verlagsbuchhändler beinahe gereizt. »Sie dürfen Bücher und Pferde nicht in einen Topf werfen. Darüber sind sich unzweifelhaft alle Gebildeten einig, daß die geistige Arbeit, besonders soweit sie nicht letzten Endes materiellen Zwecken dient, die Grundlage aller Kultur, mithin für die Menschheit das Allerwichtigste ist.«

»Nun, Vater, so ganz allgemein, wie du glaubst, wird diese Ansicht doch wohl nicht verbreitet sein,« sagte Hilde, die das Bedürfnis empfand, Hennigs Partei zu ergreifen. »Ich meine, es gibt viele sonst ganz vernünftige Leute, die das Konkrete dem Abstrakten unter allen Umständen vorziehen, und denen die ernsthafte Beschäftigung mit Philosophie, Literatur und Kunst zum mindesten sehr überflüssig erscheint.«

»Und solche Menschen nennst du noch ganz vernünftige Leute?« fragte Blumhardt erstaunt.

»Warum nicht? Sie haben nur eine andere Weltanschauung als wir, und wer weiß, ob sie nicht genau so berechtigt ist wie die unsere! Jedenfalls bin ich schon längst dahintergekommen, daß man über Dinge, mit denen man sich nicht eingehend beschäftigt hat, gar nicht urteilen sollte, und daß auch das scheinbar Unwesentliche an Bedeutung gewinnt, wenn man sich erst damit vertraut gemacht hat. Früher habe ich zum Beispiel über jeden gelächelt, der zum Rennen ging, um zu wetten, jetzt, wo ich erfahren habe, daß es sich dabei gar nicht um ein reines Glücksspiel handelt, daß man vielmehr nur etwas von der Sache zu verstehen braucht,. um die Aussichten der Pferde mit einer gewissen Sicherheit berechnen zu können, begreife ich vollkommen, welcher Reiz darin liegen muß.«

Der Vater sah die Tochter kopfschüttelnd an. »Du machst ja in deiner Weiterentwicklung erstaunlich schnelle Fortschritte,« sagte er. »Willst du nicht gleich einmal dein Glück am Totalisator versuchen?«

»Am sogenannten Glück liegt mir nichts, aber es könnte mich schon locken, meine Sachkenntnis, die ich mir natürlich erst erwerben müßte, auf die Probe zu stellen. Schade, daß der freundliche Herr nicht mehr da ist!«

»Der wird gewiß bald wieder auftauchen,« meinte Hennig. »Er scheint mir zu den Leuten zu gehören, die sich glücklich fühlen, wenn sie andere belehren dürfen, und da er schwerlich ein dankbareres Publikum finden wird als Sie, Fräulein Hilde, so können wir wohl darauf rechnen, daß er wiederkommt.«

Inzwischen hatte das zweite Rennen – es war ein Herren-Jagd-Rennen – seinen Anfang genommen, aber die drei Zuschauer, denen jetzt niemand mit Erklärungen zur Seite stand, fanden es, obwohl die Pferde mit Schneid eine Reihe von Hecken und Hürden nahmen, viel weniger unterhaltend als das vorangegangene. Zum Glück stellte sich, noch ehe die Entscheidung fiel, der sachkundige Herr wieder ein, so daß man wenigstens noch einige Aufklärungen über das Wesen der Hindernisrennen erhielt. Für die diesmal laufenden Pferde schien er sich nicht allzusehr zu interessieren, wie er denn auch darauf hinwies, daß das Wetten bei dieser Art von Rennen sehr unsicher sei, da der Zufall eine große Rolle dabei spiele und die schönsten Berechnungen über den Haufen werfe. Dann erzählte er mit Genugtuung, daß der Totalisator den Leuten, die auf Angriff gesetzt hätten, für ihre zehn Mark hundertundsiebzehn zurückgezahlt habe, was als eine ziemlich hohe Quote zu betrachten sei.

Hilde wurde Feuer und Flamme. »Wenn ich Geld bei mir hätte, würde ich auch einmal zehn Mark wagen,« sagte sie zu ihrem neuen Freunde, »aber ich würde es natürlich nur tun, wenn ich darauf rechnen könnte, daß Sie mir Ihren guten Rat nicht vorenthielten.«

»Zehn Mark sollst du haben, Mädel,« rief Blumhardt, seine Börse ziehend. »Das Geld wird auf alle Fälle gut angelegt sein, denn wenn du gewinnst, machst du ein Geschäft, und wenn du verlierst, bist du wahrscheinlich für dein ganzes Leben gegen etwaige Wettgelüste gesichert. Und das scheint mir wertvoller als der erhoffte Profit.«

Der Fremde lächelte nachsichtig. »Raten will ich Ihnen gern, gnädiges Fräulein, aber irgendeine Bürgschaft für den Erfolg kann ich selbstverständlich nicht übernehmen. Es ist eben leider nicht möglich, die Chancen eines Pferdes mit apodiktischer Bestimmtheit vorauszusagen, selbst nicht für jemand, der die Rennleistungen regelmäßig verfolgt. Ich selbst wende als Sohn eines Landwirts, der sich eifrig mit Pferdezucht befaßte, mein Interesse in der Hauptsache der züchterischen Seite des Rennsports zu und verfolge eigentlich nur die großen Rennen. Von den heute laufenden Pferden kenne ich daher keineswegs alle. Sehen Sie, jetzt kommt das Rennen um den sächsischen Staatspreis an die Reihe, eigentlich die einzige bemerkenswerte Veranstaltung des heutigen Tages. Es werden nur vier Pferde konkurrieren; vor Überraschungen kann man also ziemlich sicher sein. Ich würde Ihnen empfehlen, auf Flittergold zu setzen. Der Hengst, der in manchen guten Rennen Sieger gewesen ist, hat immer großen Speed – ich meine große Schnelligkeit – bewiesen; das Gewicht, das ihm zugeteilt worden, ist nicht ungünstig; zudem hat er denselben Jockei im Sattel, der vorhin Angriff steuerte. Sein schärfster Konkurrent dürfte Gauß sein. Soviel ich weiß, gehört er nicht zu den Schlechtesten seines Stalles, und wenn Graditz ein Pferd hierher schickt, muß schon etwas daran sein. Der Jockei ist auch tüchtig. Natürlich läßt Graditz seinen ersten Jockei heute im Derby in Hamburg – so nennt man die Hauptprüfung der Dreijährigen – reiten, aber wie gesagt, auch der Reiter von Gauß ist keine zu unterschätzende Kraft. Sie sehen schon, gnädiges Fräulein, wie vielerlei bei einer solchen Sache gegeneinander abzuwägen ist. Zwischen den beiden genannten Pferden dürfte das Ende liegen; ich persönlich würde mich für Flittergold entscheiden.«

»Graditz!« sagte Blumhardt, wie aus einem Traum erwachend. »Dort starb am 18. Juni 1828 Karl August von Weimar. Er, der unter den größten Männern seiner Zeit gelebt hatte, hauchte seinen Geist unter Pferden aus.«

»Was ihn schwerlich bekümmert haben wird,« bemerkte der Fremde. »Er war sein Lebenlang ein großer Tierfreund, wie er denn überhaupt sehr fest in der diesseitigen Welt wurzelte und keineswegs als der Schöngeist gelten darf, als den ihn spätere Lobredner so gern gefeiert haben. Wäre er nicht der gesunde Wirklichkeitsmensch gewesen, der seine dichtenden Freunde immer wieder aus den Wolken herunterholte und auf den sichern Boden des Realen stellte, er hätte weder als fortschrittlich gesinnter Regent noch als Beschützer von Literatur und Kunst so Großes leisten können. Goethe hat einmal von ihm zu Eckermann gesagt: ›Er war ein Mensch aus dem Ganzen; es kam bei ihm alles aus einer einzigen großen Quelle‹.«

Blumhardt glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Dieser Mann, der nur Sinn für Pferde zu haben schien, kannte Karl August, zitierte Goethe! Und als er dem Herrn, um zu erfahren, wessen Bekanntschaft er gemacht habe, nun seinen Namen nannte, gab sich ihm der Fremde als Professor Wortmann zu erkennen, der schon einigemal ganz vortreffliche literargeschichtliche Beiträge für die »Aurora« gesandt hatte.

Hilde war mit Gesprächen über Karl August jetzt freilich nicht gedient. Sie stand auch auf dem sichern Boden der Wirklichkeit, brannte darauf, ihr Geld beim Totalisator anzulegen, und lehnte es nicht ab, als sich Hennig erbot, sie zu dem von Menschen umdrängten Fachwerkhäuschen zu begleiten, das hier der Glücksgöttin als Tempel diente.

Als die beiden zurückkehrten, hatten die vier Pferde des Staatspreises die Parade vor der Tribüne beendet und spritzten in kurzem Galopp zum Start heran, der sich unmittelbar vor den Dammplätzen befand. Der Starter richtete das Feld aus und konnte sehr bald die Fahne zum Ablauf schwenken. Die Pferde stürmten davon.

Hilde hatte Gelegenheit gehabt, sich den Fuchshengst, der nun, wo sie die Wettkarte in Händen hielt, auch ihr Glück trug, genau anzusehen. Sie war von ihrem Mentor auf die Vorzüge von Flittergolds Exterieur: auf den starken Buckel, die muskulöse Hinterhand und die schräge Schulter aufmerksam gemacht worden und hatte auch Vergleiche mit den übrigen Pferden angestellt, die natürlich zugunsten ihres Favoriten ausgefallen waren. Jetzt, da sie gewissermaßen persönlich bei der Sache beteiligt war, verfolgte sie den Verlauf des Rennens mit ganz anderen Augen als bisher, und sie kostete die bei jeder Phase wechselnden Hoffnungen und Befürchtungen mit leidenschaftlicher Teilnahme.

Eine Zeitlang schien es, als sollten die schwarzweißen Streifen des Graditzer Stalles, die die Führung übernommen hatten, diese bis zum Schlusse behalten, dann aber machte in der Geraden Flittergold seinen Vorstoß, ging leicht an Gauß vorüber und landete das Rennen unter dem brausenden Jubel seiner Freunde, in den auch Hilde und Hennig begeistert einstimmten, mit drei vollen Längen.

So bescheiden der Gewinn auch war, so vergnügt strich das junge Mädchen die neunundzwanzig Mark, die es ausbezahlt erhielt, ein, war aber charakterfest genug, das Glück oder vielmehr Wortmanns Sachkenntnis nicht noch einmal auf die Probe zu stellen, weil es einen ungetrübt angenehmen Eindruck mit nach Hause nehmen wollte.

Blumhardt, auf den die ihm bisher unbekannt gewesene »Stallwissenschaft«, wie er's nannte, keinen geringen Eindruck gemacht hatte, stellte tiefsinnige Betrachtungen darüber an, warum die Menschheit noch immer nicht in der Lage sei, die Chancen eines Buches mit ähnlicher Sicherheit wie die eines Pferdes zu berechnen. Daraufhin vertrat der Professor, wie zu erwarten gewesen war, den alten Autorenstandpunkt, indem er behauptete, bei den Büchern käme es noch mehr als bei den Pferden auf den Trainer an, und das sei natürlich der Verleger. Wenn dieser das ihm vom Autor gelieferte Material richtig zu »arbeiten« verstehe, so könne ein Buch nicht so leicht versagen, aber die Herren vom Verlag erwarteten gewöhnlich, daß die Bücher von selber liefen, und das täten nicht einmal die allerbesten Pferde. Da machte Blumhardt ein etwas säuerliches Gesicht und war gar nicht so ungehalten darüber, daß sich der Herr nach einer Weile mit ein paar höflichen Redensarten verabschiedete.

Was die drei Zuschauer nun noch zu sehen bekamen, ließ sie ziemlich kühl, denn sie hatten ja niemand mehr, der ihnen zu den Vorgängen auf der Bahn Erklärungen gab. Daß ein Pferd, das mit einer vollen Länge durchs Ziel gegangen war, doch nicht als Sieger anerkannt wurde, blieb ihnen, da sie sein Kreuzen nicht bemerkt hatten, unverständlich, und so waren sie schon nahe daran, die Sache ein wenig langweilig zu finden, wenn sich nicht beim vorletzten Rennen ein Reiter nach einem Hürdensprung von seinem Gaul getrennt hätte, und das Pferd das weitere Rennen bis zum Ende reiterlos mitgelaufen wäre, was sie als eine kleine Abwechslung beinahe freudig begrüßten.

Jetzt war alles vorüber. Die Menge strömte den Ausgängen zu, staute sich hier eine Weile und floß nach allen Seiten ab oder nahm am Straßenrand Aufstellung, um der Abfahrt der Autos und Kutschen beizuwohnen.

Als Blumhardt, Hilde und Hennig am Wagenplatz vorbeikamen, trafen sie mit der Familie Wernicke zusammen, die, vornehm wie immer, vom Sattelplatze kam und ihren Mercedeswagen aufsuchte. Eine Begrüßung ließ sich nicht vermeiden, und wenn auch der Konsul ein wenig erstaunt darüber schien, seinen Prokuristen in Blumhardts Gesellschaft zu sehen, so gab seine Liebenswürdigkeit der seiner Damen doch kaum etwas nach. Seine Gattin, deren gutmütiges, aber recht unbedeutendes Gesicht gegen die kostbare, oder doch wenigstens kostspielige Toilette stark abstach, war etwas erschöpft und beeilte sich, Hilde zu versichern, sie wäre bei dieser Hitze am liebsten zu Hause geblieben, aber wenn man zu einem solchen Anlaß einmal die Kleider angeschafft habe, müsse man eben alle Unbequemlichkeiten auf sich nehmen. Irmgard, die achtzehnjährige Tochter, ein schönes, wenn auch schon etwas üppiges Wesen mit kastanienbraunem Haar, regelmäßigen Zügen und großen, aber ziemlich ausdruckslosen Augen, das ein wenig auffallend gekleidet ging, ließ seine Blicke mit unverhohlener Neugier zwischen Hilde und Hennig hin und her gehen, während Otto, der Husarenleutnant, gelangweilt und verdrossen dabei stand und die an ihn gerichteten Fragen zerstreut und mit erzwungener Verbindlichkeit beantwortete.

Das Gespräch bewegte sich in alltäglichen Bahnen, aber Blumhardt konnte sich doch nicht enthalten, von seiner Begegnung mit dem Pferdekenner zu erzählen und sein Bedauern darüber, daß man die Aussichten eines Buches nicht mit ebenderselben Sicherheit wie die eines Rennpferdes berechnen könne, zu wiederholen. Bei dem Berufsgenossen glaubte er für seinen hübschen Einfall mehr Verständnis zu finden als bei dem Professor. Aber der Konsul war auch nicht der Mann, bei dem der Geistesblitz zündete. »Teufel auch! Von der Zuverlässigkeit der Chancenberechnung bei Gäulen habe ich noch nichts gemerkt,« sagte er. »Bei Büchern bin ich meiner Sache gewöhnlich sicher, zudem hat man's ja auch in der Hand, ein wenig nachzuhelfen, aber bei Pferden scheint mir doch das meiste glorious uncertainty zu sein. Mein Junge, der natürlich auch etwas davon verstehen will, hat mir Tips gegeben und mich veranlaßt, mein sauer verdientes Geld auf Assalide, Gruna, Petrucchio, Lindenwirtin und wie die vierbeinigen Herrschaften sonst noch heißen mögen, zu setzen, aber ich bin jedesmal dabei hereingefallen. Das ist ein kostspieliger Nachmittag für mich geworden.«

Der Sohn zuckte die Achseln. »Ja, Papa, Dusel gehört natürlich auch dazu,« meinte er. »Wer den nicht hat, dem helfen die schönsten Tips nichts. Nun, ich denke, du wirst deshalb nicht gleich deinen Konkurs anzumelden brauchen.«

Man war beim Auto angekommen. Die Wernickeschen Damen nahmen ihre Plätze ein, während der Konsul mit der ihm eigenen herablassenden Freundlichkeit seinem Hausgenossen die Hand schüttelte. Blumhardts wollten in einer Droschke heimfahren, und so mußte sich Hennig von beiden Familien verabschieden. Da wandte sich Frau Wernicke, nachdem, sie mit Irmgard einen Blick der Verständigung gewechselt hatte, mit der Frage an ihren Gatten, ob er Herrn Hennig nicht bitten wolle, an ihrem kleinen Diner im Restaurant des Zentraltheaters teilzunehmen. Der Prokurist, der den Rest des Tages lieber nach seinem Geschmack verbracht hätte, machte verzweifelte Versuche, der ihm zugedachten Ehre zu entrinnen, aber Vater, Mutter und Tochter nötigten ihn mit so bestrickender Eindringlichkeit, daß er, ohne unhöflich zu werden, die Einladung nicht ablehnen konnte und sich, von der Übermacht besiegt, an der Seite seines Chefs auf einem der Rücksitze verstauen ließ, während der Leutnant, von dieser Anordnung nicht gerade erbaut, neben dem Chauffeur Platz nahm.

Bei der Fahrt hatte der arme Hennig keinen leichten Stand. Die Damen, deren Lebensgeister im frischen Luftzuge wieder erwachten, fragten unermüdlich, ob er auch diese und jene Theatergröße gesehen hätte, was er dazu sage, daß der junge Wiedenberg gleich zwei Schauspielerinnen in seinem Wagen gehabt, und ob er nicht auch finde, daß Frau von Luckau für eine weiße Tülltoilette doch schon ein bißchen zu alt sei. Der Konsul aber, der offenbar schwer darunter litt, daß er volle vier Stunden lang mit seinen Gedanken nicht in der Erasmus-Reich-Straße hatte sein können, erkundigte sich fortwährend nach geschäftlichen Dingen.

Im Zentraltheaterrestaurant, wo für Wernickes ein Tisch belegt war, herrschte schon ein lebhaftes Getriebe. Schwitzende Kellner wanden sich, die silbernen Speiseplatten auf gespreizten Fingern im Gleichgewicht haltend, durch die an ein buntes Blumenbeet gemahnende, aber ganz unblumenhaft auf ihr leibliches Wohl bedachte Menschheit, unter der die Uniformen der Kavalleristen und die duftigen Kleider der eleganten Damenwelt vorherrschten. Immer neue Gäste kamen, irrten, nach ihren Tischen suchend, umher, begrüßten Bekannte, musterten auffallende Fremde und wichen scheu den Schwarzbefrackten aus, die jede Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit höchst ungnädig vermerkten. In die nicht allzu laute Tafelmusik mischten sich wenig harmonisch, aber unter den gegenwärtigen Umständen sogar in der Stadt Johann Sebastian Bachs und der Gewandhauskonzerte kaum als störend empfunden, das Klappern der Teller und Bestecke und das Geräusch der Unterhaltung, das zu einem wahren Gebrause anschwoll, als die telegraphische Mitteilung aus Hamburg eintraf, daß der Graditzer Orient beim Derby einen glänzenden Sieg erstritten habe.

Hennig fand das Diner, so auserlesen die Speisen auch waren, und so wenig der Konsul den Sekt schonte, durchaus nicht sehr gemütlich. Wenn die beiden Damen nicht gerade die Toiletten der Vorübergehenden kritisierten, mußte er Irmgard, die sich in dieser Umgebung offenbar wohl fühlte, Rede und Antwort stehen. Angeregt durch das bunte Treiben und befriedigt von dem Eindruck, den sie auf die Männerwelt machte, sah sie strahlend glücklich aus, und da sie im Grunde genommen ein gutherziges Geschöpf war, das auch die lieben Mitmenschen gern in guter Stimmung wußte, verschwendete sie ihre Liebenswürdigkeit sehr freigebig an den Prokuristen des väterlichen Geschäfts. Der freilich vermochte dieser Auszeichnung nicht recht froh zu werden. Wenn er auch unter der Wirkung des Weines und der einschmeichelnden Musik zeitweise in den Bann des jetzt wirklich verführerisch schönen Mädchens geriet, so hatte er doch eine ziemlich deutliche Empfindung dafür, daß die Huld, die da auf ihn niederstrahlte, keineswegs nur seiner eigenen Person, sondern dem männlichen Geschlecht in seiner Gesamtheit galt. Und so wurde er von Minute zu Minute kühler und war schließlich beinahe so schweigsam wie der Leutnant, der sich an der Unterhaltung kaum mit einem Worte beteiligte und sehnsüchtige Blicke nach einer sehr geräuschvoll tafelnden Gesellschaft junger Kameraden warf.

Irmgard fragte Hennig nach der Ursache seines Verstummens. Er entschuldigte sich damit, daß ihn der ungewohnte Lärm, das beständige Kommen und Gehen der vielen Menschen und die Hitze im Saal ein wenig ermüdet hätten, und daß er überdies durch eine Bemerkung ihres Vaters veranlaßt worden sei, über eine geschäftliche Maßnahme nachzudenken.

Sie sah ihn spöttisch und, wie ihm schien, sogar etwas argwöhnisch an und brachte das Gespräch ganz unvermittelt auf Hilde Blumhardt, die sie nur flüchtig kannte, und über die sie nun alles mögliche wissen wollte. Und dann sagte sie mit der ganzen Überhebung ihrer achtzehn Jahre: »Schade, daß so ein hübsches und gewiß auch liebenswürdiges Mädchen den Anschluß verpaßt hat!«

Durch diese Bemerkung zugleich belustigt und geärgert, wollte er etwas Boshaftes erwidern, da legte ihm der Konsul, sich hinter dem Stuhl der Tochter zu ihm hinüberbeugend, bedeutsam die Hand auf die Schulter. »Morgen werden Sie Augen machen, Herr Hennig; ich bin jetzt mit meiner Idee vollständig im reinen. Sie verstehen schon, was ich meine: die ganz große Sache, über die ich Ihnen schon vor einem Vierteljahr einmal Andeutungen machte,« orakelte er. »Kommen Sie doch vor der Postkonferenz in mein Kontor; ich werde Ihnen dann den Plan in großen Zügen entwickeln.« Er blinzelte dem Prokuristen durch die scharfen Gläser seiner Brille vergnügt-geheimnisvoll zu, nickte wohlgefällig und hob das Sektglas, um auf das Gedeihen des Zukunftsunternehmens einen langen Zug zu tun.

Als sich Hennig wieder Irmgard zuwandte, erschien ihm diese wie ausgetauscht. Sie saß mit rotem Kopfe da, spielte mit einem Brotkügelchen und ließ, so oft sie sich unbeobachtet glaubte, den Blick nach einem entfernten Tische wandern, an dem sie offenbar einen Bekannten entdeckt hatte. Ihr Nachbar kam bald dahinter, wem das Geäugel galt: es war ein baumlanger junger Mensch mit allen Rassemerkmalen eines Nordländers.

Der Dämmer der kurzen Sommernacht senkte sich schon auf die Stadt, als Hennig den Heimweg antrat. Draußen in der frischen Luft machte sich erst die Wirkung des reichlich genossenen Schaumweins bei ihm bemerkbar, und als er nun auf der noch immer belebten Promenade dahinging, den süßen Duft der Lindenblüten einsog und sich an dem letzten Orangeschein des versunkenen Tages weidete, war ihm, als wandle er im Traum. Er bemerkte die ihm begegnenden Menschen nicht, sah dafür aber zwei Gestalten, die, nur von ihm wahrgenommen, schemenhaft an seiner Seite gingen und deren Auge mit seltsamem, halb spöttischem, halb fragendem Ausdruck auf ihm ruhte: Hilde und Irmgard.


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