20070807
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166 14.

Zu seinem höchsten Erstaunen erfuhr der Freund die nähere Bewandtniß, die es mit den Stäben haben sollte. Es waren einfache Hirtenstäbe, wie sie in Calabriens Bergen getragen werden. Die Griffe sind gewunden – die Spitzen von Eisen.

Griffe und Spitzen, dies sah man bald, ließen sich abschrauben. Das Innere fand sich ausgehöhlt und die Höhlung mit einer in lateinischen Buchstaben beschriebenen Rolle Papier gefüllt. Das Geschriebene war ein Durcheinander von unaussprechbaren Wortformen.

Die »Nobla Leyçon« gab den Schlüssel. Die Buchstabenordnung war dieselbe, die bereits in dem zwischen Ambrosi und Federigo gepflogenen Briefwechsel gewaltet hatte. Beide Rollen hatten denselben Inhalt und schon entzifferte Ambrosi ein Wort nach dem andern und schrieb auf, was er gefunden. Er stockte; denn es war deutsch, was er herausbrachte – die Ausübung einer schon lange geläufigen Fertigkeit wurde somit gehindert.

Ambrosi bat den Freund, sich auszuruhen. Inzwischen, sagte er, wollte er versuchen, den Inhalt, soweit ihm möglich, mechanisch zu dechiffriren. Das Vertrauen des Freundes gehörte ihm in allem. Es konnte auch hier kein Geheimniß mehr geben, dessen Kunde sie nicht beide theilen wollten.

167 Nach wenigen Stunden schon, während die sonstige Stille der nach hinten hinaus gelegenen Wohnzimmer des alten Gebäudes anfangs noch vom Lärm der Glocken und Feuersignale gestört wurde, Bonaventura stillverzweifelnd sein Haupt stützend und bis zum Tod erschöpft auf einem Ruhelager sich wand und sein vergangenes und zukünftiges Leben an sich vorübergleiten ließ, unterbrochen vom Bild der letzten Liebesblicke des Vaters, kam Ambrosi in hoher Aufregung mit einer Anzahl Blätter, auf welche bereits ein großer Theil der Eröffnungen Federigo's an seinen Sohn mechanisch niedergeschrieben war. Die deutsche Sprache kannte er zu wenig, um vollkommen zu verstehen, was, Buchstabe an Buchstabe gereiht, seine Blätter bedeuteten.

Es war nun auch von draußen her still geworden. Schon mochte die zehnte Stunde geschlagen haben. Bonaventura konnte leicht die Buchstaben zu Worten fügen und die Sätze durch Punkte trennen. Durch gegenseitige Unterstützung kamen die Freunde zu folgender Entzifferung:

»Mein Sohn! Das ist ein Brief, den dein Vater dir aus dem Jenseits schickt –! Höre – richte und gedenke mein –!«

»Du erfuhrst von den Zeiten, wo ich einst beauftragt war, den Uebergang Witoborns an unsere Regierung zu regeln. Du kennst die Gründe, welche mich damals den Tod wünschen ließen. Oft, oft auch überfielen mich Gedanken an Selbstmord –! Sie hafteten nicht, weil Selbstmord nur denkbar ist im Zustand einer Verzweiflung, die mit dem Leben durchaus abzuschließen vermag – Das war nicht meine Lage. Wohl erstarrte mein Blut, wenn ich sah, wie mein Weib an dem besten meiner Freunde hing, dieser an ihr; dacht' ich aber an die Mittel, mich solcher Schmach zu entziehen, so lockte mich wol eine Weile die Welle des Stroms, der Blitz der tödtlichen, auf das eigene Leben gerichteten Waffe; bald aber erkannte ich dann wieder, wenn 168 nur die Gesetze unserer Kirche über die Ehescheidung andere wären, wie für mich der Anfang eines neuen Lebens und eines voll neuer Bewährung hätte anbrechen können. Ich wollte den Wunsch des geistig schon lange ehelich verbundenen Paares erfüllen und würde eine Scheidung durch Confessionswechsel möglich gemacht haben. Die Mutter hätte dann müssen meinem Beispiele folgen. Würde sie es haben thun können? Aus innerem Triebe nicht – auch ihres neuen Gatten wegen nicht, der sich schon aus Rücksicht auf den schlimmen Ruf seines Vaters kaum würde entschlossen haben, dem Geist der Provinz ein Aergerniß zu geben. So kam ich, ohnehin von manchem Misverhältniß zu meinem Beruf getrieben, auf den Entschluß, mir den Schein des Todes zu geben.«

Die Entzifferung ging bisjetzt noch aufs leichteste von statten.

»Ich ließ dich einem neuen Vater und die Mutter einem neuen Gatten zurück, der ein reicher Mann war und für euch beide sorgen konnte. Außerdem hattest du den Onkel. Hatte zwar mein Bruder Franz schon den Adoptivsohn meines Bruders Max, den dieser aus Spanien mitgebracht, in seine väterliche Obhut genommen –«

Wie? unterbrach hier Bonaventura seine Worteintheilung und Uebersetzung des Berichts für den aufmerkenden und in Bonaventura's Familienverhältnissen heimischen Freund; wie? kannte selbst der Vater nicht die Herkunft Benno's? Er las staunend weiter: »– so gestattete ihm doch sein gutes Herz und seine vermögliche Lage, auch dich in deiner Laufbahn zu befördern, welche dir ohnehin, da du Soldat werden solltest, bald die volle Selbständigkeit geben konnte. Zur Ausführung meines Vorhabens bedurfte ich Beistand. Ich konnte mich auf jemand verlassen, der, seines Zeichens ein einfacher Tischler, mit meinem Bruder Max unter Napoleon in Spanien gedient hatte, ihm eine Rettung seines Lebens dankte, jedoch auch ohne diesen Anlaß ein Muster von 169 Pünktlichkeit und Verschwiegenheit gewesen wäre. Ihr alle, die ihr mich überleben werdet, auch du, Benno von Asselyn, niemand von euch wird je geahnt haben, daß mit dem schweren Amt, einen kaum geborenen Knaben aus Spanien mitzubringen, dieser alte treue Mevissen in Verbindung stand –! Selbst mir bekannte der Brave nie, warum auf seinem Todbett Max die Weisung hinterlassen hätte, eine Summe, welche ich ihm noch schuldete, in besserer Zeit, wenn ich könnte, einem in der Nähe Kochers am Fall, in St.-Wolfgang, wohnenden und von dort gebürtigen Tischler, einem ehemaligen Soldaten seiner Compagnie, auszuzahlen. Da die Zahlung nicht drängte, ich auch die Summe sofort nicht besaß, so sprach ich davon zu niemand, am wenigsten zu unserm guten Bruder Franz. Letzterer würde die Summe sogleich vorgestreckt, aber nicht unmöglich auch die Verwendung derselben haben erfahren wollen. Benno war schon damals zum Hüfner Hedemann in Borkenhagen bei Witoborn gegeben worden. Ohne Zweifel ist Benno entweder das Kind einer spanischen vornehmen Frau oder einer Nonne. Mevissen kannte das Geheimniß; er hütete es wie ein Soldat die Parole seines Wachtpostens.«

Bonaventura mußte voll Rührung ausrufen: Guter, kindlicher Sinn des Vaters –! Alle diese Dinge – wie waren sie so ganz anders und nur dir blieben sie verborgen! Er fürchtete die Neugier seines ältesten Bruders, meines freundlichen Erziehers. Und gerade in dessen Händen lagen, sogar dem Bruder verborgen, die Fäden aller der Veranstaltungen, welche für den armen geopferten Benno getroffen werden mußten –!

Ambrosi kannte die Beziehungen und vermochte voll gesteigerten Antheils zu folgen.

»Es drängte mich, endlich jene Schuld von einigen hundert Thalern an den alten Soldaten in St.-Wolfgang zu berichtigen. Als ich von meinem bisherigen Dasein und von meinem Namen 170 Abschied nehmen wollte, besuchte ich den kleinen Ort, den Mevissen bewohnte. Ich fand einen räthselhaft verschlossenen Menschen; einfach und würdig war sein Benehmen; obschon nicht mehr jung, hatte er geheirathet, sein Weib war gestorben; ohne Kinder hielt er eine ihn ernährende kleine Tischlerwerkschaft für die einfachen Bedürfnisse des Landlebens. Die Summe, welche ich ihm schuldete, mochte er früher mehr bedurft haben, als jetzt; dennoch hatte er damit nicht drängen wollen! Nach den ersten Verständigungen sah ich wohl, daß sich Mevissen jene Summe durch irgendeinen werthvollen Beistand, den er dem Bruder geleistet, verdient hatte. Ich suchte die Anlässe seiner Bewährung zu erfahren und zeigte mich von einer sonst meiner Natur fremden Neugier schon aus Interesse für Benno's Vater, meinen zu früh vollendeten Bruder Max. Ich grübelte, forschte – doch kein anderes Wort kam von den Lippen des schlichten Mannes, als – daß mein Bruder sein bravster Chef gewesen! Angezogen von soviel Ehrlichkeit und Charakterstärke, beredete ich ihn, mich als Diener zu begleiten auf einer Schweizerreise, die ich machen wollte. Er nahm diesen Vorschlag an und ihm verdank' ich die Ausführung meines gewagten Unternehmens. Es war die Aufgabe gestellt, den Schein zu erwecken, daß ich zu den Opfern der Lavinen des großen St.-Bernhard gehörte.«

Ambrosi seufzte. Bonaventura's Herz klopfte voll gespannter Erwartung. Es war die ihm noch nicht ganz enthüllte Stelle im Leben des Vaters.

»Im Canton Wallis, zu Martigny, legt' ich alles ab, was an mich erinnern konnte. Ich hatte mir neue Kleider angeschafft, die in einem Packet, das Mevissen trug, verborgen werden mußten. Wir hatten das Meiste von dem, was mein Koffer enthielt, verbrannt. Der Geruch, der von den verbrannten Papieren und den versengten Kleidern entstanden war, fiel im Gasthof zu Martigny auf; 171 so hielten wir mit unsern Zerstörungen inne. Einiges mußte auch für das Leichenhaus auf dem großen St.-Bernhard zurück behalten werden. Mevissen's Handschlag durfte mir genügen, um die Gewißheit zu erhalten, daß von ihm mein Geheimniß würde mit ins Grab genommen werden. Unter dem Zurückbehaltenen befand sich vielleicht eine seltsame Urkunde, von welcher ich dir reden muß – aus Gründen, welche du erfahren sollst –«

Bonaventura verstand das schmerzliche Lächeln seines Freundes. Es galt der Erinnerung an die Qualen, die sich früher, auf seinem überwundenen Standpunkte, der unrichtig Getaufte über seine Lage bereitet hatte.

»Mein Sohn! Ich rufe dir mit der Schrift: ›Wer Ohren hat, zu hören, der höre!‹ – – Ich hatte in Witoborn mit dem Husarenrittmeister von Enckefuß, dem neuen Landrath des neugebildeten Kreises, die Besitzergreifung, namentlich die Archive aus einer heillosen Verwirrung zu ordnen, worein sie während des Krieges gerathen waren, als man die wichtigsten Acten sogar als Streu für die Pferde benutzt hatte. Bischof Konrad war ein wohlwollender, aufgeklärter Mann. Ich hatte sein Vertrauen gewonnen; er liebte, wie ich, alte Drucke, Miniaturen, kunstvolle Heiligenschreine, ohne sich darum auch, wie ich selbst, unter den Ranken und Blüten der damals modischen Romantik und Phantastik heimisch zu fühlen. Auf einem Krankenlager, wovon er nicht wieder erstand, übergibt mir der Bischof einen soeben empfangenen Brief des am selben Tage zur Ruhe bestatteten Pfarrers von Borkenhagen, eines getauften Juden. Nehmen Sie das! sprach er. Es ist das Testament eines Narren! Ich sollte es nach Rom schicken! Wahnsinn! Da jedoch daran manches Geheimniß Ihrer Familie betheiligt ist, so lesen und zerreißen Sie die Stilübung –! Sie ist lateinisch geschrieben –«

172 »Ich las den Erguß eines melancholischen Gemüthes. das, mit sich selbst und mit der Welt zerfallen, in diesem Brief das Judenthum für die vollkommenste Religion erklärte, die Lehre Jesu nur eine von Jesus nicht beabsichtigte Abweichung vom Judenthum nannte und sich in seiner letzten Stunde von einem Gaukelspiel lossagte, das er behauptete, jahrelang mit Bewußtsein getrieben zu haben. In dieser Ueberzeugung, hieß es in dem merkwürdigen Briefe, hätte er zwar damals noch nicht gehandelt, als er den Glauben gewechselt – damals hätte er Jesus und dem Christenthum etwas abzubitten gehabt – aber die Erinnerung an seine Verwandte, die Thränen einer verlassenen Geliebten hätten ihn schon damals bestimmen sollen, wenigstens nicht auch Priester zu werden. Er hätte es aber werden müssen; er hätte die Weihen angenommen aus Furcht vor einem Tyrannen, er nannte den Kronsyndikus auf Schloß Neuhof. Mishandlung, Drohung, sogar Weinen und Flehen dieses Mannes hätten ihm aus gewissen Gründen so lange zugesetzt, bis er Priester wurde. Jahrelang aber hätte er nun sein Amt mit Unlust und ohne Ueberzeugung geführt. In diesem Sinne, schrieb er, hätte er die Sakramente ertheilt, ohne die entsprechende Richtung des Willens. Getauft hätt' er in der bestimmten Voraussetzung, daß das, was er that, eine leere Formel sei. So zunächst alle Verwandte des Kronsyndikus – sogleich seinen ersten Täufling, Bonaventura von Asselyn. Seine erste Trauung, zwischen Ulrich von Hülleshoven und Monika von Ubbelohde, gleichfalls Verwandte seines Peinigers, auch sie wäre von ihm vollzogen worden, ohne den Willen und die Ueberzeugung, daß er wollte, was er that. Mit diesem bittern Hohn gegen sein Geschick, wozu sich die Andeutung über eine unrichtige Ehe gesellte, welche irgendwo von ihm vorher schon hätte geschlossen werden müssen – und wie zu vermuthen war, auch diese auf Anstiften des Kronsyndikus – wollte 173 der menschenfeindliche Mann, der ein Rabbiner, ja, wie man aus einigen Stellen seines Briefes ersah, ein Kabbalist geblieben war, aus dem Leben scheiden.«

Bonaventura erkannte jetzt die Gründe, warum Lucinde vor Jahren, damals, als sie seinen Epheu zerstörte, auch von Monika's Ehe als von einer löslichen gesprochen hatte.

»Meine Empfindungen waren damals noch so katholisch, daß ich über diese Entdeckung den größten Schmerz empfand und darüber anders dachte, als mein hochbetagter freidenkerischer Bischof, der einige Tage nach Uebergabe der Urkunde an mich gleichfalls aus dem Leben schied. Aber sollte ich meiner Familie, meinem eigenen Kinde noch einen neuen, von mir mit Entsetzen empfundenen Makel anhängen? Ich dankte der Vorsehung für diese glückliche Wendung, die ein so wichtiges Document in meine Hand gelangen ließ. Sollte ich sie zerstören? Daran verhinderte mich mein rechtgläubiges Gemüth, ja der feste Entschluß, eines Tages deine richtige Taufe nachholen zu lassen! Und in diese Schrecken und Beunruhigungen meines Gewissens mischte sich die immer mehr gesteigerte Trauer um mein unseliges Verhältniß zu deiner Mutter. Ein treuer, aufrichtiger Freund, den ich um so mehr liebte, als seine kühle und verständige Natur zu meinem eigenen Wesen die heilsamste Ergänzung bot, konnte sich nicht von einer Leidenschaft frei machen, welche die einzige war, die ihn vielleicht je überkommen. Noch mehr, ich war von ihm abhängig; die Güter des Lebens, die ich nie zu verwalten gewußt hatte, verbanden uns, während uns alles andere hätte rathen müssen, uns zu trennen. Eine Lage entstand, die vor der Welt meine Ehre in einem Grade bloßstellte, der mich über mich selbst verzweifeln machte. Ich sprach nie von dem, was mich drückte, und doch erkannte ich alles, was vorging. Ich sah, daß Wittekind meinen Haushalt bestritt, meine Schulden bezahlte, in jeder 174 Frage, wo kaum noch meine Zustimmung begehrt wurde, die Entscheidungen gab. Schon gab ich mir die Miene, solche Zustimmungen von meiner Seite gar nicht mehr zu beanspruchen – ich vergebe deiner Mutter; sie folgte ihrem weiblichen Sinn; dieser will sich an Starkes und Verwandtes halten – es ist unwahr, daß sich nur die Gegensätze lieben.«

Die Freundschaft der Lesenden war gerade aus dem Gefühl entsprungen, sich verwandt zu sein. Sie mußten diesen Ausspruch bestätigen. Bonaventura dachte an die Sterbeaugenblicke seiner Mutter, die in Einem Punkte ruhigere gewesen waren, als er erwartet hatte – ihr zweiter Gatte hatte mit der Ueberzeugung von ihr Abschied nehmen dürfen, daß ihr ganzes Glück und ihre wahre Lebensbestimmung er nur allein gewesen. Bonaventura gedachte des Tages, wo ihm auf Schloß Westerhof die Mutter gesagt hatte, gern beuge sich ein Weib dem Worte: »Und er soll dein Herr sein!« – wenn der Gatte es nur wäre –!

»O mein Sohn, damals verehrte ich noch eine Kirche, die einer Form zu Liebe zwei Menschen, und wenn sie sich hassen und wenn sie sich zum Anlaß ewig verlorener Verwilderung der Herzen und der Sitten werden, doch aneinanderschmiedet – eine Kirche, die dem frivolsten Priesterwillen eine Macht über unser ewiges und zeitliches Wohl läßt. Aber mein Sinn sollte sich ändern. Er änderte sich in dem Grade, daß ich auch nicht für mich allein der Wohlthat der Erleuchtung theilhaftig werden wollte. Als du Geistlicher wurdest, als ich hörte, du hättest dich den Römlingen angeschlossen, erfreute es mich zu vernehmen, daß Mevissen damals jene Urkunde beim Verbrennen meiner Effecten im Gasthof zur Balance zu Martigny zurückbehalten hatte. Mein braver Begleiter schrieb mir zuweilen. Unter anderm meldete er: ›Einiges hab' ich nicht verbrennen mögen! Besonders auch Geschriebenes nicht. Es ist bei mir sicher wie im Grabe. Und sollte sich einst noch einmal 175 Ihr Wille ändern oder eine andere Zeit kommen, wo Sie bereuen, was Sie gethan – dann lassen Sie nur in Gottes und seiner Heiligen Namen mein Grab öffnen. Was ich nicht vernichtete, dort finden Sie's!‹«

Bonaventura holte einen tiefen schweren Seufzer. Er galt der Last, die von seinem Herzen fiel.

»Und dies Grab ist erbrochen worden –! Ich weiß es – ein Räuber, dessen Hand mein treuer Hubertus gerichtet, hat die Witterung gehabt, daß ein Schatz – freilich nur einer der Liebe mit diesem armen Manne begraben war –! O daß es zu spät sein mußte, ihn noch zur Verantwortung ziehen zu können und mich zu beruhigen über das Verbleiben jener Urkunde –! In deinem eigenen Dorf mußte also ein Fluch zu Tage kommen, den deinem Leben ein wahnwitziger Priester geschleudert –! Hast du diese Kunde nie vernommen, so vernimm sie von mir!«

Ambrosi lächelte und suchte dem Freunde Muth zu geben.

»Bona, du bist Würdenträger einer Kirche, die ein Recht beansprucht, dich sofort aus ihrem Schoose auszustoßen. Warum? Weil ein Priester es so wollte –! Mit einem Zucken seiner Miene, einem tückischen Hinterhalt seiner Gedanken wollte –! Bona, verkünde diese Vermessenheit des katholischen Priesterthums –! Verkünde sie der Welt! Zeige, wohin die Anmaßung der Concilien und der Päpste geführt hat! Frage, ob alle die neugetauft werden müssen, die du getauft hast – alle die neuverbunden, die du verbandest – alle Sünden noch einmal vergeben, die du vergeben –! Ich wünschte, daß die dreifache Krone dein Haupt zierte und du sagen könntest: Höre, o höre, Christenheit – wenn Roms Gesetze Recht behalten, so ist sein oberster Priester jetzt – ein Heide –!«

Tieferschüttert hielten die Freunde in ihrer Arbeit inne. Schon schlug die mitternächtige Stunde. Eisige Schauer überliefen sie 176 doch. Ein Diener kam und schürte die schon erloschene Flamme im Kamin. Einen kurzen Bericht, den er vom jetzt gelöschten Brande an Piazza Navona gab, hörten die Tiefergriffenen kaum. Abwesend war Geist, ergriffen Ohr und ihr Auge nur von dem, was sie dem entrollten Papier entzifferten, ebenso wie von den Andeutungen eines Zukunftbildes, das sich mit himmlischen Farben vor ihrem geistigen Blick entrollte.

»Doch«, fuhr Bonaventura fort, die Buchstaben zu lesen und zu übersetzen, die jetzt erst Ambrosi, doch mit immer gleicher Geschicklichkeit, zu Papier bringen mußte – »kehre mit mir zurück auf den Tag meines scheinbaren Todes! Gefahrvolle Schneestürme hatten geweht und mühsam erklommen wir die mächtige Höhe. In der Nähe des Hospizes warfen wir Pilgermäntel um und ließen uns die Morgue aufschließen. Während Mevissen beschäftigt war, den führenden Augustinerbruder nach einem der dort aufgestellten Gerippe, vor welchen alles, was an und bei ihnen gefunden worden, beisammen lag, zu fragen und ihn zu zerstreuen, legte ich vor einen der jüngst Verunglückten, der mir an Wuchs ziemlich glich und an dem durch seinen Sturz zerschmetterten Kopf völlig unkenntlich war, mein Portefeuille und den Trauring deiner Mutter nieder –«

Ambrosi sagte: Vor meinen Vater –! Wie hat das Schicksal uns so wunderbar verbunden –!

Bonaventura, erlöst von dem jahrelang ihn quälenden Bilde eines möglicherweise noch unheimlicheren Zusammenhangs der Todesarten ihrer Väter, der natürlichen des Professors Ambrosi, der künstlichen Friedrich's von Asselyn – konnte nur mit seinen beiden zitternden Händen die linke Hand Ambrosi's ergreifen und mit stummer Geberde aussprechen, was er empfand.

»Als ich außerdem dann noch die Portefeuilles vertauscht hatte, da fiel mir erst die ganze Schwere meiner That aufs Gewissen. Mein Führer, Mevissen, muthvoller als ich, mahnte zum Gehen – seine 177 Absicht mußte sein, soviel als möglich für die Augustiner unwiedererkennbar zu bleiben. Am Hospiz, wo uns die Mönche einluden, einzutreten, trennte sich Mevissen – er mußte es schnell thun. um unsere Physiognomieen sich nicht zu lange dem Gedächtniß der Nachblickenden einprägen zu lassen. Es war ein Abschied für ewig und dennoch ging Mevissen – wie zu einem Wiedersehn auf den folgenden Tag –«

Solche Treue lebte jahrelang neben mir und neben dem Onkel – ohne ihres Ruhmes zu begehren –! schaltete Bonaventura ein. Er mußte sprechen, um nur das Klopfen seines Herzens und dessen ängstliche Spannung bewältigen zu können.

»Aber, der Gedanke: Die Spur jenes Unglücklichen, für welchen nun du wirst genommen werden, blieb nun vielleicht den Seinigen auf ewig verloren – du hast ein Verbrechen auf dich geladen, größer, als dein Selbstmord gewesen wäre! – dieser Gedanke verfolgte mich bald mit allen Schrecken eines bösen Gewissens. Im Portefeuille des Todten, für den man meine Person nehmen konnte und sollte, fand ich keinen Namen, nur Höhenmessungen und Zahlenreihen. Noch im ersten Eifer meiner scheinbaren Selbstvernichtung warf ich diese Anklage gegen mich in die Tiefe eines Waldstroms! Ringend, mich in die Stimmung meines alten Leichtsinns, meiner romantischen Sorglosigkeit, meiner angebornen lässigen Natur zurückzuschmeicheln, umging ich Turin. Die Thäler, die ich mit meinen neuen Kleidern durchwanderte, waren zufällig Waldenserthäler. Ich kannte die romanische Sprache. Aber ich floh vor allem, was mich an Religion erinnerte. Nur mein romantischer Trieb gab mir Kraft, nur jener phantastische Sinn, der dem Schönen und Reizvollen sich ergibt und dabei der moralischen Imputationen nicht achtet. Ich wollte nach Genua, wollte mit dem Rest meiner Baarschaft zu Schiff gehen und mir in Südamerika ein neues Leben begründen. Ueber Coni hinaus wurde 178 ich aber krank; seelisch und körperlich angegriffen, schleppt' ich mich jetzt nur noch langsam hin. Scheu mied ich die große Straße und oft ruhte ich mich in Wäldern aus. Da war es, wo ich in einem einsamen Thal aus einem schönen Hause einen vollstimmigen Choral vernahm. Ich trat in einen neugebauten Raum, wo ein Redner geistliche Erweckungen hielt. Der Gottesdienst war bald zu Ende. Ich sah eine hohe stolze Dame, welcher alle, als sie aus dem Hause trat, ehrerbietig auswichen, ich grüßte sie und folgte ihr. Zu meinem Erstaunen sprach sie mit ihrem Diener deutsch. Ich redete sie in gleicher Sprache an. Dies gethan zu haben, bereute ich sofort; ich hörte ihren Namen und mußte erstaunen, mich in der Nähe eines entfernten Zweigs meiner eigenen Familie zu befinden. Entfliehen konnte ich nicht; ich war zu hinfällig, wurde auch krank, ich kam dem Tode nahe und befand mich monatelang in einem Zustand fast der Geistesabwesenheit. Als ich genas, war ich so von Dankbarkeit und Ehrfurcht vor dieser edlen Frau erfüllt, daß ich mich nicht mehr von ihr trennen konnte. Da ich mich als Katholiken bekannt hatte, durfte sie in meiner Absicht, als Einsiedler in ihrer Nähe leben zu wollen, nichts Auffallendes finden.«

In Bonaventura's Innern klangen die Lieder des Dichters Novalis. Was des Vaters träumerisch-phantastischer Sinn hätte für sich aus dem Geist der Zeit zur Entschuldigung anführen können, ergänzte nun die Liebe und Bildung des Sohnes.

»Die Gewissensschuld, der Schmerz um meine That auf dem Hospiz, die Gewißheit, daß bereits aus meinem geglaubten und bestätigten Tode ein neues Leben in der aufgegebenen Heimat erblüht war (die Gräfin erzählte mir von einer Heirath des Präsidenten von Wittekind, eines Cousins der reichen Erbin, mit welcher sie zu processiren angefangen – eine Zeitungsannonce nannte den Namen der Gattin Friedrich's von Wittekind –) 179 alles das gab mir eine tiefe Traurigkeit und mehrte den Abschluß mit dem Leben. So entstand die Neigung, mich um die Lehre der Waldenser zu bekümmern. Gräfin Erdmuthe gab mir die alten Schriften, die sie gesammelt hatte und die in ihrem Text vielleicht niemand so verstand, als ich –«

Auch Ambrosi war in ein tiefes Erinnern versunken und kaum noch schien er zuzuhören. Bonaventura chiffrirte inzwischen für sich weiter und las. Die Darstellung des Vaters lenkte auf jene Empfindungen zurück, die sich in Ambrosi's Innern angesponnen haben mußten; deshalb begann der Freund aufs neue die laute Mittheilung.

»Ich würde vergebens gerungen haben, aus meinen durch die Ehegesetze geweckten Zweifeln an Roms Hierarchie zu einer Versöhnung mit dem ewigen Grund aller Dinge, der in unserm Gewissen den einzigen Weg zu seiner Erkenntniß vorgezeichnet hat, zu gelangen, wenn nicht ein wunderbares Erlebniß mich zum Frieden mit mir selbst gebracht hätte. Alle Schätze der Erde sind doch nichts gegen die Seligkeit eines erlösten Schuldbewußtseins –! Dann streckt jubelnd die Dankbarkeit ihre Hände gen Himmel und ruft: Verhängniß, Zufall oder wie dein Name sein mag, ewiges Gesetz des Lebens, ich bringe dir den Dank einer befreiten Seele, ich bring' ihn dir mit einem Jubel, der bis in den Sphärensang der Sterne dringt –! Unter den vielen, die in meine Waldhütte kamen, um sich Raths zu erholen, wie ich ihn gerade geben konnte, kam auch ein anmuthiger Jüngling. Seine Mienen hatten einen melancholisch trauernden Ausdruck. Ich konnte ihn nicht sehen, ohne sogleich mit tiefster Wehmuth auch deiner zu gedenken. Es war den geistlichen Schülern von Robillante, überhaupt rechtgläubigen Seelen verboten, sich meiner Hütte zu nahen – dennoch geschah es – ich wurde ein Beichtiger wider Willen. Auch diese Schüler, die sich oft in den 180 Wäldern tummelten, gingen nicht, ehe ich nicht jedem gethan oder gerathen, wie und was er wollte. Vielen Umwohnern mußt' ich Briefe schreiben, andern über ihre Geldsachen rathen, manchen lehrte ich die Sprachen, auch deutsch – Knaben wie Mädchen.«

Bonaventura gedachte der Gattin Hedemann's.

»Jener Schüler aus Robillante wollte Deutsch lernen. Die Gabe der Sprachen schien dem jungen Novizen versagt; desto reger war sein Forschereifer in Aufgaben der Phantasie und des Gemüths. Vincente Ambrosi wollte Mönch werden; ich that nichts, um ihn in diesem Entschluß wankend zu machen, kämpfte auch nicht gegen seinen Glauben, den er mit Hingebung und durchaus innerlich ergriff. In ihm liebte ich dich! Schon lange bewohnte ich meine einsame Hütte und war noch ohne Seelenruhe. Immer war ich gefoltert vom Hinblick auf den St.-Bernhard und meinen Betrug! Oft feuchteten meine Thränen mein nächtliches Lager. Oft trieb es mich, nach dem Hospiz zurückzukehren und nach allem zu forschen, was seither dort geschehen war. Aber die Vorstellung: Deine Gattin hat sich mit dem Freunde vermählt und darf nicht in Bigamie leben! schreckte mich; man konnte mich erkennen; diese einsam wohnenden Mönche behalten die wenigen Eindrücke, die ihnen werden, desto lebhafter. Immer und immer aber sah mein gefoltertes Gewissen die größten Verwickelungen entstanden aus den verwechselten Portefeuilles, aus dem Hinlegen meines Ringes unter die Sachen, die einem andern gehörten, einem, dessen Spur nun verloren war, indem er, für mich geltend, begraben wurde. Was half mir das Glück meines äußeren Schicksals, die liebevolle Sorge und der Schutz meiner Gräfin –! Mir fehlte Seelenfriede. Diesen fand ich erst, als mich wieder jener Priesterzögling besuchte, der oft in diese Gegend Almosen zu suchen ausgeschickt wurde. Er klagte über die Nichtbefriedigung seines Innern und erschloß mir zum 181 ersten mal, warum sein Gemüth so krank, sein Sinn so traurig war. Er hatte bei unserer ersten Begegnung Deutsch von mir lernen wollen; wie er jetzt erzählte, weil er nur zu sehr bedauerte, es in einer ernsten Sache, von welcher er damals nicht sprach – es ließ sich an einen Selbstmord seines Vaters denken – nicht verstanden zu haben. Er wäre das einzige Kind seiner Aeltern; seine Mutter, eine Frau von hoher Bildung, wäre eben aus dem Leben geschieden, als sein Vater, Lehrer der Mathematik am Colleg zu Robillante, um sich in seinem tiefen Schmerz aufzurichten, ihn ins Seminar gegeben und eine Fußreise in die Alpen angetreten hätte. Um die Savoyer und Deutschen Alpen zu vergleichen, hätte er vier Wochen ausbleiben wollen und wäre nicht zurückgekehrt. Da die Nachforschungen ohne Resultat blieben, machte sich nach einigen Monaten der Sohn selbst auf den Weg, um des Unglücklichen Schicksal in Erfahrung zu bringen. Der Vater war die Straße über den kleinen Bernhard, den Bernhardin, gegangen, hatte von da aus die Walliser, die Berner Alpen besucht – überall noch fand er des Vaters Spuren, auch noch auf der Heimkehr am Genfersee, noch in Martigny, ja bis zum Hospiz hinauf. Dort aber war dann plötzlich derjenige, von welchem er geglaubt hatte, daß es unfehlbar nur sein unglücklicher Vater hätte sein müssen – ein anderer, den gleichfalls der Schneesturm überfallen, ein von einem deutschen Domherrn und seinem Diener damals erst vor einigen Wochen in St.-Remy Begrabener, ein Deutscher, Friedrich von Asselyn genannt –! Den Namen hatte er deutlich und richtig aufgeschrieben; er stand in St.-Remy auf meinem vom Bruder Franz gesetzten Leichenstein –«

Die Freunde konnten an dieser Stelle nichts thun, als sich über die wunderbare Verknüpfung ihres Lebens gerührt die Hände drücken.

182 »Weinen durfte ich bei der Erzählung des Jünglings – denn sein Leid hätte an sich schon jeden gerührt. Mein Weinen war aber ein Weinen der Freude, das der junge Geistliche nicht begreifen konnte. Ich sprach ihm, da mein Entschluß, mein Geheimniß zu hüten, so lange deine Mutter lebte, feststehen sollte: Ich kann dir nicht sagen, mein Vincente, daß dein Vater lebt; aber glaube mir, die Stunde der Trauer, als dir alles zu sagen schien: Du findest ihn, wenn auch im schreckhaftesten Bild des Todes, und du sahst dich dann doch in deiner schmerzlichen Hoffnung getäuscht – diese Stunde, mein Sohn, wird dir gelohnt werden mit ewigen Himmelskronen! Der Jüngling deutete alles im Bilde. Ich wurde ihm näher verbunden und tiefer verloren wir uns in die großen Aufgaben des Lebens. Von dieser Zeit an erhob sich mein Inneres zum Dank gegen Gott. Denn Dank gegen Gott, das ist das Gefühl, dessen Ausdruck wir tausendmal im Munde führen und welches wir doch nur selten verstehen, selten in die Ursachen seiner wahren Beseligung zu zergliedern vermögen –!«

Wieder hielten die Freunde inne. Wieder besiegelte ihr Händedruck den gottgeschlossenen Bund ihres Lebens.

»Nun wagte ich, auch an die Läuterung Anderer, an die der Kirche zu denken. Gräfin Erdmuthens Glaube überträgt unser Glück auf die Wohlthat der Erlösung durch die Gnade. Das Bild der Gnade begriff ich jetzt und pries am Glauben der Protestanten, daß sie, die so Vieles aufgaben, was sie noch wie andere Christen hätten hüten und tragen sollen, sich das Bewußtsein einer fast persönlichen Wahl und Führung Gottes gewonnen hatten. Ich sah die Hand der Vergebung wie greifbar vor mir, ich fühlte an mir selbst die wider Verdienst geschenkte Gnade des großen Erlösungswerks. Nun verstand ich die reinen, andächtigen Bücher der Waldenser, diese kindlichen Hingebungen an die Schrift. Die Bibel wurde mir das Buch der göttlich geführten 183 Menschenschicksale. Liebe, Glaube und Hoffnung wurde mein Evangelium. Wozu bedarf es mehr? Und wozu irgendetwas, was nicht auf diesem Grunde ruhte? So lehrte ich an manchen Tagen unter meinen alten Eichen und die Menschen kamen von nah und von fern, bis sie durch die Verfolgungen daran gehindert wurden. Da hätt' ich denn schon den wirklichen Tod suchen können, da in dieser Welt auf solchen Drang noch immer der Tod gesetzt ist. Immer entschlossener theilt' ich die Ueberzeugung der Gräfin, daß das Verderben der Welt der Stuhl des Antichrists in Rom ist. Die Fortschritte der Bibelverbreitung, das Wirken englischer Missionäre gerade auf italienischem Boden, die enge Verbindung zwischen Politik und Religion gerade in diesem Lande, der erwachende Freiheitsdrang Italiens, der nur allein über die Zerstörung der Priesterherrschaft Roms hinweg sein ersehntes Ziel der Volks- und Bürgerfreiheit erringen kann, alles das erfüllte mich mit hoher Spannung. Ja, in einer solchen Stunde kam mir der Gedanke, nicht allein meinen zweiten Sohn, Vincente Ambrosi, für die Sache der großen Reform zu gewinnen – ihn nannt' ich auch in diesem Sinn schon den Meinen – sondern auch meinen ersten, der, wie ich hörte, in die Netze der Römlinge gefallen war. Noch schob ich es auf, bis ich hörte, daß sich sogar an den Unternehmungen jenes Kirchenfürsten dein Wahn betheiligte, von denen mir die Gräfin in höchster Aufregung ihrer leidenschaftlichen Parteinahme für den gekrönten Vorkämpfer des Protestantismus in Deutschland erzählte. Da schrieb ich dem Bruder Franz und dir, Bonaventura, sub sigillo confessionis eine Aufforderung zu einem Tag des Concils unter den Eichen von Castellungo. Es war eine That, die selbst die Möglichkeit, mich, deine Mutter, uns alle unglücklich zu machen und tief zu beschämen, nicht scheute, gewiß eine That der Uebereilung, geschehen ganz in jener alten Hast, die ich noch nicht überwunden 184 hatte – Ach, es sollten Prüfungen kommen, die mein Blut in ruhigere Wallung, mein Denken in kühlere Bewegung brachten –«

Cardinal Ambrosi mußte bestätigen, daß Bonaventura's Vater schon damals von seiner baldigen Entfernung aus Castellungo gesprochen hatte. Die Geständnisse kehrten auf ihn selbst, der in heftigste Erregung gerathen war und zuweilen, wenn er dechiffrirt hatte, auf- und niederschritt, zurück.

»Wie aber erreicht man ein allgemeines Concil? Wie setzt man die Majestät dreier Jahrhunderte des Lichts zum Richter über das Concil von Trident? Arme Mönche und Landpfarrer haben keine Stimme im Rath der Kirche! Ein Cardinal, ein Papst muß es sein, der dem Schöpfer das Wort nachstammelt: ›Es werde Licht!‹ Und wie wird man Cardinal, wie Papst –? So sprach mein Schüler eines Tags mit bebender Stimme.›Dazu sind alle Wege offen!‹ erwiderte ich lächelnd. ›Keiner ist freilich sicher!‹ Einer, setzte ich hinzu, wäre neu, der: In Rom ein Mönch im alten Sinne der Väter zu sein! ›Werde ein Heiliger, mein Sohn!‹ sprach ich. Das will ich werden! antwortete Vincente. Ich erschrak, ergriff seine Hand und fuhr fort: Mein Sohn, kein Urtheil über die Menschen und Dinge dieser Erde darf dann früher über deine Lippen kommen, bis die kühle Erde oder der Purpur deine Stirn deckt! ›Das schwör' ich zum dreieinigen Gott!‹ sprach Vincente Ambrosi und ging nach Rom –«

Ambrosi legte sein Haupt auf den Tisch und faltete die Hände. Auch Bonaventura's Schweigen war wie ein Gebet. Nach einer feierlichen Stille sagte er: Und ich, ich mußte dir das letzte Wiedersehen deines Vorläufers und Apostels rauben –! Den Blick der Bewunderung –!

Er ist jetzt unter uns! sprach Ambrosi mit verklärtem Blick gen Himmel. Und wie bald – wie bald einigt uns alle – das große Gottesherz –!

185 Eine lange Pause trat ein. Dann mahnte Ambrosi selbst, daß der Freund fortfahren möchte. Es war tiefe Nacht ringsum. Bonaventura las, was Ambrosi aufzuschreiben fortfuhr:

»Als mein treuer Schüler nach Rom zu den strengen Alcantarinern gepilgert war, hätte ich in hoher, göttlicher Freude in meiner Klause leben können, wenn ich mich nicht einige Jahre später hätte zu jenen Briefen hinreißen lassen. So lebte ich mit Zittern unter den Eichen von Castellungo, hoffend und wieder erbangend, erbangend, daß meine Entdeckung näher und näher rückte. Mevissen mußte todt sein – ich hörte nichts mehr von ihm. So ging noch ein Jahr, noch ein zweites hin. Da kam die mich geradezu bis zum Wahnsinn verwirrende Nachricht, daß mein eigener Sohn als Bischof in Robillante erwartet würde –! Wie war das möglich geworden! Ich wußte nichts vom Zusammenhang dieser geradezu unbegreiflichen Wendung, ich sah nur die Wirkung meiner Mahnung an die Eichen von Castellungo, die Entdeckung meines Aufenthalts –! Dein Denken, dein Fühlen entnahm ich aus dem, was ich allein von dir wußte –! Dein Bekenntniß war mir verhaßt; hatten dich andere in meine Nähe mit Absicht gebracht? Ich hätte fürchten müssen, dich in die traurigsten Conflicte zu verwickeln. So entfloh ich. Ich bot alles auf, dir, deiner Mutter, deinem zweiten Vater die volle Freiheit eueres Lebens zu lassen, mir nur den Schein meines Todes.«

Ambrosi hatte schon lange dem Freunde seinen fortgesetzten Zusammenhang mit Federigo erzählt. Jetzt erfolgte die Bestätigung.

»Ambrosi wurde der neue Vermittler zwischen deiner Liebe und meiner Furcht! Ich hörte von deiner veränderten Richtung, von deinen Kämpfen, von deinen Siegen. Ist es nicht gut, zu entbehren um einen Gewinn? Sah ich dich nicht, ob hier, ob dort, 186 in meinen Armen, vereint mit dir durch jene großen Opfer, die nicht ausbleiben, solange die Erde in ihren Bahnen der Dunkelheit und der Sehnsucht nach dem unsterblichen Lichte rollt –! Ich fürchtete nichts von den Schrecken dieser Welt – nichts von den Schrecken Italiens. Müssen sich nicht selbst die Drohnisse der Natur in Quellen der Freude verwandeln, wenn sie uns die Gemeinsamkeit des Erdenlooses lehren und das Bild eines großen Zweckes aufstellen, welchem an der ewigen Schöpfungsquelle erst aus Tod die Erfüllung wird! Wenn ich dir schildern sollte, wie ich auf meinem Pilgergang nach Loretto, in der Gefangenschaft der Räuber, im Silaswald in jener Waldeinsamkeit, die ich in meinen Jugendträumen so oft gepriesen und ersehnt und nun bedenklich genug zum ewigen Aufenthalt erhalten hatte, hin- und herbewegt wurde von einer Welt andringender, mich stets beschäftigender Thatsachen, wie ich namentlich im Hinblick auf dich und deine große Laufbahn von Zweifel, Hoffnung, innigster Vater- ja Freundesliebe bewegt wurde – dann soviel freundliche Genien fand, die mich wiederum einen Jüngling wie Ambrosi, entsagungsmuthig, willensstark und willensrein finden ließen – Paolo Vigo – wie ich nun schon drei einem Gottesreiche gewonnen sah, das mit klingenden Harfen näher und näher den Nebeln der Erde kommt –«

Bis hierher hatten die Freunde entziffert und gelesen, als die Lampe erlosch und sie sahen, daß der helle Morgen tagte. Sie hatten das Schwinden der Zeit nicht bemerkt. Auch das Verglimmen des Feuers im Kamin nicht. Nun meldeten sich die Rechte der Natur im Gefühl nicht der Müdigkeit, sondern in der Entdeckung, daß es Winter und kalt war.

Draußen läuteten die Morgenglocken. Die Freunde waren so selig von Freundschaft, Liebe und Hoffnung ergriffen, daß ihnen die Besinnung auf die Welt, sogar der Hinblick auf die in den 187 öden Mauern des Inquisitionspalastes liegende Hülle der edlen, schwärmerischen Seele, die hier zu ihnen sprach, wie ein Traum, wie eine märchenhafte Jugenderinnerung war. Den Rest der Blätter wollten sie auf den stilleren Abend lassen und noch wenige Stunden ruhen. Dann hatten sie die Absicht, zunächst zum General der Dominicaner zu fahren und diesem für seine überraschenden Indulgenzen zu danken. Hierauf wollten sie in den Inquisitionspalast, später nach San-Pietro in Montorio.

Schon hörte man von der Straße her den Lärm des Tages. Eben wollten sich die Freunde trennen, als sie bemerkten, daß der Diener (er hatte die auf dem entlegenen Zimmer Eingeschlossenen nicht ferner stören dürfen und sie dann, nachdem er inzwischen geruht, staunend noch nicht zu Bett gegangen wiedergefunden), noch eine Eröffnung für sie bereitzuhalten schien. Er sagte, daß die trübe Nachricht erst nach Mitternacht gekommen wäre und er sie sofort nicht zu melden gewagt hätte.

Welche trübe Nachricht?

Es war verhängt, daß sich heute keine Ruhe auf die leidüberladenen Herzen senken sollte. Die Feuersbrunst hatte auf Via dei Mercanti stattgefunden. Sie war seit Jahren eine der größten, die in Rom stattgefunden. Die daselbst in einem alten Palast befindlichen Waarenmagazine waren von den wüthenden Flammen zerstört worden. Von oben und unten sich begegnend hatten sie die Stiegen unbetretbar gemacht. Man beklagte Verlust an Menschenleben.

Ambrosi und Bonaventura fragten nach Gräfin Sarzana. Der Diener berichtete ihren Tod. Ein Franciscanerbruder, erzählte er und die sich mehrende Dienerschaft ergänzte seinen Bericht, hätte retten wollen. Muthig stürzte sich der Mönch in die Flammen, zumal als man zu sehen geglaubt, daß eine Dame, die oben aus der Zerstörung einen Ausgang suchte, einem Räuber 188 ein Kästchen entriß, das sie mit Verzweiflung und hülferufend vor ihm zu wahren suchte. Auf einer mit Eisenblech beschlagenen Leiter erreichte der Mönch den Balcon, der schon mit brennendem, zur Rettung bestimmtem Geräth überhäuft war, kletterte in ein vom wirbelnden Qualm und mit knisternden Funken erfülltes Zimmer, wo deutlich durch die zersprungenen Fensterscheiben hindurch das Ringen der Dame mit einem Mann erblickt werden konnte, dem sie jenes Kästchen nicht zur Rettung überlassen zu wollen schien. Der Mönch machte sich Bahn, ergriff den Schrein, warf ihn auf die Straße – in die verzehrende Glut, die ihn sofort zerstörte. Denn die Flamme loderte so hoch auf, daß bereits die glühend gewordene Leiter brannte. Man versuchte eine neue anzulegen. Vergebens! Noch einmal hörte man aus dem allgemeinen Lärm der Verwüstung und Zerstörung heraus die Stimme des Mönchs, der seine schon brennende Kutte abgerissen hatte, hörte den mächtigen Ausruf: »Schon einmal gelang es, Brüderchen!« Da verloren sich die italienischen Worte, die noch zu allgemeiner Verständlichkeit der Muthige gerufen hatte, in eine fremde Sprache. Mit dem einen Arm ergriff er den Räuber, mit dem andern die Gräfin Sarzana, hob beide hochhinweg über die brennenden Geräthschaften auf dem Balcon und schickte sich zum Sprunge an. Die Balken des Daches stürzen, die Flamme sucht mit gierigem Schlund die schon Erstickenden. Jetzt, mit dem Ausruf: Noch einmal in Jesu Namen! springt der Rettende in die Tiefe. Mit zerschmetterten Gliedern lagen drei Menschen auf der Straße – bedeckt von den brennenden Balken und dem Schutt der Zerstörung – Sie lagen todt.

Während Bonaventura erstarrt zur Bildsäule, von Ambrosi gehalten, jedes Wort wie die Spitze eines Dolches fühlte und doch mit dem innigsten Antheil dem Grauenerregenden sein Ohr entgegenhielt, fuhr der Bericht fort: Nun stellte es sich heraus, daß 189 der eine der beiden Männer jener deutsche Mönch gewesen, der einst den Grizzifalcone erschossen, Frâ Hubertus. Der andere hat sich keineswegs als Räuber herausgestellt. Es war – ein Freund der unglücklichen frommen Gräfin, der allein nur zum Helfen gekommen war – ein Priester des Al Gesù, Pater Stanislaus. Die Gräfin Sarzana wurde über die Engelsbrücke getragen, noch hatte sie einige Besinnung; sie erreichte das Krankenhaus der Deutschen nicht mehr. An den Stufen der Peterskirche mußte die Bahre halten. Dort ist sie verschieden. Den todten Pater Stanislaus, hieß es, holten seine Ordensbrüder ab. Frâ Hubertus hätte, versicherte man, mit seinem Muth und seiner unbändigen Kraft den schreckhaften Ausgang auf alle Fälle verhindert, wär' er gleich anfangs auf dem Brandplatz verblieben. Aber mitten im Gewühl behauptete er die Spur eines Mannes verloren zu haben, dem sein leichtbeschwingter Fuß schon aus Gründen aus dem Sacro Officio gefolgt war und den er im Gedräng der Menschen aus den Augen verlor. Darüber verstrich die Zeit. Endlich erblickte er in vermeintlichem Kampf mit Gräfin Sarzana den Gesuchten, rief Worte in einer unverständlichen Sprache hinauf, kletterte in die Höhe – worüber allein schon alles entsetzt stand. Dann kam er zurück. Es war – als wenn der Tod, ein Knochengerippe, beleuchtet vom blutrothen Schein der Flammen, die schon brennenden Sprossen der Leiter herab klimmen wollte, zwei Leben in seinem Arm – Der Erfolg des Sprunges gab dem Sensenmanne, was er vielleicht suchte –!

Die Erzählenden hielten auf einen Wink Ambrosi's inne. Vom Schmerze bewältigt vernahm Bonaventura nichts mehr.

 

Ende des achten Buchs.


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