20070807
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50 3.

Eines Winterabends herrschte auf Schloß Bex eine ungewöhnliche Aufregung. Sie galt einer Karte, die man, heimkehrend von einer Thalfahrt an den See, auf dem großen grünverhangenen, von einer brennenden Ampel beschienenen Tische des Eintrittsvestibüls vorgefunden hatte, wo regelmäßig die Karten der Besucher niedergelegt wurden, die inzwischen vorgesprochen hatten.

»Der Baron Wenzel von Terschka« lautete die Aufschrift. Dazu sein Wappen und die mit »p. f. v.« bezeichnete Ecke eingebogen.

Terschka! rief Monika erstaunt und reichte Armgart die Karte. Der lebt noch! Seit lange hatte man von ihm nur gehört daß er nach Amerika gegangen war.

Armgart, die nun schon über die Mitte der Zwanzig gerückte schlanke, stattliche Herrin von Schloß Bex, schlug ihren Schleier auf, der sie beim Heimfahren im offenen Wagen gegen die rauhe Winterluft geschützt hatte, und sah, so erröthet sie war, sogleich erblassend auf die Karte, die in ihren Händen zitterte.

Erregt ergriff auch der Oberst die Karte. Düster drückte er die Augenbrauen zusammen und wiederholte mehrmals ein: Ist der aus Amerika zurück!

51 Armgart hatte den Abend für sich allein sein wollen. Es war der 28. Januar, der Tag der heiligen Paula. Sie hatte ihren Kalender, den sie auf ihre Art einhielt. Schon freute sie sich auf die Wärme ihres Zimmers. Am Kamin wollte sie sitzen, ihren Thee für sich allein trinken, ihre alten Andenken hervorsuchen und über den Montblanc hinweg so stark und lebhaft nach Castellungo und Coni, wo Paula mit ihrem Gatten in Bonaventura's unmittelbarer Nähe wohnte, hinüberdenken, daß Paula, so dachte sie, sie sehen müßte. Schon hatte sie sich ausgemalt, wie zu gleicher Zeit, während die Uhr über ihrem Sopha tickte, Paula den Brief las, den sie ihr zu ihrem Namenstage geschrieben. Vielleicht war der Erzbischof bei ihr, der, wie man hörte, in viele Händel verwickelt war; schwerlich auch die alte Gräfin, gewiß aber alle Freunde und Verehrer, die auch dort einer so hochgestellten Dame, wie Paula, nicht fehlen konnten. Sie hatte in jenem Briefe von Sancta-Paula geschrieben, jener römischen jungen Witwe, die sich von ihren Kindern hatte trennen können, um die Stätten Jerusalems zu sehen und mit Hülfe des heiligen Hieronymus über dem Grab Christi ein Kloster zu bauen. Und um so lieber träumte sie von jenem eigenthümlichen Verhältniß, worin dort ihre Lieben lebten, als sich vieles davon aus Paula's Briefen nur zwischen den Zeilen ersehen ließ und ebendeshalb auch der immer und immer besprochene endliche Besuch des Thals von Castellungo seine Mislichkeiten bot. Ohne die Aeltern mochte sie nicht gehen und mit ihnen hatte es der religiösen Differenzen wegen ebenso seine Schwierigkeiten, wie in Rücksicht auf den Vater, der mit Paula früher im magnetischen Rapport gestanden. Diese Zustände hatten in Italien abgenommen; Gräfin Erdmuthe aber, so sehr sie die Familie der Hülleshovens schätzte und liebte, schien eine verstärkte Rückkehr des Schlafwachens zu befürchten, wenn sich ihrer 52 Schwiegertochter wieder die alten Elemente ihres Umgangs näherten. Schwer genug schon trug die alte Gräfin an Bonaventura, den sie ganz gemieden hätte, wäre nicht sein Eifer so muthvoll für ihren Eremiten aufgetreten. Die Reise über die Alpen war unter solchen Umständen für die Familie nur ein Sehnsuchtsziel geblieben.

Dies stille Abendträumen mußte sich Armgart nun versagen. Denn mit dem Namen Terschka zog Beunruhigung ins ganze Haus, Schrecken vorzugsweise in ihre eigene Seele. Ein eisiger Winter war es wieder. Sie sah sich wie damals im frosterstarrten Walde zwischen Westerhof und ihrem Stifte, sah an ihrer Seite den dämonischen Schmeichler, von dem sie damals geglaubt hatte, daß er die Mutter berücke. Ein Schauder ergriff sie in Erinnerung an ihr Gelübde, an ihr Suchen der Gefahr, an ihre Hingebung an diesen Mann ohne jede Spur von Neigung, an alles, was sie um ihn verloren und freiwillig geopfert hatte. Wieder nun in ihrer Nähe dieser Schein von Harmlosigkeit, diese leichte zutrauliche Manier, die nichts begehren zu wollen schien und ebendeshalb sogleich alles besaß?

Vater und Mutter, die sich mit politischen Dingen um deshalb ausdrücklich nicht befaßten, weil ihrer religiösen Richtung der Vorwurf gemacht worden, sie wäre nur die maskirte Revolution, hatten nichts mehr über Terschka's Leben und Treiben vernommen. Nur das eine war ihnen zu Ohr gekommen, daß Terschka in irgendeiner Weise, welcher, wußten sie nicht, sogar mit dem Untergang der Brüder Bandiera in Verbindung stand, einem Ereigniß, woran der Oberst den schmerzlichsten Antheil nahm, da ihm in Amerika der Vater dieser Jünglinge bekannt geworden war und auch durch Thiebold dessen an Benno aufgetragenen Grüße ihm ausgerichtet wurden. Noch hatte man vernommen, daß Terschka in dem Augenblick London verließ, als dort Benno 53 ankam. Eine große Geldsumme, die ihm später, als er wieder zurückgekehrt war, von Witoborn aus zugekommen sein sollte, mußte, so glaubte man im engern Kreise des Obersten, vom Präsidenten auf Neuhof herrühren, der mit ihm über die Enthüllungen der zweiten Heirath seines Vaters längere Zeit schon in näherer Verbindung stand. Dann war er nach Amerika gegangen.

Monika konnte nie wieder ganz das Bild jener wiener Zeiten verwischen, wo Graf Hugo und Terschka so heiter und sorglos verkehrten, die alte Gräfin, trotz erster Abneigung gegen Terschka, doch für ihn schwärmte, ja sie selbst von ihm mit einer Leidenschaft verehrt wurde, die ihr Herz in Unruhe, ihre Entschlüsse in Schwankungen versetzte. Daß Terschka, der schon immer und immer, wie Monika selbst, mit dem Uebertritt umging, die Hoffnungen auf ihre Gegenliebe da aufgab, als er Armgart und deren förmliches Sichihmanbieten sah, schien ihr natürlich zu sein; eine alte Theilnahme löscht sich im Frauengemüth nicht aus; wo sie einmal Partei genommen, sind ihre Entschuldigungen unerschöpflich.

Nur Armgart, die nun schon wieder ganz allein in ihrer Abneigung zu stehen fürchtete, sagte: Er hat irgendeine Schuld auf seinem Gewissen! Diese jagt und verfolgt ihn! Diese treibt ihn vom Guten auf, wenn er das Schlechte eben verlassen hatte und gern das Gute lieben möchte! Diese macht ihn zum Werkzeug jedes energischen Willens, der ihm imponirt!

In ängstlicher Spannung saßen sie beim Thee; der Sturm mehrte sich, Zweige an den ächzenden Pappeln, die in nächster Nähe des Schlosses standen, brachen. Jeden Augenblick, glaubte man, müßte an der Eingangspforte die Glocke gezogen und Terschka's Rückkehr gemeldet werden.

Es wurde neun, zehn Uhr. Schon wollte man zur Ruhe 54 gehen, da zog es an der Glocke. Es war eine weibliche Stimme, die sich hören ließ. Porzia Hedemann kam noch so spät aus ihrem dem See näher gelegenen Häuschen. Sie hatte sich nicht überwinden können, ihren theuern Gönnern und Beschützern noch von einem Besuch des Barons von Terschka zu erzählen. Freude strahlte aus ihrem Auge und ergänzte ihre gebrochene deutsche Rede. Terschka hatte in gewohnter Weise die Spuren seines Erscheinens sogleich angenehm bezeichnet, hatte von Mitteln gesprochen, die unfehlbar die kranke Brust Hedemann's heilen müßten. Und als nun auch der Oberst einräumte, die Indianer besäßen Heilmittel, von denen sich die Weisheit unserer Aerzte nichts träumen lasse, breiteten sich schon um ihn alle Zauber Amerikas aus. Noch ehe man Terschka wiedersah, schwebte er schon in dem gewohnten Nimbus seiner Liebenswürdigkeit.

Am folgenden Tage erschien er in der That. Er war in Genf abgestiegen, kam in einem Einspänner geflogen, den er selbst führte, und sah in seinem schnurbesetzten Pelzrock, von Wetter und Sturm geröthet, trotz seiner fünfzig Jahre immer noch recht stattlich aus. Die kleinen Formen des Siebenmonatskindes konnten eher durch die Jahre zusammengehen, als plastischer ausgebildete. Sein Auge hatte das alte lebhafte Feuer; sein kurzgeschnittenes Haar war, trotz der Beängstigungen, die sein Gemüth die Reihe von Jahren hindurch schon ausgestanden haben mochte, nur von einem leichten Hauch der Verwandlung in Grau überflogen. Mit einer Unbefangenheit gab er sich, als setzte die Gegenwart die nur kurze Zeit unterbrochene und völlig ungestört gebliebene Vergangenheit fort.

Die befangenen Mienen des Obersten klärten sich auf, als Terschka mit Begeisterung von Amerika sprach. Monika sah in jeder Freude ihres Gatten ihre eigene und schürte dies Behagen. 55 Vom frühern Jesuiten, von der Umwandelung in einen Protestanten, vom Freunde der italienischen Emigranten konnte um Armgart's willen nicht viel die Rede sein. Diese noch unverheirathet zu finden, sagte Terschka, überraschte ihn nicht, denn er hätte sie und ihre Familie auch jenseits des Oceans nicht aus dem Auge verloren. Sein Wesen blieb harmlos; nicht eine Miene verrieth: Du liebtest einst diese Mutter, deren Locken nun immer silberner geworden sind! Und wie nahe warst du, auch die Tochter, diese immer noch blühende, schöne, reiche Herrin von Schloß Bex die Deine zu nennen!

Hedemann wurde gerufen. Trotz seines »Sterbenwollens in Christo« kam er wie neubelebt. Porzia war hoch in der Hoffnung und der Gedanke des Todes, sonst ein ihm so lieber und vertrauter, hatte ihn wol jetzt mit Trauer erfüllen müssen. Terschka versprach, ihn seines Mittels wegen zu besuchen. Im Plaudern hatte er eine noch auffallend genaue Kenntniß aller Verhältnisse und Personen, mit denen er sonst gelebt, verrathen und bedurfte darüber keines Unterrichts, den er eher noch selbst ertheilen konnte. Ohne Schärfe ließ er zuweilen und wie zufällig eine Anspielung auf den natürlichen Sohn des Kronsyndikus, Cäsar von Montalto, oder auf die Fürstin Rucca fallen. Er übertrieb, bei Gelegenheit des Grafen Hugo, das Princip der Dankbarkeit, sagte aber auch, in Anspielung auf Benno's Dankbarkeit für seine Befreierin, die Fürstin Olympia: Meine Damen, als ich noch ein Jesuit war, kam im Colleg zu Rom die Frage auf die Dankbarkeit. Wir trieben Moral nach allen möglichen Unterscheidungen; aber von Dankbarkeit war wenig die Rede.

»Seid dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an euch!« sagte Hedemann und freute sich der vorgeführten Bilder aus der alten Zeit Witoborns.

Das ist aber die Dankbarkeit nicht, nahm die streitsüchtige, 56 nun schon außerordentlich angeregte und ein gewähltes Mittagmahl anordnende Monika auf, die Terschka meint. Sie wollte hören, wie es mit Terschka's religiösem Innern stand. Terschka hatte vom Tode Ceccone's gesprochen, der wol auch die Ursache gewesen sein mochte, sagte er harmlos, daß seine Nichte seit Jahren nicht nach Rom zurückkehrte. Ceccone war unter seltsamen Umständen gestorben.

Auch der Oberst achtete nicht darauf, daß sich Armgart dem Fenster zuwandte; er sah nur und freute sich dessen, wie geheimnißvoll seine Frau für den Mittagstisch sorgte.

»Und seid gewurzelt und erbaut in ihm und seid fest im Glauben, wie ihr gelehrt seid, und seid in demselben reichlich dankbar!« wiederholte Hedemann zum festen Zeugniß, daß die Bibel die Dankbarkeit kenne und die Jesuitenlehrer beschäme.

Die Mutter, während Armgart schwieg und am Fenster auf den See und die im Violett strahlenden Schneeberge Savoyens blickte, wollte heute Hedemann's Partie nicht nehmen und meinte, manches Verhältniß des modernen Lebens, manche Verpflichtung unserer künstlichen und unnatürlichen Verhältnisse ließe sich kaum aus der Bibel herleiten. In diesen Gegenden, wo der Bibelglaube und die religiöse Phrase an jedem Bissen Brot, den man in den Mund nimmt, haftete, war Monika allerdings etwas weltlicher geworden; aber auch die Erinnerung an die schönen Stunden, welche sie in Wien verlebt, erregte sie.

Hedemann ließ die Meinung nicht aufkommen, daß nicht die Schrift die umfassendstverpflichtende Dankbarkeit anempföhle. David war dankbar gegen Abjathar, den Sohn Abimelech's, der für David gestorben. David war dankbar gegen Barsillai, den achtzigjährigen, den er mit nach Jerusalem in seine Burg nehmen wollte, weil er ihm früher in Noth gedient. David war dankbar dem Gedächtniß Jonathan's, des Sohnes Saul's, der 57 ihm angehangen, und rief in alle Lande: Wo ist jemand übrig geblieben von dem Hause Saul's, daß ich Barmherzigkeit an ihm übe um Jonathan's willen?! Dennoch hielt Monika die Frage der Dankbarkeit in einem andern Sinne fest und sagte: Die Dankbarkeit, die Terschka meint, heißt nicht das Erweisen von Wohlthaten an den, der auch uns Wohlthaten erwies, sondern die Unterordnung des eigenen Willens und Interesses unter den Willen und das Interesse eines andern und zwar aus purer »Dankbarkeit« für ein ganzes Leben lang –!

Ein Stille trat darauf ein. Terschka genoß die Wirkung derselben und sagte, so hätte er sich allerdings dem Grafen Hugo hingegeben und ganz von ihm regieren lassen. Unsere Professoren auf dem Collegium, fuhr er fort, ließen wenigstens nicht mit offnen Worten, aber halt ziemlich deutlich keine Dankbarkeit gelten, die eine eigene Benachtheiligung voraussetzte. Den Vortheil, den sie auf alle Fälle gewahrt wissen wollten, nannten sie die eigene Vollkommenheit. Hatten wir nicht einen ganzen Tag Disputation über die Frage: Ist man verpflichtet, hundert Zecchinen einem Mörder auszuzahlen, der sich dafür erbot, einen Mord zu begehen? Der erste Satz war natürlich: Solange der Mord nicht vollzogen ist, kann auch von Zahlung keine Rede sein.

Man lachte. Selbst Armgart mußte einfallen.

War aber halt der Mord vollzogen, fuhr Terschka fort – wie dann, wenn der Anstifter in den Beichtstuhl kommt und, nachdem sein Vortheil bereits gewahrt ist, jetzt keine rechte Lust mehr bezeugt, die hundert Zecchinen zu bezahlen? Darüber waren die Meinungen der Theologen getheilt. Einige glaubten, daß das Geld, ob vor oder nach der That, wenn auch versprochen, unter keinerlei Umständen bezahlt zu werden brauchte.

58 Schändlich! rief Monika aufwallend. Selbst dem Mörder muß man die Treue halten!

Sie urtheilen, meine Gnädigste, fiel Terschka ein, grad' wie der heilige Liguori, der Stifter der Liguorianer, unser Schutzpatron, auch urtheilte. Rund und fest hat Liguori erklärt: Die hundert Zecchinen müssen unter allen Umständen dem Mörder bezahlt werden!

Das beste Wort, das ich je von einem Jesuiten gehört habe! fiel die Mutter ein und setzte die Entwickelung ihrer Moral der Hochherzigkeit und des Edelmuthes fort, bis der Oberst von der Dankbarkeit hinzugefügt hatte, daß er Beispiele aus seinem eigenen Leben kenne, wo sie manche Charaktere vollständig aus ihrer Bahn gelenkt hatte, wo Menschen, einmal verpflichtet, nie wieder ihren freien Willen bekommen hätten, Offiziere, die das Opfer eines einmal unbedacht geschlossenen Verhältnisses sogar mit ältern Damen geworden und elend untergegangen wären. Da erst verstanden denn Monika und Hedemann die wechselnde Gesichtsfarbe Armgart's und setzten das Gespräch, dessen Bezüglichkeiten sie sich jetzt auf Benno deuten konnten, nicht fort.

Aber von Lucinden und einem seltsamen Zusammenhang des überraschenden Todes ihres Gönners, des Cardinals Ceccone, wußte Terschka nun Dinge zu erzählen, die, wenn sie auch fragmentarisch bleiben mußten, weil sie für Armgart's Ohr nicht paßten, doch die ganze Behaglichkeit verbreiteten, durch Terschka wieder in einen Zusammenhang mit der Welt zu kommen. Armgart hörte nur aus dem Flüstern, daß Graf Sarzana gleichfalls als Flüchtling in London und gleich in den ersten Wochen seiner Vermählung von seiner Frau getrennt lebte.

Acht Tage verflossen und Terschka war in dieser und ähnlicher Art auf Schloß Bex die Hauptperson geworden. Die Mutter konnte schon sagen: Was sollte denn nun auch werden, wenn 59 jedem Menschen, der einmal strauchelte, der Kainsfluch immer und ewig auf der Stirn gezeichnet bliebe! Warum gibt es denn keine großen Männer mehr? Weil die Keime dazu in unserer Civilisation falsch aufblühen und leider zuweilen eher in den Zuchthäusern, als in den Walhallen reifen! Verpflanzt doch nur einmal unsern Herrn und Heiland in das Zeitalter der Gensdarmen! Würde Jesus von Nazareth drei Jahre haben lehren und hin- und herwandeln können? Nicht drei Tage hätte sein hochheiliges Lehramt gedauert.

Von Lucinden, Gräfin Sarzana, hatte Terschka, wie nun Armgart vertraulich von der Mutter erfuhr, erzählt, daß die Klügste ihres Geschlechts das Opfer einer Intrigue geworden war, die auch nur in Italien vorkommen konnte. Graf Sarzana war in der That ein Verschworener des »jungen Italien«, theils aus Ueberzeugung, theils aus Rache gegen Ceccone, der seit Jahren seine Familie entwürdigte und misbrauchte. Auch ihm wollte der Cardinal die Hand einer Frau geben, die nur ihm gehören sollte. Hatte der Cardinal Berechtigung, von Lucinden solche Hoffnungen zu hegen oder nicht, der Gardist Sr. Heiligkeit ging scheinbar auf den Vertrag ein. Seine Rache oder ein Auftrag des »jungen Italien« wollte einen erlaubten Anlaß haben, Ceccone gelegentlich aus der Welt zu schaffen. Die Ehe wurde vollzogen; Bonaventura, der gerade in Rom anwesende neuerhobene, glänzend gerechtfertigte, wie von unsichtbaren Armen geschützte Erzbischof von Coni hatte früher Gräfin Paula nicht trauen können – aber Lucinde wollte diesen Vorzug genießen und Terschka hatte sogar angedeutet, daß Lucinde Mittel besäße, den Erzbischof dazu zu zwingen. Kaum hatte das Sarzana'sche Paar jenen Palast bezogen, wo früher die Herzogin von Amarillas gewohnt, so verbreitete sich ein Gerücht, der Cardinal hätte bei einem Abendbesuch in diesem Palast einen 60 unglücklichen Fall gethan. Blutend wurde er nach Hause gebracht. Wol ein Jahr hätte er sich dann noch elend hingeschleppt, hätte sehen müssen, wie Fefelotti seinen ihm immer mehr abgerungenen Einfluß gewann und wäre zuletzt still vom Schauplatz verschwunden und sogar außerordentlich heilig gestorben. Bald aber nach jener Nachricht von dem »unglücklichen Fall« wäre Graf Sarzana heimlich aus Rom entwichen, seine Gemahlin in ein Kloster, das der »Lebendigbegrabenen«, gegangen, wohin schon einmal ein dunkler Vorfall aus dem Leben des Cardinals sich der Welt entzogen hätte – Jetzt, hatte Terschka erzählt, wisse es alle Welt, Graf Sarzana hätte seine Gemahlin in einer »Scene« mit dem Cardinal überrascht, die Thür gesprengt und auf frischer That auf ihn den Degen gezückt. Der Stoß war nicht tödtlich und erst nach einem Jahr erlag Ceccone den Folgen der Wunde. Gräfin Sarzana wäre seitdem noch nicht lange erst wieder aus dem Kloster ans Tageslicht gekommen. Armgart wußte freilich aus Briefen, die aus dem Thal von Castellungo kamen, daß Gräfin Sarzana schon seit zwei Jahren in Genua lebte, ja sogar in Coni erwartet wurde. Sie sagte also: Alles das wird sich auch wol noch anders verhalten!

Ueberhaupt kannte Terschka von den Verwickelungen im Leben der Nahebefreundeten Monika's und Ulrich's mehr, als diese in ihrem reinen Sinn hören mochten. Selbst Lucinden ließ der Oberst, der sich ihrer wenig entsann und von der er nur hatte erzählen hören, das Urtheil angedeihen: Wir wissen nicht, ob die Menschen, die sie verurtheilen, recht haben oder nicht; aber für soviel Unglück, als auch gerade ihr beschieden zu sein scheint, könnte sie jeden fast dauern und ihre Erbitterung gegen die Welt gar nicht wunder nehmen!

An den in jener Gegend üblichen Erbauungsstunden und religiösen Versammlungen, an den Streitigkeiten über die Erbsünde 61 und die Gnade nahm Terschka, der nun eingebürgert blieb, ohne besonderes Interesse theil. Geistige Bedürfnisse lagen ihm überhaupt, wenn sie Ernst voraussetzten, fern. Wenn von Paris, London und Wien die Rede war, seufzte er sehnsuchtsvoll. Anfangs kehrte er immer wieder, wenn er Schloß Bex besucht hatte, nach Genf zurück. Zuweilen kam mit ihm von dort Gesellschaft, anfangs achtbare Persönlichkeiten, die in einer mit Fremden überfüllten Stadt leicht gefunden sind. Der einförmige Kreis des Landlebens im Winter erhielt durch ihn Belebung; sogar mehr, als man wünschen konnte. Es stellte sich eben eine Toleranz gegen den Erzähler seiner Abenteuer und Reisen wieder ein, die alle Bedenklichkeiten des Vergangenen vergessen zu haben schien.

Nur Armgart blieb gegen den nur zu schnell wieder zu Gnaden Angenommenen kalt, vermied ihn, wo sie konnte, blieb, wenn er nicht noch vor Nacht nach Genf heimkehrte, vorsichtig auf ihren Zimmern und lebte ihrer innern Welt, die sie schon so früh verstanden hatte zu ihrem Universum zu machen. Ein Kind, das mit einem aus Baumrinde geschnittenen Schiffchen sich stundenlang den Ocean träumen konnte, war sie sonst; jetzt kannte sie den großen Ocean des Lebens und suchte auf diesem nur ihre kleinen Schiffchen wieder.

Der Oberst und Monika waren im Grunde doch nur Gemüthsmenschen und entbehrten, ungeachtet ihrer steten Berufung auf den Verstand, eines scharfen psychologischen Blicks. Sie übersahen, daß es eine Verkommenheit im Menschen gibt, die dem Kenner selbst durch den äußern Schein des größten Behagens hindurchschimmert, wie sich eine nur scheinbar gepflegte Toilette durch eine zerrissene Naht und ein nicht gehörig verstecktes Bändchen in ihren geheimen Schäden verräth. Eine solche im Sinken begriffene Natur lacht und scherzt dann und erst am Uebermaß 62 des Widerhalls läßt sich erkennen, wie doch innerlich alles so hohl ist. Jedes Wort hört der scheinbar so unbefangen Sprechende dann gleichsam selbst zuerst; sein Gang ist berechnet; der Schatten, den er wirft, ängstigt ihn. Unruhig sucht er Haltepunkte und Anlehnungen. Sie sind aber ganz wie durch Zufall und wie im Traum gewählt. Eine alabasterne Vase, ein Spiegel, um im Bilde zu bleiben, ist von dem Vorsichtigsten dann zertrümmert, er weiß nicht wie.

Für die sich ganz ebenso zeigende tiefinnere Verkommenheit Terschka's hatte Armgart einen klarsehenden Blick. Während der Unheimliche den Vater durch seine Ställe und seine Vorschläge für die Oekonomie fesselte, die Mutter durch hundert Aufträge, die für Genf von ihm übernommen wurden, Hedemann und Porzia durch Heiltränke, die in der That vorübergehende Linderungen verschafften, sah allein Armgart mit Schrecken, wie Terschka bereits so im Zuge des Eingreifens in alle Verhältnisse auf Schloß Bex war, daß ihr die Geldsummen schon verloren schienen, die ihm anvertraut wurden. Sie sah eine Lebendigkeit um sich her, die sie im höchsten Grade beunruhigte. Terschka's Genossen, jetzt größtentheils Franzosen von unheimlichen Manieren, gingen ab und zu. Schon wurden Jagdpartieen arrangirt. Oft war die Tafel, ohne irgendeine Einladung, zwanzig Personen stark. Der Oberst liebte die Jagd und Monika unterstützte diese Neigung, weil sie – sie sagte es scherzend – gutmachen wollte, daß der Anfang ihres früheren Zerwürfnisses ein Lachen über die Fehlschüsse des eben Erheiratheten war. So ging es hinaus in die Schluchten der Berge, gerade wie um Witoborn in die Wälder. Monika, der es an Gründen nie fehlte, wenn etwas Inconsequentes durch die Gesetze der Nothwendigkeit entschuldigt werden sollte, fand diese Bewegungen dem Gatten zuträglich und sorgte nur, daß Armgart von den Zumuthungen 63 der Theilnahme verschont blieb. Wohl kannte sie Armgart's Erinnerung an jenen Tag, wo sie sich, todtbetrübt und die Mutter an Terschka gebunden glaubend, infolge ihres Gelübdes in die gräflich Münnich'sche Jagd stürzen konnte, um für die Erkorene Terschka's zu gelten.

Der Winter verstrich. Armgart saß nicht immer mit ihren Büchern im Zimmer. Sie unterstützte Hedemann und Porzia im Reinigen und Schwingen der Sämereien, stieg in die Keller und wahrte die Wurzelgewächse gegen üble Wirkung dumpfer und feuchter Luft, benutzte jeden sonnigen Tag, wo sich der Boden der großen Gemüsegärten auflockert, um die Aussaat solcher Pflanzen zu leiten, denen ein längeres Verweilen des Samens im Schoos der Erde nützt, ließ die Obstspaliere und manche freischwebende junge Pflanzung mit Stroh umhüllen, unterstützte gegen den Sturm, der oft aus dem Walliserland und vom großen St.-Bernhard mit Ungestüm wehte, die jungen Obstbäume mit kräftigen Stecken, ließ die Weinstöcke niederlegen und gerade wenn ihr Blumengarten dicht voll Schnee lag, säete sie die ersten Boten des Frühlings, Primeln und Aurikeln – ihr Same darf die Erde nur leise berühren, nicht in sie eindringen – Bei diesen Beschäftigungen, auch beim Pflegen der Hyacinthen, die in ihren Zimmern, wie ehemals bei Paula, die grünen Keime ansetzten, trug sie ihr seltsames Lebensloos und gab, wie in einem spanischen Gedicht, das Bonaventura ihr und Paula einst auf Westerhof vorgelesen, »Des Gärtners Lohn« – auf die Frage:

»Herr, unter Steinen und Moosen
Was schöpfst du soviel aus dem Born?«

durch Blick, Rede und Haltung die Antwort:

»Dir will ich benetzen die Rosen!
Mir will ich benetzen den Dorn!«

64 Es war ein Nonnenleben ohne Clausur, das ihr Ideal zu werden anfing. Die Welt hüllte sich ihr in eine Trauer, die sie nicht deuten, in einen Schmerz, den sie kaum anerkennen mochte. Sie wurde ablehnend und streng; vielen erschien sie kalt.

Der Frühling war gekommen, die Hollunderbüsche blühten, die Kastanienbäume setzten ihre braunen Knospen an, der Leman braute jene durchsichtigen, sonnigen Nebel, die nicht mehr von der wild aus den Bergen stürmenden »Bise« zerrissen wurden. Terschka wohnte nun schon oft wochenlang auf dem mit allen Reizen der Natur sich schmückenden Schloß Bex. Zu andern Zeiten wieder überredete er den Obersten, mit ihm nach dem fremdenüberfüllten Genf zu gehen. Wer das Gefühl hat, mit gegebenen Zuständen zu Bruch zu leben, ergreift gern die Gelegenheit, aus seiner Isolirung herauszutreten und da sich anzuschließen, wo von unbefangener Urtheilenden die langentbehrte Zustimmung nicht ausbleibt. Diese reichen Patricierfamilien Genfs mit ihren strengen calvinistischen, in andern Dingen wieder republikanisch unbefangenen Formen wurden eine Welt, wo sich Monika sorglos bewegen durfte. Sie sprach gut französisch, konnte mit den Professoren der Universität Streitigkeiten führen, die für jeden Zuhörer genußreich waren, der Rath des Obersten wurde in mancher technologischen und Ingenieurfrage begehrt, Terschka war die Seele der auch in Genf vorhandenen aristokratischen Gesellschaft. Von den Flüchtlingen, den Polen, Italienern, Deutschen, hielten sich alle in Entfernung.

Aber gerade von dieser Seite aus gab es scharfe Augen und der geschmeidige, lebensschlaue Böhme, der überall nach Macht, Einfluß, Stellung trachtete, mußte erleben, daß ihm schon manches fehl schlug. Bald hieß es sogar auch hier: Er spielt eine falsche Rolle! Er hat sie schon in London gespielt! Sein 65 Gewerbe kann nur das eines Spions sein! Er correspondirt mit Wien und mit Rom! War dem nun so oder nicht? Terschka blieb jener Jesuitenzögling, der zwar mit scheuer Vorsicht seinen Weg Schritt für Schritt macht, nie aus sich selbst heraus, sondern immer nur aus den Interessen der andern die Situationen seines Lebens entwickelt, niemals kann er recht ein Herr werden, immer nur Diener. Durch sein Dienen verpflichtet man sich die Menschen und zuweilen sind sie edel und heben dafür den, der uns dient, wie einst mit ihm Graf Hugo gethan; jetzt aber hatte er zuletzt doch nur noch den Obersten und Monika für sich, hundert Zerwürfnisse und Streitigkeiten schon gegen sich. Bereits hieß es beim Obersten und Monika: Man müßte doch aus dieser Gegend fort! Man müßte doch Bex verkaufen, so schön es ist! Schon wegen – Hedemann's sollte man in eine mildere Gegend ziehen!

Die Herrin von Schloß Bex hatte auch hier, trotz ihrer Schroffheit, Verehrer und Bewerber. Angesehene Namen aus Genfs Patricierfamilien, umwohnende Grundbesitzer, Reisende, wiederum auch mancher Engländer, huldigten Armgart mit oft maßlosem Eifer. Die Mutter wünschte die endliche Verheirathung; auch der Vater; schon deshalb, um den Schein aufzuheben, als bestimmten sie die Tochter ihres Vermögens halber unvermählt zu bleiben. Alledem geberdete sich Terschka trotz seiner fünfzig Jahre eifersüchtig, als scheute er mit jungen Leuten keinen Wettkampf. Nicht daß er seine eigene Liebe zur Schau trug – wenigstens warf er ein: Ich werde so lächerlich nicht sein! – immer aber hatte er Gründe, die Bewerber zu verdächtigen und suchte Scenen herbeizuführen, die zuweilen so ausarteten, daß die Frauen, vor allem Armgart, wahrhaft darunter litten. Conflicte gab es, wo man erstaunen mußte, wie ein einziger Mensch, dem der wahre innere Halt des Charakters fehlt, dennoch einen 66 ganzen Lebenskreis verwirren und beschäftigen kann. Zuletzt standen auch endlich die Hülleshovens mit Terschka so allein, daß ein Entweder-Oder sich ihnen als unabweisbar aufdrängen mußte. Terschka, fünfzig Jahre alt, in Fällen, wo sein Benehmen Zeugen hatte, muthig und entschlossen, wo er allein war, hinterlistig, feige sogar oder nur schlau, konnte schon wieder die Hände vor die Augen legen, weinen wie ein Kind und sein Lebensloos beklagen, sodaß die Frauen entweder mit einstimmen oder entfliehen mußten, um sich nur dem magischen Einfluß eines Gauklers zu entziehen, der die besonnensten Menschen bethörte, seine geschworensten Feinde irre machte und, das sah man nun wohl, immer noch Armgart erobern wollte.

Terschka hatte Schulden; der Oberst konnte ihm nicht mehr helfen. Monika schmollte mit ihm tieferbittert, seitdem er, ganz nur wie zum Scherz, die Aeußerung hatte fallen lassen, er würde, wenn es Armgart beföhle, in den Schoos der römischen Kirche zurückkehren. Armgart besuchte zuweilen die Messe in einem zwei Meilen höher hinauf gelegenen katholischen Dorfe. Terschka fing an, sie dorthin zu begleiten. Er wartete dann an der Kirchthür, bis sie zurückkam. Wieder wurde er ihr wie die Schlange, deren Athem den Vogel besinnungslos macht. Ohnehin stand sie hier mit ihrem katholischen Gefühl allein und nun gesellte sich diesem, wie sympathisch ergriffen, Terschka –! Monika sagte ihm seitdem, so oft er sich auf dem Schlosse sehen ließ, mit dem Ton des gebietendsten Ernstes: Terschka, verlassen Sie uns endlich! Der Oberst erklärte in Güte: Terschka, Ihre Rolle ist hier ausgespielt! Reisen Sie mit Gott! Mit leisem, gemüthlichem Ton konnte er dann seufzen: Ich gehe schon! Er ging und kam wieder. Nur einen Augenblick blieb er dann, schwieg und warf beim Gehen einen Blick des tiefsten Schmerzes auf Armgart. Nicht lange währte es, so kniete er hinter ihr in der Messe des kleinen Kirchleins 67 im Gebirge. Armgart erhob sich dann, sprach nicht beim Verlassen des Gottesdienstes mit ihm und wich ihm für den Heimweg aus, aber sie sammelte nur mühsam die Kraft dazu, wankte, wenn er sich ihr näherte, suchte zu entfliehen und konnte nicht von der Stelle. Alles, alles, als wär' er durch sie und um ihretwillen im Begriff, wieder Katholik zu werden und als wär' er es schon längst geworden, wenn er nur sicher gewußt hätte, ob er in diesem Fall seines Priestergelübdes entbunden würde. Er behauptete, deshalb in Genf alle Bibliotheken nachzuschlagen.

So überraschte er Armgart einst auf ihrem Zimmer. Seine Jahre verwünschend, nannte er die Empfindungen, die ihn beherrschten, wahnsinnig, dennoch erklärte er, gewisse Namen, die gerade damals als Armgart's Bewerber genannt wurden, tödten zu können; er drohte sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und hoffte bei solchen Worten nur, durch Armgart's Erklärung, daß sie ihn für jung, lebensberechtigt und ihrer endlichen Erhörung für vollkommen würdig halte, aufgerichtet zu werden. In wilder Hast ergriff er ein an der Wand hängendes Crucifix, küßte es mit leidenschaftlicher Inbrunst und bat dem »heiligen Holze«, wie er es nannte, mit lauter Stimme ab, was seither von ihm ruchlos am katholischen Glauben verbrochen worden. Seinen Priesterstand würde er nicht zu erneuern brauchen, sagte er – weil er ihn ja ewig geschändet hätte. Alles das kam mit einer Wahrheit von seinen Lippen, als machte er im Al Gesù eine jener rhetorischen Uebungen durch, wo sich der Sprecher in einer von ihm geschilderten Situation wie ein Schauspieler verlieren muß.

Armgart stand am Fenster und zitterte. Terschka sprach, als wäre sie nicht anwesend. Laut recitirte er eine Litanei an die allerseligste Jungfrau. Er kniete nieder, um sein Gelübde auszusprechen, in den Schoos der von ihm verlassenen Kirche 68 zurückzukehren, auch wenn ihm, dem Leviten, nie wieder Vergebung zu Theil werden würde. Engel würden dann für ihn die Hände erheben und vielleicht eine besonders begnadete Seele ihn im Jenseits rettend in ihren Schoos nehmen.

Ohne Zweifel erwartete Terschka, daß Armgart ihn emporziehen, irgend mit ihm einen Ausweg aus dem Labyrinth seiner Verhältnisse bereden würde. Aber so sehr sich in ihr die alten Stimmungen des Selbstopfers, die Seligkeiten des gebundenen Willens regten, die Jugendzeit mit ihren Schwärmereien war vorüber. Mit einem verachtenden Ausdruck ihrer Augen, der den unverkennbarsten ewigen Bruch zwischen ihr und Terschka verrieth, rief sie: Nein! Nein! Nein! ließ ihn auf dem Teppich vor ihrem kleinen Hausaltar liegen und entfloh aus dem Zimmer.

Da begegnete ihr der Vater, sah ihre Aufregung, traf Terschka, noch mit dem Crucifix, das er unaufhörlich küßte, in der Hand, schleuderte ihm einige Verwünschungen zu und wies ihm die Thür.

Terschka erhob sich von der Erde, auf der er gekniet hatte, schwankte eine Weile, taumelte unentschlossen, maß den Obersten, halb als ob er an seinem Halse sich ausweinen, halb – als ob er ihn tödten wollte. Und als dieser wiederholt rief: Sie sind ein unverbesserlicher Abenteurer! Man weiß alles von Ihnen! Sie sind unter Räubern erzogen. Sie sind ein Kunstreiter – noch haben Sie nicht aufgehört den Jesuiten zu dienen! Die Brüder Bandiera sind durch Sie verrathen worden – durch einen gewissen Jean Picard – ha, kennen Sie den Namen –? – da erblaßte Terschka, erhob sich lautlos und verschwand.

Allgemein glaubte man, er säße in Genf im Schuldgefängniß. Seine Sucht, sich in den vornehmsten Kreisen zu bewegen, Cavalier zu sein, Matador der Gesellschaft, hatte ihn in nicht endende Verlegenheiten gestürzt. Nach und nach aber verbreiteten 69 sich Gerüchte, er wäre in den Canton Freiburg gegangen und hätte sich dort reuig in das dortige, damals allgewaltige Collegium der Jesuiten zurückbegeben. Die Strafen, die ihn in diesem Fall dort erwarteten, mußten, wenn er nicht schon früher Verzeihung gefunden, furchtbare sein – deshalb wurde auch von andern die Möglichkeit eines so gewagten Entschlusses bezweifelt.

Auf Schloß Bex stellte sich der Friede wieder her und die Gegensätze versöhnten sich in der einstimmigen Verwerfung eines sittlich Haltungslosen, an den man Milde, Langmuth, Wohlthaten vergebens verschwendet hätte. Die Schulden, die Terschka beim Obersten nicht getilgt hatte, konnten als Vorwand dienen, in Freiburg nach ihm Erkundigungen einzuziehen. Man gab dort eine kaltausweichende Antwort. Der Uebermuth der im Steigen begriffenen klerikalen Partei hatte gerade damals, in der von Bürgerkämpfen zerrissenen Schweiz, den höchsten Grad erreicht.

Aber nur noch eine kurze Weile und es schlug die Stunde einer großen Bewegung. Jener dreifachgekrönte arme leidende Mann mit dem tücherumwundenen Antlitz hatte auf dem apostolischen Stuhl seinen letzten Seufzer ausgehaucht, wie ihn die Stellvertreter Christi aushauchen – einsam, verlassen, in den schauerlich öden Marmorsälen des Vaticans ein dem Reiz nach dem Neuen allzulang verweilender Gast! Draußen eine unruhige, großer Umänderungen harrende Bevölkerung, welche die neue Bescherung, das beginnende Conclave und den Namen und die Person eines neuen Trägers der Himmelsschlüssel fieberhaft erwartet. Der Sterbende ist dann nur noch eine leere Hülse. Nur noch einige geringe Würdenträger bleiben bei ihm, die auf den Augenblick harren, wo ihnen gewisse Functionen für den Todesfall der Päpste vorgeschrieben sind: das Zerbrechen der Siegel, das Aufbewahren des Fischerrings, das Läutenlassen einer kleinen silbernen Glocke der Peterskirche. Ertönt diese 70 geheimnißvolle Glocke, dann müssen alle Gerichte aufhören, alle Glocken Roms fallen mit schauerlichem Geläute ein; auf allen Tribunalen wird die Feder ausgespritzt und nicht die Trauer, sondern – die Freude beginnt! Armer Stellvertreter des Gottessohns! Nun verlassen dich die Deinen, die sonst vor dir knieten! Nun eilen sie sich, ihre gesammelten Schätze in Sicherheit zu bringen! Nun schleichen sie schon von deinem Sterbebett hinweg, noch ehe du ganz erkaltet bist! Noch einmal tastet dein erstarrter Arm nach einem Glockenzug, du jammerst um einen Labetrunk Wassers und niemand will kommen, dir deine verschmachtenden Lippen zu benetzen! Wo sind sie, die Köche, die Haushofmeister, die Frauen deines Barbiers, des Allmächtigen, den du zum Camerlengo erhoben hattest? Sie sind beim Packen ihrer Papiere, bergen ihr Gold, ihr Silber. Sowie das Auge ihres Herrn gebrochen ist, verweist sie sofort die jahrtausendjährige Regel aus dem Bereich der neuzulüftenden und frisch zu reinigenden Gemächer des Nachfolgers. Das ist der Brauch, der nach Rom von Byzanz herübergekommen zu sein scheint – im Orient ist der Tod das Gesetz, das sich auch auf die Umgebungen eines sterbenden Sultans erstreckt. Sogar seinem Arzt sieht der sterbende Herr der Kirche an, daß ihn der Unmuth drückt um den Verlust seiner Stelle – diese alten Cardinäle haben seit Jahren schon ihr Leben auf eigene Art eingerichtet und nichts verpflichtet sie, das Privatleben ihres Vorgängers fortzusetzen oder zu ehren. Nicht die jugendliche Sorglosigkeit eines gebornen Erben nimmt Besitz vom Throne. nicht die Pietät eines Verwandten, eines Bruders für einen Bruder, eines Neffen für seinen Onkel, sondern ein fremder Greis folgt einem fremden Greise, die langjährige Verwöhnung eines Hagestolzen und die vollkommen schon hartnäckig eingewurzelte Lebensart eines Cardinals den Gewohnheiten und Launen eines dahingegangenen andern.

71 Neun Tage währt dann äußerlich Klage und Trauer, aber im Stillen läuft und flüstert die Neugier und Intrigue von Haus zu Haus. Wer wird der Nachfolger sein? Kuriere kommen und gehen, die Diplomatie hält Besprechungen, Parteien bilden sich, Stimmen werden gezählt, die Frauen werben und stiften Versöhnungen, alte Cardinäle vergessen, daß die Aerzte sie längst aufgaben, sie werden jung, haben keine Gicht und keine Wassersucht mehr, die Frivolen werden fromm, die Frommen weltlich. Welche Gedanken würden sichtbar werden, wenn diesen Cardinälen (siebzig sollen es sein – nach der Zahl der Aeltesten der Stämme Israels) die im St.-Peter die Messe um Erlangung des Heiligen Geistes für die Neuwahl hören, die Decke der demüthig gesenkten Häupter gelüftet würde! Nun ziehen sie feierlich in den Quirinal und finden da die wunderlichsten Holzverschläge für sich hergerichtet. Schon haben tagelang die Maurer alle Thore des Palastes außer einem einzigen vermauert, schon sind mindestens zweihundert Fenster in ihren Fugen mit Kalk und Mörtel verstrichen. Die vierzig oder funfzig anwesenden Wähler leben ohne frische Luft, wie ebenso viel Mönche, und von der Welt so lange abgesperrt, bis der Geist der Erleuchtung zum Siege, zur richtigen Stimmenzahl verholfen hat. Sie leben in schnellgezimmerten, auf die langen Corridore verpflanzten Zellen, die aussehen, wie Meßbuden. Jede hat ein kleines Fenster auf den Corridor. Die unbequeme Lage ist peinlich und unterstützt die Neigung, einig zu werden. Haß und Abneigung schwinden mit dem Druck der Entbehrungen. Fefelotti's Pracht und Bequemlichkeitsliebe, eingesperrt in einen solchen weihnachtlichen Hirtenstall! Fefelotti ohne die Hülfsmittel – nur allein seiner Toilette! Der einzige Cardinal Vincente Ambrosi und einige Ordensgenerale mochten wenig den Unterschied von ihrer gewohnten Lebensweise spüren.

An dem Hauptthor, gegenüber den Rossen des Monte-Cavallo, 72 sind vier Oeffnungen mit Drehrädern angebracht, durch welche die Speisen eingeschoben werden. Die Massen des Tag und Nacht ringslagernden Volkes sehen es wohl – Fefelotti entbehrt kein einziges seiner Leibgerichte; die verdeckte Tragbahre verbreitet den köstlichsten Duft. Aber der seither Allmächtige muß sich gefallen lassen, daß ein mit der polizeilichen Controle des Conclaves seit Jahrhunderten betrauter Fürst Chigi jede Pastete mit eigener Hand aufschneidet und sich überzeugt, ob sie im Füllsel nichts Geschriebenes enthält, keinen Brief vom Staatskanzler des Kaisers von Oesterreich, keine Mahnung aus Frankreich oder Spanien, kein Billet einer Verehrerin, die auf dem Corso Francesco angstklopfenden Herzens wohnt und Mittel und Wege sucht, mit den heiligen Holzverschlägen in Verbindung zu bleiben und die Stimmen zu addiren, ja von außen her den Cardinalbischof von Ostia mit dem Cardinalgeneral der Kapuziner, den Cardinaldiakon der Santa-Maria in Via Lata mit dem Cardinalpriester von Santa-Maria della Pace zu versöhnen. Hülfe, Hülfe – durch die fremden, noch nicht angekommenen Cardinäle! schrieb Fefelotti in einer mit Gräfin Sarzana verabredeten Chiffreschrift, die aus Compotkirschkernen, Geflügelknöchelchen und andern Resten seiner Mahlzeit bestand. Die Antworten ertheilte ihm die Gräfin und manche andere seiner Angehörigen unter der Etikette jener Weine, die ihm nicht vorenthalten werden durften. Fürst Chigi betrachtete jede Flasche am Lichte, ob sich nicht im Burgunder vielleicht unterm Kork ein verdächtiges Telegramm befand – die Etiketten abzureißen unterließ sein Mitleid mit einem Manne, der doch nicht einerlei Wein genießen konnte und ohne Etikette vielleicht die Sorten verwechselte.

Anfänglich hatte der gottselige, heiligstrenge Sinn des Hüters der Katakomben und Reliquien, des Cardinals Vincente Ambrosi, des geheimnißvollen Flüchtlings vor dem Eremiten von Castellungo, 73 des Beichtvaters der kleinen Olympia Maldachini, des Gefangenen im Kerker des heiligen Bartholomäus von Saluzzo und des dem Erzbischof von Coni seit sieben Jahren innigstverbundenen Freundes die allermeisten Hoffnungen. Aber eigenthümlich, wie selbst die Frommsten und Trefflichsten unter den heiligen Wählern nicht ganz der Meinung leben, daß der zu Wählende ein durchgreifender Reformator sein müsse. Man wollte denen, die nur einen politischen Kopf, einen Lenker des Kirchenstaats, einen Politiker im Geist der Cabinete Neapels und Modenas begehrten, ebenso wenig das Feld einräumen, wie einer kleinen Anzahl, welche überzeugt war, es müßte ein Freund der neuen politischen Ideen, der Hoffnungen Italiens gewählt werden. Die Verwirrung wurde die größte. Darin aber waren alle, jetzt wie immer, einig, daß der Stellvertreter Christi ein Mittelwesen zwischen Hart und Weich, zwischen Strenge und Milde sein müßte – Nicht zu heilig und nicht zu weltlich –! Nil humani a me alienum! war die Losung. Fefelotti täuschte sich indessen gründlich. Bei jedem Scrutinium schmolz seine Stimmenzahl. Auf die besten Freunde war kein Verlaß mehr. Fefelotti legte sich ins Bett, um durch Abwesenheit zu schrecken; dann, als auch dies Mittel fehl schlug, erklärte er sich für in Wahrheit krank, so krank, daß man ihn nach Hause tragen sollte – nach der Praxis früherer Wahlen war dies eine erwägenswerthere Empfehlung – denn um so schneller machte er einem Nachfolger Platz. Vergebens – Die Cardinäle lachten – Fefelotti regierte draußen die katholische Christenheit, aber nicht mehr fünf Stimmen im Conclave und er bedurfte zwei Drittel aller Stimmen!

Seit sieben Jahren war Cardinal Vincente Ambrosi aus seiner früher im Mönchsgewand so passiven Rolle mit überraschender Energie herausgetreten. Er hatte die Hoffnungen aller seiner Protectoren getäuscht. Schon vor sieben Jahren hatte der 74 junge Cardinal mit Entschiedenheit Bonaventura's Partei genommen und diesem kurz vor Lucindens Einsegnung in der Apostelkirche mit unverhohlener Freude die Botschaft einer Genugthuung gebracht, die ihm der Heilige Vater mit Einsetzung auf Fefelotti's verlassenen Hirtensitz geschenkt. Ambrosi, nun schon graulockig, aber immer noch der »Ganymed unter den Cardinälen« genannt, trat bei allen Gelegenheiten hervor, wo irgendein Misbrauch abgestellt oder wenigstens öffentlich gerügt wurde. Er sowol wie der Erzbischof von Coni, dann ein neuer General der Dominicaner, auch der General der Theatiner und mehrere erste Pfarrer Roms, galten für muthige Kämpfer gegen die Herrschaft der Jesuiten. Nachdem dann noch selbst Cardinal Ceccone gegen sie gestritten hatte, war mit Fefelotti Schule, Haus, Kirche, diesseitiges und jenseitiges Leben dem Al Gesù gebunden in die Hände gegeben worden. Man trug zwar ruhig, man beugte sich dem Joch Fefelotti's, das schwerer noch drückte, als das Ceccone's; im Conclave aber hörte plötzlich alle Verstellung auf. Da zitterten die Mächtigen, da erhoben sich die Schwachen. Nehmt Ambrosi – oder mich! donnerte der lange weißbärtige, kahlköpfige General der Kapuziner, ein mit kaustischem Witz begabter Greis. Sich selbst zu empfehlen, seine eigenen Tugenden zu prüfen ist im Conclave durchaus erlaubt. Das wispert dann nachts auf den langen Corridoren. Da schleichen die schlaflosen Greise von Thür zu Thür; da wird geflüstert und hoch und theuer geschworen und Vortheile werden versprochen und die Stimmen schon für künftige Aemter und Einnahmen ver- und erkauft. Ambrosi hatte bereits zwanzig Stimmen und bot sie dem General der Kapuziner. Darüber gerieth das Conclave in Entsetzen. Der? hieß es. Ein neuer Sixtus V., der Rädern und Köpfen zur Tagesordnung macht! Nimmermehr! scholl es durch die Breterwände und verdrießlich 75 legte sich nun auch dieser Alte ins Bett und brummte: Wählt wen ihr wollt!

Als er sich in sein Schicksal gefunden hatte, pochte der General der Dominicaner, der naturgemäß die Jesuiten über alles haßte, an seine Thür und bat: Bruder, wollt Ihr denn das Feld verlassen? Wählen wir doch wenigstens einen, der uns vom Al Gesù befreit! Der alte Kapuziner erwiderte: Ihr seht ja, wie sie ihm alle verkauft sind! Aber Ihr habt Recht! Wollen wir nicht ganz erliegen, schlagt eine Tabula rasa vor, einen Menschen, von dem bisher nichts gesprochen wurde! Einen Menschen. der unter uns ist und den niemand kennt! Geht alle Namen durch und von wem Ihr nicht wißt, ob er Jesuit oder Carbonaro oder Theologe oder Heide ist, den ruft durch Inspiration aus! Das Ausrufen durch Inspiration ist eine eigenthümliche Wahlmethode; mitten im Debattiren, Beten, Singen springt plötzlich ein Inspirirter auf und ruft: N. N. soll es sein! Diese an Luft, Bewegung, ihre häusliche Ordnung gewöhnten Greise sind durch ihr gefangenes Beisammenleben und die stete Spannung dann so nervenerregt, daß solche Rufe zuweilen Erfolg haben und unter Scenen krankhafter Verzückung Wahlen durch Acclamation zu Stande kommen.

Der Kapuziner kannte selbst keine solche Tabula rasa. Aber General Lanfranco kannte eine. Es gab einen der jüngern Cardinäle, der während aller dieser nun schon mehrtägigen Kämpfe der eingesperrten Priester wenig gesprochen hatte und als Erzbischof aus der Provinz den meisten unbekannt geblieben war. Jeder dieser Gepurpurten hatte schon eine lange Chronik seines Lebens, der heilige Cardinal der Katakomben die allbekannteste. Von diesem aber wußte man nur, daß er einem Grafengeschlechte in einer kleinen Stadt an der nördlichen Meeresküste, dem Schauplatz der Thaten Grizzifalcone's, angehörte, in seiner Jugend 76 an dem Uebel der fallenden Sucht gelitten hatte, darum sowol vom Eintritt bei der päpstlichen Nobelgarde, wie anfangs vom Priesterstande abgewiesen wurde, dann in die besondere Pflege vornehmer Frauen gerieth und durch deren Betrieb endlich auch zum Priesteramte zugelassen wurde. Durch das Gebet der Fürstin Colonna verlor er jene Krankheit. Vollends verlor er sie durch eine Seereise, eine Reise nach Amerika. Zurückgekehrt erklomm er eine Würde nach der andern und um Rom hatte er sich als Erzbischof von Spoleto das besondere Verdienst erworben, daß er einen Revolutionshaufen unter Anführung Louis Napoleon's durch Zahlung von 6000 Scudi an den Freund desselben, Sebregondi, von seinem Marsch auf Rom zurückgehalten haben sollte.1831.

Der Erwählte fiel in Ohnmacht, als auf begeisterte Empfehlung Ambrosi's und der beiden Generale aus dem Scrutinium mit der vollen Stimmenzahl sein Name hervorging. Beinahe hätte sich gezeigt, daß das Gebet der Fürstin Colonna und die Seereise noch nicht die volle Wirkung erlangt hatten. Alle mußte es rühren, daß, nachdem man sich zugeflüstert hatte, in der ewigen Stadt wäre einst ein Jüngling verzweifelnd am Strande der Tiber auf- und niedergegangen in der Absicht sich in die Wogen zu stürzen (Militär und Klerus hatten ihn um sein bemitleidenswerthes Körperleiden abgewiesen), nun ihm das Schicksal in dieser selben Stadt die dreifache Krone auf sein Haupt hob! Der Erwählte erholte sich in den Armen Ambrosi's und der Ordensgenerale; man legte ihm die Kleider seiner neuen Würde an und nannte ihn der Welt und zeigte ihn den Völkern.

Dem Stuhl Petri, sagt man, naht sein Verhängniß. Diesmal erst hatte ihn ein Anhänger jener Partei bestiegen, welche 77 damals in Bertinazzi's Loge vom Kohlenbrenner – es war Pater Ventura – die der Phantasten genannt wurde. Durch den Patriarchen von Rom sollte vorerst nur Italien erlöst und die katholische Christenheit über das allen Völkern ihre Freiheit raubende Wirken der Jesuiten beruhigt werden. Liebenswürdig ist der Eindruck jedes guten und gläubigen Willens. Wie im rosigen Lichte schwimmt noch jede auf ihn gesetzte Hoffnung. Will sie scheitern, so müht sich die edle Absicht, ihr den Sieg zu erleichtern, wirft aus dem zu schweren Fahrzeug Ballast über Ballast, will nur das Glück, nur den Erfolg, nur den Sieg, den ewigen Sonnenschein. Umrauscht vom jauchzenden Zuruf der Völker hebt sich dann die Brust und wagt und wagt und wofür sonst jeder Wille gefehlt haben würde, es wird doch vollzogen; Vertrauen heißt die Hand, welche den Zagenden weiter und weiter führt; schon kann er das Läuten der Glocken, die Freudenfeuer, die donnernden Salven der Geschütze, das tausendstimmige Hoch der Liebe nicht mehr entbehren. Der neue Zauberer vollzog das Verhängniß eines Wunderthäters von größerer Macht, der über die Geschicke der Menschen thront. In der That brachte nach Italien die erste Botschaft vom Evangelium der Freiheit – ein Papst!

Doch es war und blieb – eine phantastische Wahl! Ein junger Student, ein Graf, ein neugekleideter Priester hatte einst auf dem Marktplatz zu Sinigaglia nachts seine Predigten gehalten, unter freiem Sternenhimmel, umgeben von erleuchteten, mit Tausenden von Menschen geschmückten Fenstern, an einem improvisirten Altar, auf welchem im Augenblick, wo in poetischen Bildern von seinem beredten Munde das Fegfeuer geschildert wurde, eine große Schale von Spiritus angezündet wurde, sodaß die blaue Flamme hoch aufschlug und den Platz, die Fenster, 78 das Antlitz aller Hörer geisterhaft beleuchtete.Préliminaires de la Question Romaine. London 1860. Nun aber schlugen andere Flammen auf! Es wurden die Kerker geöffnet, die Verbannten zurückgerufen. Bertinazzi hatte bis dahin auf der Engelsburg geschmachtet; er wurde im Triumph durch die Straßen gezogen. Die wenigen, die sich damals, als Benno gefangen genommen wurde, durch eine Versenkung retteten – Graf Sarzana hatte zu ihnen gehört, Benno hatte sich in dem Leichenbruder nicht geirrt – waren größtentheils nach England geflüchtet und kehrten nun zurück. Auch Sarzana, der, wie man sagte, »aus Misverständniß« der Mörder Ceccone's geworden, kehrte heim – Benno dachte oft an sein stilles Tibergespräch mit dem Unheimlichen »über die misverständlichen Morde zur Cholerazeit«! Die Herzogin von Amarillas, die Fürstin Rucca, auch Cäsar Montalto kamen von London. Rom war überfüllt mit Fremden, mit Flüchtlingen, Enthusiasten. Die Freudenbezeugungen, die Feste, die Ovationen nahmen kein Ende. Waren es – – die Theaterflammen vom Markte zu Sinigaglia –?

Anfangs machten sich die Ereignisse von selbst. Es gibt Zeiten, die ohne Hinzuthun von Menschenwitz nur die großartigen Additionen der Vergangenheit sind. Das Anathem, das über so vieles bisher geschleudert worden, wurde ihm jetzt von selbst zum Segen. Nicht blos die Eisenbahnen wurden vom Bann der Gottlosigkeit, der auf ihnen ruhen sollte, befreit, nicht blos die von Rom als Teufelswerk verworfene Gasbeleuchtung; nicht blos die »materiellen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts«, wie Thiebold mit Satisfaction sagte, wurden anerkannt. Pater Ventura – General der Theatiner – predigte und entflammte das Volk auf offener Straße mit noch viel weiter greifenden Aufklärungen über die neue Zeit. Im Coliseum, wie Klingsohr 79 einst verlangt hatte, sprach Ventura's flammende Beredsamkeit und erläuterte den Römern, was noch fast ihrer geringen Bildung zu begreifen versagt war. Ein Fuhrmann aus Trastevere, Brunetti, der jene Schenke liebte, wo Benno damals den Orvieto getrunken, ein Freund des Wirths, dessen Weinkeller mit dem Keller Bertinazzi's in Verbindung stand und der damals die Flucht eines Theils der Verschworenen ermöglichte, Retter des »Kohlenbrenners«, des Grafen Terenzio Mamiani, des Advocaten Pietro Renzi, die alle bei Bertinazzi zum »Jungen Italien« geschworen hatten, schwang sich auf seinen zweiräderigen Karren und wurde ein so beliebter Volksredner, daß sein Ruf als »kleiner Cicero« (Ciceruacchio) durch die Welt erscholl. Freisinnige innere Reformen wurden versucht. Der alte Rucca, ohnehin bestürzt über die Rückkehr seiner Schwiegertochter aus London, wo sie fast das ganze Vermögen ihres Onkels, des Cardinals, vergeudet hatte, verlor die Pacht der Zölle, die ihm Fefelotti bereits für den ganzen Kirchenstaat verschafft hatte. Der Schrecken und der Widerspruch der Cardinäle, die Besorgniß der Gesandten wurde durch vorsichtige Allocutionen niedergehalten. Die Amnestie fand ihre unbeschränkte Ausführung. Aus Beethoven's »Fidelio« kennt ihr jene rührenden Züge von Staatsgefangenen – zerlumpt, verhungert, hohläugig, gingen ganze Scharen so aus den überfüllten Kerkern hervor! Das Volk holte sie im Triumph ab, hob sie auf Wagen, schmückte und bekränzte sie. Bürgerwachen wurden gebildet. Ja eine Aussicht auf eine Repräsentativverfassung zeigte sich, als eines Morgens ein Decret die Vorstände der Provinzen aufforderte, Männer des öffentlichen Vertrauens zu bezeichnen, die in den nothwendigen Reformen des Kirchenstaats durch Rath und That die Regierung unterstützen sollten. Die Bewegung griff weiter und weiter. In der That bewährte sich, wie noch die Welt durch Rom getragen und regiert wird.

80 Mit dem, wie sonst im Schlechten, so hier im Guten sich gleichbleibenden Zauber Roms griff die Bewegung über Italien hinaus, stürzte den Julithron, rief in Frankreich die Republik hervor, brach die Knechtschaft Deutschlands, verjagte den Staatskanzler, entfesselte alle Völker, die in unnatürlicher Zusammenkoppelung zu dynastischen Zwecken mit Aufgebung ihrer eigenen Nationalität um so weniger länger leben mochten, als gerade die zunehmende Förderung der Volksbildung an nichts anderes zunächst angeknüpft hatte, als an die Erhebung des Sinns für Sprache, Geschichte, eigenthümliche Volkslebensart. Auch Dalschefski und der nunmehr ganz zusammengegangene, mumienhaft vertrocknete Luigi Biancchi kamen vom Spielberg herunter und Resi Kuchelmeister weinte in ihren Armen. Auch sie gingen nach Rom, wo aus London Marco Biancchi eintraf – Napoleone blieb bei seinen Gipsfiguren, bei seiner Giuseppina, seinen Kindern und seinen Ersparnissen in Deutschland und ohnehin war er mit seiner Tochter Porzia Hedemann gespannt. Sie hatte sich nicht bereit finden lassen, in Witoborn ein Depot für seine Heiligen zu übernehmen.

Da aber bangte dem nächtlichen Schwärmer vom Marktplatz zu Sinigaglia. Die blaue Theaterflamme war ihm wider Willen zu einem Fegfeuer schon hienieden für Gut und Böse geworden. Größer und größer wurde der Druck der Mahnungen von Fürsten und Staatsmännern auf den Träger der dreifachen Krone. Immer weiter griff der Zwiespalt im geheimen Consistorium. Fefelotti, das Al Gesù, dessen Bewohner sich beim ersten Anbruch der großen Veränderungen geflüchtet hatten (die jesuitischen Rundhüte sind seitdem ganz in Italien abgeschafft und eckige geworden wie die Hüte aller andern Priester), alle Vertreter des geistigen und weltlichen Despotismus suchten den dreifach gekrönten Schwärmer zur Besinnung zu bringen. In der That stutzte er. Seine 81 Sonne war zu sehr nur die äußere Acclamation gewesen. Diese blieb schon zuweilen aus; schon schwieg zuweilen der tausendstimmige Mund des Volks bei seinen Segnungen und solche Kränkungen wurzeln im Gemüth eines Mannes, der, wie alle Italiener, den Beifall liebt. Schon schmollte er zuweilen. Er fand Freunde und Freundinnen, die sein Schmollen für gerecht nahmen. Noch nannte er seine Erfahrungen die gewöhnlichen Belohnungen des Undanks. Mit der Zeit vergrößerte sich die Zahl derjenigen, die mit ihm nicht gern in der Minorität stehen wollten. Endlich sollte gar sein kleines Heer zu den Kämpfern stoßen, welche Oesterreich gegenüber mit den Waffen behaupten wollten, was bisher nur in Liedern gesungen, in Declamationen gesprochen worden. Da fing die Hand, welche die Fahnen zum Unabhängigkeitskriege segnen sollte, zu zittern an. Die Zeit der Dictatoren, der Consuln und Tribunen Roms mit dem ganzen Gefolge der Demüthigungen des geistlichen Primats schien im Anzuge. Nun rief der Heilige Vater vom Balcon des Quirinal herab: »Gewisse Rufe, die nicht vom Volke, sondern von wenigen herrühren, kann ich, darf ich, will ich nicht hören!«

Es sanken die Fahnen der Erhebung Italiens gegen Oesterreich; die von Sardinien erhobenen Banner mit dem weißen Malteserkreuz zersplitterten; das »Schwert Italiens« brach in Stücke. Das hatt' ich nimmermehr gewollt! erklärte der Zauberer aller dieser Stürme; Prospero, der Beherrscher der Winde, ging zum Sieger über. Er dachte noch nicht wieder an Fefelotti, den er haßte; noch bot eine starke Hand, die den Nachen Petri retten sollte, Pellegrino Rossi. Als aber auch dieser vom Dolch eines Mörders durchbohrt, der Vatican von einer Revolution belagert worden, Kugeln in die Gemächer des Stellvertreters Christi flogen – da verkleidete sich der Ueberwundene in 82 den Diener eines deutschen Grafen, täuschte seine Wächter und überließ die ewige Stadt ihrem Verhängniß, den Siegern, den Bertinazzis, Venturas, Sarzanas, allen denen, welche einst auf Crucifix, Todtenkopf und Rosenkranz geschworen hatten für eine Sache, der sie jetzt auf dem Capitol als Rächer saßen – Sarzana, das wußte jetzt alle Welt, hatte an Ceccone die geheiligte Rache eines Italieners geübt.

Rom war eine Republik geworden und stand unter dem Bann der kirchlichen Excommunication. Die Stadt selbst kümmerte die Ungnade des Himmels wenig; in einem mit Priestern und Mönchen überfüllten Lande fanden sich Hände genug. um die nothwendigsten Sakramente zu ertheilen. Das »Schwert Italiens« rüstete sich am Fuß der Alpen zu einem zweiten Gange. Viele Flüchtlinge der Staaten, wo die frühere Ordnung schon wiederhergestellt war, strömten nach Rom. Cäsar von Montalto – nach manchem bittern Seelenkampfe durchaus Italiener geworden – und schon mit ergrauendem Haar, fehlte nicht unter denen, deren Namen bei Wahlversammlungen und Ehrenämtern ruhmvoll auftauchten.

Alles das verlautete nach und nach bis zum Genfersee – dann nach Nizza hin, wohin man von Schloß Bex in der That übersiedelte. Monika hätte sich anfangs selbst in diese Bewegung stürzen mögen. Denn so vieles sah sie, was, bei aller Uebereinstimmung, doch noch, nach ihrer Meinung, anders, besonnener, vorsichtiger hätte unternommen werden können. Jener Trieb, der 1793 eine Manon Roland in den Rath der Männer und auch aufs Schaffot führte, regt sich in großen Krisen bei jeder Frau von Geist – und keine große Begebenheit der Geschichte ist ohne die Mitwirkung der Frauen geblieben. Aber die Besorgniß der Gatten, die Rücksicht auf den dahinsiechenden Hedemann, die Gewöhnung an die biblischen Auffassungen der Ergebung in den Rathschluß Gottes hinderten die Ausführung der sich anfangs 83 wirr durchkreuzenden Entschlüsse, die zuletzt nur am Ziel einer Entäußerung des Schlosses Bex anlangten.

Als die Franzosen der Republik gegen die Republik Rom zogen, sah die Familie von Nizzas Molo aus die leuchtenden Segel ihrer Flotte. Nizzas mildes Klima war für den Winter dem leidenden Freunde von einigem Nutzen gewesen. Der Oberst und Monika verschlangen die Zeitungen des Café Royal. Armgart hatte sich dem Zeichnen und Malen ergeben und hörte aus der Welt nur das Allernothwendigste. Sie wohnten in einem Gartenhause, nicht weit vom Ufer des Meeres. Tag und Nacht vernahmen sie den gleichmäßigen Schlag der Wogen an das Gemäuer der Meerterrasse. Hier gab es keinen Winter. Selbst im Januar konnte Armgart im Freien, unter dem immergrünen Laub von Lebenseichen ihre kleinen Landschaftsskizzen ausführen, während Erdmuthe, Porzia's Kind, um sie her auf den mit zerbröckeltem Marmorkalk bestreuten Wegen zwischen den buchsbaumumfriedigten Beeten des kleinen Ziergartens sich tummelte. Armgart hörte, daß in Rom drei Männer das Heft in Händen hielten, Terschka's früherer Beschützer, nach dem Untergang der Bandiera sein entschiedenster Gegner Giuseppe Mazzini, mit ihm Saffi und Armellini. Graf Sarzana befehligte einen Theil des Heers. Oft wurde Cäsar Montalto genannt – einmal als Befehlshaber einer Truppenabtheilung, die in den Umgebungen Porto d'Ascolis eine Gegenrevolution unterdrückte; die Räuberelemente wurden noch immer benutzt, um den gestürzten Machthabern als Anhalt zu dienen und an andern Orten wurde, eine Veranstaltung derselben Intrigue, der Fanatismus bis zur Schreckensherrschaft gesteigert – Opfer über Opfer fielen dann unter den Dolchen dieser Wahnsinniggemachten oder Erkauften! Alles das waren bekannte Stratageme aus dem geheimen, 84 allerdings nicht geschriebenen, aber praktisch vorhandenen Codex der Monita secreta Loyola's.

In diese Schrecken der aufgeregten Leidenschaft donnerten nun die Kanonen der Belagerung Roms. Die Höhe, bis zu welcher die Bewegung durch Rom gekommen war, sollte selbst in den Augen der französischen Republik aufhören, die sich schon für den Uebergang zum Kaiserreich rüstete. Wir kommen als Freunde! riefen die Abgeordneten der Franzosen – aber Rom antwortete durch eine Rüstung zum Kampf auf Leben und Tod –. Avezzana, Garibaldi, Sarzana befehligten. Der Kampf entbrannte an der Porta San-Pancrazio zu einer Schlacht. Die Römer siegten. Die Franzosen, ohne Enthusiasmus für ihre Aufgabe, zogen sich zurück. Vom Norden kamen die Heersäulen Oesterreichs, vom Süden die des Königs von Neapel. Spanier landeten und die Franzosen erhielten Verstärkung. Vergebens rief das römische Triumvirat: »Ein fester Zug waltet im Herzen des römischen Volkes: der Haß gegen die Priesterherrschaft, unter welcher Form sie auch auftrete, der Widerwille gegen die weltliche Herrschaft der Päpste!«Note an Lesseps vom 16. Mai 1849. Der Kampf entbrannte aufs neue. Die Franzosen nahmen die Villa Pamfili und die Villa Corsini. Garibaldi stürzte sich mit seiner italienischen Legion auf die letztere und ließ sie in Sturm wieder angreifen. Drei Stunden der äußersten Anstrengung und es gelang, die Franzosen von den Wällen zu vertreiben, zwölfhundert Todte bedeckten das Feld; wieder war der Sieg den Belagerten geblieben. Aber die Uebermacht war zu groß; nicht endender Kanonendonner verwirrte die Gemüther; glühende Bomben flogen bei Tag und bei Nacht, die Luft war ein Feuermeer; unter Schrecken, die dem entsetzten Volke dem Weltuntergang gleichzukommen schienen, ließen sich über 85 Rauch und Trümmern die ersten Franzosen in der Stadt sehen. Am 2. Juli empfing Oudinot die Capitulation.

Noch vor diesem Tage, während sich das blutige Schauspiel des untergehenden republikanischen Roms vollzog, hatte sich die Aufregung der Gemüther nicht länger in Nizza beruhigen können. Der Aufenthalt daselbst war ohnehin im Sommer zu widerrathen. Trockene scharfe Winde wehen dann von den Alpen her, die Luft ist heiß, spärlich die Erquickung des Schattens, der kreidige Boden setzt einen dem Athem beschwerlichen beizenden Staub ab – die kleine Colonie suchte sich durch Ausflüge in die Berge zu helfen, suchte die kühleren, von einer üppigen Vegetation geschmückten Schluchten der Cimiés auf – aber das Steigen ermüdete Hedemann. Blieb er auch meist daheim und athmete die Blumendüfte zahlloser Gärten, wo allabendlich Tausende von Orangenblüten frisch gebrochen in die Fabriken künstlicher Duftgewässer getragen werden – alles das, was man von Schönheit und Wohlbehagen als Grund zum Bleiben sich einredete, half zuletzt nichts, um die große Vereinsamung der Gemüther zu verbergen. Nun vollends schrieben Paula und ihr Gatte von Gräfin Erdmuthens zunehmender Schwäche, von einer bedenklichen Erkrankung, bevorstehender Auflösung, vom dringendsten Verlangen der Gräfin, sie noch einmal alle in diesem Leben zu sehen – nun beschloß man, die bisher aufrechterhaltenen Ueberzeugungen über die Schwierigkeit dieser Begegnungen, alle Gründe dieses gegenseitigen langen Vermeidens zu durchbrechen und die Reise zu wagen. Paula wäre von ihrem magnetischen Leben geheilt, hieß es. Was die Nähe des Erzbischofs nicht mehr hervorrief, konnte schwerlich noch der Oberst wecken.

Zu den Beweggründen der Reise gesellte sich ein nicht zu unterdrückendes Interesse für Benno von Asselyn. Bellona's Sichel war in mächtiger Arbeit. Bereits befand sich, wie es hieß, 86 Graf Sarzana unter den Gefallenen. Benno's Schicksal wurde selbst in Paula's Briefen für eine gemeinsame Sorge erklärt. Armgart irrte oft einsam wie die Möve am Meeresstrand. Entsagt ein Frauenherz, so bildet sich mit den Jahren ein Cultus des Gemüths, der unbewußt die Rechte auf sein Verlorenes übertreibt, ja sich sogar das, was nie besessen und genossen worden, doch wie ein wirkliches, ein voll dagewesenes Glück ausmalt.

Und so erklomm denn jetzt die kleine, aus so eigenthümlichen Elementen bestehende Colonie den Col de Tende. Sie alle trugen über die Felsen hinweg eine Welt voll Trauer im Gemüth und doch schienen sie am Nächsten interessirt. An Steinen, an Blumen, am Plaudern des Kindes –! Weiß man, was von den Fähigkeiten unserer Natur mehr zu bewundern, zu – hassen und zu fürchten ist, die schnelle Gewöhnung an Glück oder die schnelle Gewöhnung an Unglück?

Nun ist die Höhe erreicht! Aber der niederwärtsgehende Weg blieb noch unabsehbar bis zu den grünen prangenden Thälern, die erwartet werden durften. Kahle und öde Gesteine ringsum –! Einsame Sennerhütten wechseln mit Holzschuppen, Zufluchtstätten des Wanderers im Wintersturm; mächtige Steine müssen an ihnen die Schindelbedachung gegen die Stürme festhalten. Zwischen Felsen und Wasserstürzen, oft wunderbaren Lichtungen, wo der Blick überrascht bis in die Cottischen Alpen hinüberschweift, zwischen Resten alter Römerbauten und zerbrochenen Schlössern der rauhesten Zeit des Mittelalters hindurch, war dann endlich gegen Mitternacht das Städtchen Limone erreicht.

Hier überraschte die Reisenden Graf Hugo, der die Aufmerksamkeit gehabt hatte, ihnen entgegenzukommen. Er kam ohne Paula. Der alte freundliche, herzliche Ton der Bewillkommnung half sogleich über die lange Reihe von Jahren hinweg, wo man sich nicht gesehen. Armgart und der Graf sahen sich sogar zum 87 ersten male – und staunten einander an. Das ist das Große im Menschen – zwei erdgeborne hülflose Wesen können sich betrachten, wie ein nur einmal in der Welt vorhandenes Schauspiel der Natur und wie eine wundervolle Begebenheit, die so, wie in dieser Erscheinung, nirgend und niemals wiederkehrt!

Nach einer Versicherung des Grafen, daß die Mutter noch einige Tage leben würde, überließen sich die Ermüdeten dem aufgethürmten Maisstroh in einem Wirthshause, das – in Limone! – den Namen führte »Grand Hôtel de l'Europe«!


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