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Lucinde hatte vor Jahren geahnt, daß sie nach einer kurzen glänzenden Periode des Glücks bald wieder in Elend herabsinken würde. Allerdings war dies nach dem Tode Ceccone's für einige Zeit eingetroffen.
Aber wie sie am Tage nach dem Hochzeitsfest Olympiens klug berechnet hatte, sie war wenigstens die rechtmäßige Gräfin Sarzana geblieben und in ihrer Theilnahme an den Demonstrationen der modischen Kirchlichkeit lag für alles, was in zweideutiger Weise ihren Ruf hätte treffen können, eine Versöhnung. Sie war eine Büßerin, trug nur dunkle Farben, senkte ihr ohnehin schon zur Erde sich neigendes Haupt in solchem Grade, daß die jetzt fast Sechsunddreißigjährige einen gekrümmten Rücken bekommen zu haben schien und mit ihren noch immer blitzenden Feueraugen die Menschen, das Leben und die Welt von unten her um so unheimlicher betrachtete.
Jetzt, wo Friede und Ruhe wieder in Rom eingezogen war, hatte sie sogar die Mittel gefunden, eine Art »Kreis« um sich zu ziehen. Die Sorge um einen solchen »Kreis« ist nicht gering; sie ist mit steter Aufregung und mancherlei Aerger verbunden. Sie hatte einen Donnerstag proclamirt, wo ihr Haus allgemein und massenhaft zugänglich sein sollte, während sonst zu 111 ihrem engern Kreise nur wenige »Intimitäten« gehörten. Diese Wiederherstellung war ihr in diesem Herbst und Winter nach vielen Mühen gelungen. Die »Donnerstage« der Gräfin Sarzana waren besucht.
Die Wohnung, die sie innehatte, gehörte dem ältesten Rom des Mittelalters an und lag in der »Straße der Kaufleute«. Hier standen alte Paläste, die den herabgekommenen Geschlechtern der alten Tage gehörten; dunkle, verwitterte Steinmassen, oft im Erdgeschoß und Bodengelaß zu Waarenmagazinen benutzt, umgeben von baufälligen Nachbarhäusern. Es lag ein gewisser Nimbus um diese alterthümlichen Wohnungen und selbst im dritten Stock, den die Gräfin Sarzana bewohnte, war einer dieser Paläste leidlich »anständig«, auch wenn man im Eingang an den Fässern eines großen Kaufmannsgeschäftes vorüber mußte und die Treppen mit Wollsäcken verengt fand, die nach innen auf die oberen Böden gewunden wurden. Darum hatten doch die inneren Gemächer, zumal wenn sie erleuchtet waren, durch Bauart und architektonische Ausschmückung ein beinahe fürstliches Aussehen. An ihren »Donnerstagen« bedienten mehrere Diener in Livree. Für gewöhnlich hatte die Gräfin nur deren zwei. Auch eine Equipage, eine gemiethete, durfte nicht fehlen.
Es war ein Geheimniß, woher die Einnahmen dieser deutschen Dame flossen. Bonaventura, Paula, Graf Hugo hatten ihr oft vergeblich Pensionen angeboten. Ceccone's letzter Wille hatte verlangt, daß sie zeitlebens das kleine Palais bewohnen sollte, wo ihm Graf Sarzana den Tod gegeben. Sie bezog es aber nicht und verwerthete nur die Vergünstigung durch Vermiethung. Als aber Olympia in London selbst nicht mehr mit ihren Einnahmen auskommen konnte, stellte sie die Bedingung, daß Gräfin Sarzana das Palais ihres Onkels entweder selbst bezog oder die Nutznießung an sie, seine Erbin, abtrat. 112 Lucinde zog letzteres vor. Nun, wo ihr jährlich tausend Scudi fehlten, traten die harten Zeiten ein. Ihre »Missionsreisen« wurden ihr zwar bezahlt, sie wohnte in Ordenshäusern, auch hatte sie eine Hülfe, die ihr manchmal in äußersten Fällen beistand – die alte Fürstin Rucca. Nur wurde auch diese vom Herzog Pumpeo so in Anspruch genommen, daß sie Schulden hatte und im Gegentheil dann von Lucinden zu borgen kam. Lucinde nahm in solchen Fällen keinen Anstand, über die Börsen derer zu gebieten, die unter ihren Bekanntschaften reich waren. So bei Frau von Sicking, die auf ihren geistlichen Tendenzreisen oft nach Rom kam und Lucindens Protection begehrte. Trendchen Ley, deren Gatte, Piter Kattendyk, sich nicht nur in die ernste Lebensaufgabe geworfen hatte, Stadt- und Commerzienrath zu werden, sondern sich auch mit der so schmählich von ihm beleidigten Kirche und Religion auszusöhnen (Professor Guido Goldfinger hatte das Geschäft gerettet und schwang sein Scepter über die Hauptbücher mit tyrannischer Gewalt), auch Trendchen Piter Kattendyk ließ ihrer Freundin Gräfin Lucinde Sarzana eine regelmäßige, wenn auch nur kleine Pension auszahlen. Goldfinger hatte diese als Tribut der Familie, desgleichen infolge letzten Willens der selig verblichenen Schwiegermutter Wally Kattendyk, anerkannt und sogar etwas vergrößert unter der ausdrücklichen Bedingung, daß Lucinde in der Peterskirche an einem gewissen Altar für das Haus Kattendyk und die Angehörigen desselben jährlich eine Messe lesen lassen sollte – in der That erstand sie diese Seelenwohlthat wohlfeiler, als von Deutschland aus möglich gewesen wäre.
Alle diese Hülfsmittel würden nicht ausgereicht haben, z. B. dem Andenken des Grafen Sarzana, trotzdem, daß er für die Sache des »Atheismus« gefallen war, auf dem Kirchhof an der Porta Pancrazio ein glänzendes Denkmal zu setzen, im eigenen 113 Wagen zu reisen, einen alten Palazzo in der Strada dei Mercanti zu bewohnen, einen Jour fixe, regelmäßig zwei Bediente und eine Equipage zu halten – wenn nicht Lucinde noch einen Beistand gefunden hätte, welcher der frommen Convertitin seltsamerweise – aus der Türkei kam.
Gräfin Sarzana kannte Italien und wußte, daß dort Speculation nicht schändet. Sollte es auch allmählich herauskommen, daß sie einen Handel mit allerlei kostbaren türkischen Waaren, Shawls, Seidenstoffen, Kleinodien trieb – was that ihr das –! Diese Dinge kamen ihr aus Kleinasien zu, wo in Brussa, an den Abhängen des Olympos, da wo einst im ambrosischen Licht die Götter Homer's gethront, Abdallah Muschir Bei wohnte, ein vornehmer reicher Mann, Renegat und niemand anders, als der ehemalige päpstliche Sporenritter und Oberprocurator Dominicus Nück.
Sie hatte ihn schon vor seiner Beschneidung wiedergesehen. Wir kennen die Schreckensscene, als Ceccone, der ohne Lucindens Plaudereien nicht leben konnte, in einem Cabinet, dessen Thür sich von innen durch Zufallen von selbst verschloß, bei ihr verweilte, Sarzana mit blanker Klinge die Thür sprengte und nach dem Cardinal stach. Als damals Lucinde zu den »Lebendigbegrabenen« floh, ließ sich am Sprachgitter eines Tages ein Fremder melden, der seinen Namen nicht nennen wollte. Ueberall Mord und Verrath fürchtend, wagte sich Lucinde nicht ans Gitter, sondern ließ sich verleugnen. Dieselbe Meldung kam acht Tage später wieder. Als sie dann tiefverschleiert und wie eine Nonne am Gitter erschien und den Mann erkannte, der sie zu sprechen wünschte und den sie zum letzten mal gesehen als einen fast von ihrer eigenen Hand Erhängten, erbebte sie, überflog in schneller Fassung die gegenwärtige Stellung, in welcher sie sich befand, ihre Rücksichten, die Gesinnung, die sie zur Schau tragen 114 sollte, wechselte nur wenige kalte Worte mit ihm und gab sich ganz den Nimbus, der ihr als Gräfin und Fromme gebührte. Bei einer dritten Meldung nahm sie den unheimlichen Besucher nicht an.
Inzwischen blieb sie bei den alten Parzen des Klosters wohnen und sah die wahnsinnige Lucrezia Biancchi in ihren Armen sterben. Jetzt schrieb ihr Nück: Ob sie denn ganz die deutsche Heimat vergessen hätte, ob sie ihn für unwürdig hielte, dem Puppenspieler Weltgeist hinter die Coulissen zu sehen, mit einzublicken in die Gedankenmaschinerie einer großen, stolzen und die Welt verachtenden Seele, wie die ihrige –? Oder ob sie Furcht haben könnte – vor wem? – vor was? – vor sich selbst doch gewiß am wenigsten? Oder wol gar vor ihm –? Er bot ihr, der in so viele Geheimnisse seines Daseins Eingeweihten, ihr, die ihn vor den schrecklichen Folgen der Rache, die Hammaker noch vom Hochgericht herab ausübte, bewahrt hatte, den Mitgebrauch seines Vermögens an, das er, nach einer Trennung von seiner Frau, so weit an sich gebracht hatte, als ihm sein eigen Erworbenes nicht entzogen werden konnte. Zur Ehe nehmen konnte er Lucinden nur dann, wenn beide die Religion wechselten. Auch das schlug er vor. Er schilderte den »schwarzen Falken«, einen Indianerhäuptling voll Tapferkeit, Großmuth, Gerechtigkeitsliebe, der an nichts geglaubt hätte, als an den »großen Geist«. Er erläuterte die Philosophie Buddha's mit wenig Federstrichen. Jedenfalls schlug er nicht den verhaßten »Rückschritt« des Protestantismus, sondern, wenn sie wollte, Islam oder Judenthum vor. Lucinde war damals so unglücklich, daß sie diese Zeilen lange mit Aufmerksamkeit betrachtete. Es war ein Brief ganz in jenen Wendungen, wie sie Nück liebte – Cynismus abwechselnd mit Melancholie. Offen gestand er, daß er sich daheim nicht mehr hätte halten können; zu schlimme 115 Gerüchte hätten ihn verfolgt; ein ruheloser, unsteter Geist irre er jetzt von Stadt zu Stadt und wiche den Menschen aus, die sich vernünftige Wesen dünkten, weil sie wüßten, daß sie einen Kopf, zwei Arme und zwei Beine hätten. Rom, für dessen Macht und Herrlichkeit er sonst seine Vernunft eingesetzt, erschiene ihm eine wüste Einöde. Er müsse sein altes von Hause mitgebrachtes Rom nehmen und es erst über die langweilige Stadt, die er hier anträfe, »überstülpen«, um hier auszuhalten. Nur den ihm geistesverwandten Klingsohr hätte er besucht und von diesem die Empfehlung eines ehemaligen türkischen Priesters, der Christ geworden, erhalten. Um seinerseits umgekehrt vielleicht ein Türke zu werden, lerne er von diesem die türkische Sprache. Er bot Lucinden an, sein Weib zu werden und mit ihm nach Kairo zu ziehen.
Sie antwortete ihm nicht und dann verschwand Nück aus Rom. In Neapel, sie erfuhr es später, vervollkommnete er seine Kenntnisse im Türkischen, ging nach Stambul und von da nach Brussa. Ohne ihr die Kälte nachzutragen, die sie ihm bewiesen hatte, schrieb er Lucinden als Abdallah Muschir Bei. Seine Schilderungen zeigten ihn als leidlich glücklich; er beschrieb seine Einrichtung, den Harem seiner Frauen; – nur bedauerte er, daß er krank und alt wäre. Gerade dies von Erdbeben heimgesuchte, doch über alle Beschreibung schöne Brussa hätte er gewählt, weil die berühmten Schwefelquellen der Stadt »direct aus der Hölle flössen«. Seinen Justinian könne er nun nicht mehr verwerthen und hätte auch nach so langer Advocatenpraxis ein unwiderstehliches Bedürfniß, ehrlich zu sein. Deshalb wollte er – Kaufmann werden, wie sein Schwager Guido Goldfinger, im Orient befleißigte sich der Kaufmannsstand der Ehrlichkeit. An den berühmten Seidenwebereien Brussas betheiligte sich Abdallah Muschir Bei mit Kapitalien.
116 Jetzt antwortete ihm Lucinde und es vergingen seitdem nie sechs Monate, wo nicht über Stambul und Venedig für sie ein Geschenk an kostbaren Stoffen, seidenen oder wollenen, an Teppichen und Shawls, auch an kostbaren Geschmeiden ankam. Da in diesen Briefen jeder seinen Standpunkt beibehielt, so konnte die Correspondenz nicht ohne Reiz bleiben. Abdallah verharrte dabei, daß er Lucinden geliebt hätte, liebe und lieben würde in Ewigkeit. Auch noch jetzt könnte er seinen Sklavinnen nur Geschmack abgewinnen, wenn sie seine Phantasie erst in Lucinden verwandelte. Die Geschenke Abdallah's zurückzuschicken oder abzulehnen war umständlich – Lucinde behielt sie und verkaufte sie gelegentlich, wenn sie in Noth war. Ein einziger Shawl gab ihr dann Mittel auf Monate.
Ihre demnach mit türkischem Geld unterhaltenen »ultramontanen Donnerstage« wurden von allen jenen Menschen besucht, die nach Rom ziehen, wie die Weisen des Morgenlandes nach Bethlehem. Alle Nationen waren hier vertreten. Die süßlächelnden jesuitischen Abbés der Franzosen; die englischen Katakombenwallerinnen, die im feuchtmodernden Tuffstein die anderthalbjahrtausendalten Fußtapfen der Wiseman'schen »Fabiola« suchen; deutsche Künstler, die den Untergang des Geschmacks von Rafael's zu weltlichen Madonnen herleiten und wieder an Giotto anknüpfen; deutsche Gelehrte, welche die gangbaren Geschichtsbücher dahin verbessern, daß sie das Gegentheil dessen, was die deutschen Kaiser erstrebten, als das Richtigere darstellen, die Päpste aber zu allen Zeiten Recht behalten lassen – meist fanatische und nicht selten geistvolle Menschen. Gräfin Sarzana wußte sogar solche unter ihnen zu fesseln, die nicht die Intrigue liebten. Das Deutsche, mit dem sie oft begrüßt wurde, behauptete sie vergessen zu haben; schon lange sprach sie nur Italienisch; sie sprach es mit Feinheit, doch in jenem rauhen, tiefliegenden Ton, der am 117 gewöhnlichen Organ der Italienerinnen den bekannten Wohllaut ihres Gesangs bezweifeln läßt. Ihre Kunst, einen Abend belebt zu machen, niemanden zu lange im Schatten stehen zu lassen, galt für musterhaft. Gelehrte Streitigkeiten duldete sie nur bis zu einem gewissen Grade, der jedoch über den der Oberflächlichkeit vollkommen hinausging. Viel hockte sie unter Büchern, die ihr Klingsohr bis an seinen vor einigen Jahren erfolgten Tod zutrug – die Hektik, die Cigarre und der Orvieto untergruben ihn –; sie lernte unaufhörlich und konnte aus Bibel und Kirchenvätern eine Menge Beispiele für Behauptungen anführen, die den größten Lichtern der Sapienza und des Collegio anregend waren. Ihr Vorsprung war dabei der, daß sie alles Vergangene so nahm, als wär' es gegenwärtig. Die Menschen hatten nach ihrer Auffassung zu allen Zeiten dieselben Schwächen, dieselben Bedürfnisse; die Forderungen der Natur waren sich zu allen Zeiten gleich. »Sonderbar!« sagte sie – »Die Gelehrten sind auf diese Voraussetzung so wenig gerüstet! Für das Natürlichste, für den antiken Gebrauch eines Nasentuches, muß ihnen erst ein Citat aus einem alten Schriftsteller die beruhigende Anlehnung geben!«
Von Klingsohr, dem es gegangen, wie den deutschen Lanzknechten im Mittelalter, wenn sie bis zu dem altgefährlichen Capua kamen, schrieb ihr Abdallah Muschir Bei: »Ist er nun zu seinem Vater und zum Kronsyndikus hinüber! Dieser eitle Prahler! Er erstrebte eine Bedeutung, wozu ihm weniger Fleiß und Beharrlichkeit, wie er vorgab, als schöpferische geistige Kraft fehlte! Statt letzteres offen einzugestehen, schmähte er die Trauben, die ihm zu hoch hingen! Das ganze deutsche Volk ist wie Klingsohr und gewiß fressen es auch noch einmal die Kalmücken und Tartaren!« Lucinde theilte diese Ansicht. Als sie die ihr von Klingsohr hinterlassene Habe desselben musterte, Brauchbares 118 verkaufte, seine Papiere, seine angefangenen philosophischen Werke unbarmherzig ins Feuer warf, sogar seine Gedichte, in denen nur sie besungen war, ließ sie sich nicht einmal von jener Brieftasche rühren, die einst in Klingsohr's und ihrem eigenen Jugendleben eine so große Rolle gespielt hatte. Nachdem sie einen Augenblick zweifelhaft gewesen war, ob sie nicht dies Andenken an die düsteren Verwickelungen im Hause der Asselyns und Wittekinds gleichfalls mit in jenes Kästchen von Ebenholz legen sollte, das ihren ganzen Lebensschatz enthielt – mit hinzu zu den noch unverkauften Gold- und Silbergeschenken Nück's – zu all den Briefen und Blättchen, die sie von Bonaventura's Hand besaß – zu Serlo's Denkwürdigkeiten und zur Urkunde Leo Perl's – da verbrannte sie es – und gerade an einem Tage, wo bei ihr drei deutsche Pilger vorsprachen, die zu Fuß nach Rom gewallfahrtet kamen, Stephan Lengenich, Jean Baptiste Maria Schnuphase und der Paramentensticker Calasantius Pelikan aus Wien. Alle drei erhielten indessen zeitig den gesandtschaftlichen Rath abzureisen – sie betranken sich täglich.
So gab es der Abwechselungen genug, zu denen sich dann die Reisen, der Aufenthalt in Genua, in Coni gesellte, bis die Revolutionen ausbrachen, wo sich Lucinde in Venedig und glücklicherweise durch jene Hülfe erhielt, die ihr aus dem ruhigen Orient kam.
Es war ein halbes Jahr seit »Wiederherstellung der göttlichen Ordnung« verflossen. Wieder war die römische Saison, kurz vor dem Carneval, in aufsteigender Höhe. Wieder war bei Lucinden einer ihrer »Donnerstage« gewesen. Sie saß, zufrieden mit der Zahl ihrer heutigen Gäste, mit der Erinnerung an ihre eigenen Einfälle und Repliken, die sie zum Besten gegeben (was mustert man nicht alles nach einem Gesellschaftsabend und überdenkt, worin man hatte Effect machen wollen!) Die Herzogin von Amarillas 119 war zugegen gewesen, noch immer in Trauer gehüllt – im übrigen starr, versteinert und bis zum Peinlichen unbeweglich geworden. Olympia Rucca, die zur Besserung ihrer Finanzen mit ihren Schwiegerältern Frieden geschlossen hatte und sich gleichfalls noch derselben Trauer widmete, die auch noch nicht Ercolano, ihr Gatte, um Cäsar Montalto abgelegt hatte (Ercolano sah in Benno's Verhältniß zu Olympien nur eine persönliche Aufopferung der Freundschaft zu Gunsten seines Friedens, zur Vereinfachung seiner Sorgen um eine »nun einmal schwer zu behandelnde« Frau – »Es gibt solche Ehemänner –!« sagte Lucinde). Auch Fefelotti, der wiederum Allmächtige, war dagewesen und hatte Lucinden durch eine heimlich zugeflüsterte Mittheilung erfreut. Sie hatte den Athem des Mannes zwar nicht gern in ihrer Nähe, aber doch hörte sie mit Vergnügen, was er ihr heute zugetuschelt. Es erfüllte sich also, daß (irgendwo in Europa) mit einem hochbetagten lutherischen Landesvater, bei dessen Hoftheater die beiden Fräulein Serlo als Tänzerinnen engagirt, dann im geheimen zu Freiinnen von *** erhoben waren, durch Vermittelung dieser Favoritinnen ein für Rom günstiges Concordat abgeschlossen werden sollte. Hatte auch Lucinde, von der dies Arrangement zu Stande gebracht, gerade kein besonderes Interesse an der Summe, die man ihr zahlen wollte, wenn die Freiinnen von *** nebst ihrer alten Mutter so lange weinten und sich kasteiten und sich abhärmten und den alten Landesvater selbst beim Champagner und nachts zwölf Uhr, wenn er im Mantel verhüllt nach Hause schlich, durch ihre Gewissensbisse peinigten, bis dieser nachgab und den für ein protestantisches Land schmählichen Vertrag mit Rom abschloß – ihr genügte schon, sich die Curie gründlich verpflichtet zu haben und bitter-lächelnd – an Serlo's Phantasieen über die Zukunft seiner Töchter denken zu können.
120 Heute war ein neuer Gast zum dritten mal dagewesen – Pater Stanislaus aus dem Al Gesù, Wenzel von Terschka. Sechs Monate hatte dieser Verlorene in Rom verweilt, ohne daß ihn jemand erblickte. Man sagte allgemein, er hätte eine qualvolle Gefangenschaft, dann eine glorreiche Umänderung seines Sinnes zu bestehen gehabt und nun wäre er nahezu ein Heiliger geworden. Jedem, der etwa erstaunte, wie hier möglich geworden, daß ein Mann erst Priester, dann als solcher weltlich beurlaubt und dahin beauftragt, sich in kurzer Robe in die allgemeine Gesellschaft zu mischen, dann in London zum Ketzerthum übertrat, dennoch wieder nach Rom zurückkehrte, wieder sein altes Priesterkleid – »re quasi bene gesta« sagte Lucinde – wieder anzog – dem wurde erwidert: All diese Wandelungen im Leben Wenzel von Terschka's beruhen auf Verleumdung! Nie war er vorher ein Priester! Nie war er nachher ein Protestant! Jetzt erst führte ihn das Bedürfniß der Heiligung über ein leichtfertiges Leben in die geschlossenen Räume eines Bußhauses! Erst jetzt ist er geistlich geworden, jetzt in den Orden des heiligen Ignaz getreten – und auch jetzt erst heißt er Pater Stanislaus. Allen denen, die etwa an der Richtigkeit dieser Darstellung zweifeln mochten, mußte dieselbe glaubhaft erscheinen, wenn sie die hohle Wange, das düster irrende Auge, den scheuen Blick, den fast verstummten Mund, eine erschreckende Vernichtung an einem Manne wiederfanden, der sonst durch die Gesellschaft wie Quecksilber glitt. Heute war es der dritte Donnerstag, wo der unheimlich brütende, willenlos gewordene – alte Mann bei Gräfin Sarzana saß. Mit dem Schlag der zehnten Stunde brach er jedesmal auf; er, dem sonst die Nacht gehören mußte. Punkt fünfzehn Minuten nach zehn mußte Pater Stanislaus hinter seinen düstern Mauern sein.
Lucinde urtheilte über diese Eindrücke, wie über etwas, was 121 sich von selbst verstand auf dem Gebiet ihres ganzen Wirkens und Lebens. Sie, die ja auch in dieser Weise zu den Wiedergebornen gehörte, ließ ebenso Terschka gelten. Sie begrüßte ihn ohne jeden Schein einer Kritik und gab dem Pater Stanislaus die Ehre, die seinem Stande gebührte.
Nur ein einziges nagendes Gefühl quälte Lucinden unausgesetzt. Sie, die sonst die Reue als »unnütze Selbstquälerei« verwarf, bereute Eines. Es war ein Wort, das ihr einst bei ihrer ersten Bekanntschaft mit Cardinal Ceccone über den damaligen Bischof von Robillante entfallen war: »Ich besitze in meinen Händen etwas, was ihn auf ewig vernichten könnte!« Daß ihr dies Wort hatte einmal entschlüpfen können, war nur möglich gewesen im ersten Rausche über die ihr gewordenen neuen Erfolge – und im nachhaltenden Zorn über Bonaventura's damalige Abreise von Wien. Bonaventura hatte sie in einer Stadt, wohin sie ihm verkleidet durch ganz Deutschland nachgereist war, zurückgelassen, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.
Oft hatte sie diese Aeußerung, die sie auch aus Furcht vor den Drohungen des Grafen Hugo gethan, so oft sie daran erinnert wurde, in Abrede gestellt und den Sinn derselben als harmlos zu deuten gesucht; Ceccone jedoch, Olympia, die Herzogin von Amarillas hatten sich die Aeußerung wohl gemerkt, sie oft wiederholt und sogar so rückhaltlos wiederholt, daß sie Fefelotti bekannt wurde. Dieser, von Haß und Rache gegen Bonaventura seit Jahren unveränderlich erfüllt, hatte Bonaventura's früherem Leben nachgespürt, dem Verschwinden seines Vaters, dem beraubten Sarge auf dem Friedhof von St.-Wolfgang sogar. Nach ihrer fernern frühern Aeußerung: »Käme, was ich habe, zu Tage, so müßte der Unglückliche auf ewig in ein Kloster gehen!« fehlte nicht viel, daß die seit dem Tode Benno's zu einem großen Schlage der Rache Verbundenen, Fefelotti, Olympia, 122 die Herzogin, schon aus sich selbst heraus die volle Wahrheit trafen. Denn zu einer solchen Entsagung konnte ja nur jemand gezwungen werden, der mit einem dem Priesterthum widersprechenden Makel behaftet war. Selbst die Besuche Terschka's, sein lauernder Umblick und sein grübelndes Schweigen schien dem Privatgefühl Lucindens, das von ihrer öffentlich gespielten Rolle abwich, mit einer Verschwörung gegen Bonaventura und sogar mit ihrem Kästchen in Verbindung zu stehen.
Bonaventura war noch in Rom – mannichfach begnadet und höher noch gehoben, als er schon stand. Im Sommer angekommen, hatte er seine Mutter sterbend gefunden und sie aus dem Leben scheiden sehen. Er hatte von seinem Stiefvater, der nach Deutschland zurückkehrte, Abschied genommen und wollte eben nach Neapel reisen, als er durch einen jener plötzlichen Einfälle, die an dem inzwischen wieder auf den Stuhl Petri zurückgekehrten Statthalter Christi alle Welt kannte, zum Cardinal erhoben wurde. Quid vobis videtur? hatte es in Rücksicht auf den deutschen jungen Kirchenfürsten aus des heiligen Vaters Munde im Consistorium geheißen und alles blickte auf Fefelotti. Die alte Regel, in solchen persönlichen Willensacten des Papstes zu schweigen, ihm die volle Gerechtsame seines Herzens zu lassen, Cardinäle nach eigener Gemüthsregung zu ernennen, wurde auch hier innegehalten, so sehr sich die Zeiten verändert und die Porporati den Charakter einer Ständekammer angenommen hatten, aus deren Majorität weltlichverpflichtete Minister kamen. Die Trauer eines Sohnes um seine Mutter war die nächste Ursache dieser Erhöhung. Ein Erzbischof mußte nach Rom zu solchem Leide kommen –! Dafür allein schon mußte ihm der heilige Vater den Purpur schenken.
Fefelotti schäumte vor Wuth über die ewigen »Rückfälle« des »unverbesserlichen Schwärmers«, der die dreifache Krone trug. 123 Er stürmte zu Lucinden, warf ihr die Veränderungen ihrer Gesinnungen für den Verhaßten vor, reizte sie durch die Schilderung der Glückseligkeit Paula's, die gleichfalls in Rom war, und verlangte von ihr geradezu – jenes Gewisse, das sie gegen die »Creatur einer ihm feindlichen Partei«, wie er Bonaventura nannte, seit Jahren in Händen hätte.
Die düstern schwarzen Augenbrauen zusammenziehend stellte Lucinde ihre ehemalige Aeußerung wiederholt in Abrede. Jetzt zumal, wo sie mit Bonaventura auf dem Fuß neuer Hoffnungen stand. Ihre Jahre schreckten sie nicht. Sie hatte die drei verbundenen Freunde Bonaventura, den Grafen Hugo und Paula nie aus dem Auge verloren. Sie beobachtete scharf. Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß sich im Herzen dieser seltsam Verbundenen Entscheidung bringende Kämpfe vollzogen; Bonaventura sprach für die Wünsche des Grafen, der ganz nach Wien übersiedeln oder wieder in Militärdienste treten wollte. Paula stand an einem Scheidewege – ob Rom, ob Wien. Ging sie nach Wien, so waren die Würfel gefallen. Ihre Ehe hatte dann ihre natürliche Ordnung gefunden. Und Bonaventura –? Lucinde war so erregt von dem Gedanken, Bonaventura würde als Cardinal nun dauernd an Rom gebunden sein, müsse dann und wann von Coni herüberkommen, könne sich ihr, ihrer Macht, ihrem Einfluß nicht entziehen, daß sie Fefelotti mit Indignation von sich wies und ihn diesen Gegenstand nie wieder zu erwähnen bat.
Es konnte auffallen, daß der neuernannte Cardinal, dem am Tage der Uebergabe des Purpurhutes eines der ersten Fürstenhäuser Roms die üblichen Honneurs machte – Olympia, die Herzogin von Amarillas wohnten diesen Festen nicht bei – längere Zeit noch in Rom verblieb. Der Herbst war gekommen – sogar auf den Winter kehrte der jüngste der Cardinäle noch immer nicht nach seinem Erzbisthum zurück. Niemand wußte die 124 Veranlassung dieser verzögerten Abreise. Bonaventura selbst schützte für sein Bleiben Studien über Rom vor. Sein einziger Umgang war Ambrosi und die Salem-Camphausen'sche Familie. Bonaventura blieb bis in das neue Jahr hinein, selbst als es mit Olympia zu den unangenehmsten gesellschaftlichen Reibungen gekommen war. Er will den Carneval sehen! hieß es. Man beruhigte sich scheinbar, nur Fefelotti umgab ihn mit Spionen.
Auch Lucinde forschte. Ganz leise hatte sie einige Fäden von einem Verkehr aufgegriffen, den der neue Cardinal mit Neapel, ja mit dem Silaswald unterhielt. Ende August schon hatte sie in Erfahrung gebracht, daß Frâ Hubertus und jener Einsiedler, der vor Jahren ihnen soviel zu schaffen gemacht hatte, auf Befehl der Inquisition verhaftet worden war. Noch zuckte Fefelotti, den sie deshalb befragte, die Achsel und sagte: Die Jesuiten ließen diesen Ketzer allerdings gefangennehmen, sie mußten ihn aber mit seinen Genossen an die Dominicaner ausliefern! Sie kennen ja die Eifersucht der weißen Kutten gegen die schwarzen! Lucinde hörte, daß Bonaventura's Verbleiben in Rom mit Geheimnissen des Sacro Officio zusammenhing; die klare Uebersicht alles Thatsächlichen fehlte ihr noch. Sie durfte erbangen über ein Wiederbegegnen mit Hubertus; sie wollte aber glücklich sein, wollte hoffen und faßte alles im heitersten Sinne und fürchtete für nichts.
Heute saß sie in der allerlebhaftesten Spannung. Der Grund, warum sie heute noch nicht zur Ruhe gehen wollte und konnte, war kein anderer, als die noch wie im Sturm der Mädchenbrust gefühlte Spannung ihrer Ungeduld, ob die für morgen früh beim ersten Morgengrauen angesetzte endliche Abreise des Grafen – mit oder ohne Paula stattfand.
Das gräfliche Paar lebte sehr zurückgezogen in einem der großen Hotels an Piazza d'Espagna. In den meisten Dingen 125 war selbst für Lucinden der Schleier des Geheimnißvollen, der den bei Ambrosi wohnenden Bonaventura und die Freunde umgab, undurchdringlich. Auch für die gegenwärtige Situation hatte Lucinde nichts anderes erspähen können, als die Absicht des Grafen, in erster Morgenfrühe die längst beabsichtigte und immer wieder aufgeschobene Reise nach Deutschland anzutreten. In erster Morgenfrühe sollte ein Bekannter eines ihrer Bedienten von Piazza d'Espagna, wo er im Hotel aufwartete, die Nachricht bringen, ob Graf Hugo – mit oder ohne seine Gemahlin abgereist war.
Reiste der Graf mit Paula, so war es ihre Absicht, für ihre noch immer glühende Liebe eine Demonstration zu versuchen. Sie wollte beim Cardinal Ambrosi vorfahren, die Urkunde Leo Perl's, eingesiegelt, mit einem Schreiben an Bonaventura versehen, am Palast der Reliquien abgeben, die Bitte hinzufügen, ihr den Empfang durch eine ausdrückliche Meldung an ihren Wagenschlag oder einen Gruß am Fenster beantworten zu wollen. Reiste Paula mit nach Wien, so hatte sie die Absicht, sich aufs neue in der Glut ihrer nur mit dem Tode ersterbenden Liebe zu zeigen, selbst mit Gefahr, den Bund, der sich gegen Bonaventura verschworen zu haben schien, zu ihren eignen Gegnern zu bekommen und die Protection Fefelotti's zu verlieren. An ihre schon grauen Haare, an ihren gekrümmten Rücken, an ihre sechsunddreißig Jahre sollte sie dabei denken –? Was ist einem Weib von Geist der Spiegel! Liebesfähigkeit gibt ihr der Wille und des Willens ewige Jugend! Da scheut sie keinen Wettkampf mit der glatten Wange des Mädchens – eine »Jungfrau« war sie ohnehin geblieben bei allen ihren Herzensconflicten mit Oskar Binder, Klingsohr, Serlo, Nück, Ceccone, Fefelotti – Gräfin Sarzana war sie am Altar geworden.
Lucinde nahm aus ihrem Schreibbureau ihr Kästchen. Es 126 hatte die Form einer größern Reisecassette, war von schwarz gefärbtem Holz und mit einem guten Schloß versehen. Sie schloß es auf – blätterte in Serlo's Papieren – ließ einige Brochen von Türkisen und Diamanten am Lichte funkeln – verlor sich in Träume, überlegte den Brief, den sie schreiben wollte, verschloß ihr Kästchen wieder und wollte nun zur Ruhe gehen.
Als sie begonnen hatte sich in ihrem Schlafcabinet zu entkleiden, hörte sie in der Nähe ein Geräusch. Es war ein eigenthümlicher Ton, dessen Ursache sie sich nicht erklären konnte. Sie ergriff ihr Licht. Indem sie um sich leuchtete, fiel ihr ein, daß sie im Nebenzimmer ihr Schreibbureau offengelassen und ihr Kästchen nicht wieder eingeschlossen hatte. Zitternd trat sie ins Nebenzimmer, fand hier alles still, verschloß rasch ihr Kästchen und blickte um sich. Wieder erscholl der fremdartige leise Ton, der von irgendwoher draußen und dicht neben ihrem Fenster hörbar blieb. Jetzt hätte sie den Ton so erklären mögen, als bewegte der Wind einen Klingeldraht.
Da ein solcher nicht in der Nähe und die Luft still war, die Nacht eher schwül, als windbewegt, so konnte jenes Geräusch nicht vom Winde herkommen. Es dauerte fort. Sollten gar Diebe in der Nähe sein? Bei diesem Gedanken versagte ihr, ihren Dienstboten zu rufen, schon der Athem. Zwar wohnte sie in einer lebhaften Straße, aber mit dem Gegenüber eines alten unbewohnten Palastes. Ein lautausgestoßener Ruf hätte vielleicht die Diebe entwischen lassen.
Jetzt bemerkte sie, während jener leise schnurrende Ton fortdauerte, am Fenster einen Schatten, wie von einem Seil. Ihr Auge blieb auf diesen hin- und herschwankenden Schatten starr gerichtet. Heftig klingelte sie jetzt. Im gleichen Augenblick stürzte vom Dach über ihr auf die Straße ein Ziegel oder sonst ein Gegenstand, der unten zerbrach.
127 Auf ihren Balcon, der wol gar durch ein Seil von oben her sollte erstiegen werden, hinauszustürzen hatte sie keinen Muth. Der große weite Saal, zu welchem jener Balcon gehörte, war unheimlich; um zu den Bedienten und Mädchen zu gelangen, mußte sie ihn in ganzer Länge durchschreiten. Sie klingelte wiederholt und bekam endlich die Hülfe ihrer Leute.
Vom Balcon aus entdeckte man in der That einen vom Plattdach herabhängenden Strick. Die Diener, leidlich beherzte Bursche aus dem Gebirg, sprangen, ungeachtet alles Abmahnens, mit großen Küchenmessern einen Stock höher und von dort, wo sich die Waarenlager eines Tuchhändlers befanden, auf die Plattform. Hier regte sich nichts. Man hatte nur den freien, sternenhellen Himmel und ein unabsehbares Durcheinander von Schornsteinen. Der Dieb hatte sich demnach bereits in eines der Nachbarhäuser geflüchtet.
Luigi, einer der Bedienten, fand das Seil, das mit dreifachem Knoten um einen hohen Schornstein gewunden war und das jedenfalls einen Menschen halten konnte, der sich etwa auf diesem Wege zum Balcon hätte hinunterlassen wollen.
Ueber dem lauten Rufen und Erörtern wurde auch die nächste Nachbarschaft im zweiten und dritten Stock lebendig. Die Mägde machten sich Muth durch das lauteste Schreien.
Die Nachforschungen, jetzt von den Nachbarn unterstützt, führten zu keiner Entdeckung, die es hätte möglich machen können, den Strick zu erklären. Ohne Zweifel hatte sich der Dieb aus dem Staube gemacht, als er den Schein des von Lucinden in ihr Schlafcabinet getragenen Lichtes entdeckte. Die Gräfin mußte warnen, die Untersuchungen auf dem Boden fortzusetzen, da die Lichter unvorsichtig hin und her flackerten. Jetzt erst erkannte sie, in welcher feuergefährlichen Nachbarschaft sie lebte –! Die Tuchhändler des Ghetto hatten hier ihre Vorräthe an Tuch und 128 Wolle liegen. Das Parterre war allerdings so verfallen, daß dem Besitzer des Hauses auf anderm Wege für diese Räume keine Miethe mehr wurde.
Als es still geworden war, der Strick abgeschnitten, die Schlösser und Riegel der Schränke untersucht waren und alles wieder zur Ruhe ging, warf sich Lucinde in höchster Aufregung auf ihr Bett und ließ sich von den schreckhaftesten Bildern peinigen, die ihr diesen Ueberfall als schon wirklich vollzogen ausmalten. Und wenn er sich wiederholte –? Wenn wol gar der Dieb im Hause, in den Zimmern noch verborgen wäre? Sie hatte sich eingeriegelt und ihr kostbares Kästchen jetzt mit in ihr Schlafcabinet genommen.
Allerdings lag es nahe, an ihre wunderlichen Handelsgeschäfte, an ihren häufigen Verkauf von Pretiosen zu denken. Ihr aber bildeten sich andere Vorstellungen. Sie dachte an die abenteuerlichsten Absichten – sie sah einen Abgesandten Fefelotti's, der sich ihres Kästchens bemächtigen sollte. Die längst verbleichten Bilder Picard's, Hammaker's, Oskar Binder's tauchten mit frischen Farben vor ihren Augen auf.
Erst der Morgen bot Beruhigung, der ermuthigende, alles belebende Sonnenschein. Rings öffneten sich die an jedem Fenster in Rom angebrachten Markisen, die sich Lucinde freuen konnte diese Nacht nicht geschlossen zu haben; denn nur so hatte sie hören können, was am Fenster vorging. Von allen Bewohnern der Straße schien das nächtliche Ereigniß erörtert zu werden. Neugierige sammelten sich, blickten nach oben und disputirten. Noch einmal suchte man auf den Dächern die Spur des Diebes und fand da auch manchen Ziegelstein losgerissen und manchen alten leeren Blumentopf zertrümmert. Die Oeffnung aber, wo der Dieb niedergestiegen und entkommen sein mußte, konnte in einer Häuserreihe, die sich bis Piazza Navona zog, nicht entdeckt werden.
129 Um sechs Uhr kam eine Botschaft, welche die Theilnahme Lucindens für jede andere Angelegenheit, selbst für den Besuch des Polizeimeisters (eines Prälaten) und die Untersuchung des von ihm als corpus delicti entgegengenommenen und vielleicht auf Entdeckungen führenden Stricks zurückdrängte. Ihr Kundschafter zeigte ihr an, daß Graf Hugo nach fünf Uhr in einem leichten Reisewagen, den drei Pferde zogen und dem sich ein hochbepackter vierspänniger, Gepäck und Dienerschaft führend, angeschlossen, abgereist war. Paula war nicht zurückgeblieben. Sie war ihrem Gatten nach Wien gefolgt.
So war denn die Entscheidung erfolgt – das jahrelang Keimende endlich zur Reife gediehen –! Neue Sterne – neue Bahnen! Paula folgte also den Mahnungen ihres einst gegebenen Jaworts und zahlte die lang gestundete Schuld der Ehe. Lucinde erkannte die Tragweite dieser Veränderungen; ihre Phantasie ging noch über sie hinaus. Nun galt es in Bonaventura's Leben die freigewordene Stelle einnehmen. Und wie ergriff sie die Aufgabe, die ihr ein neues Hoffen gestellt –! Entschieden und offen wollte sie den Geliebten vor den geheimen Conspirationen der Herzogin und der Fürstin warnen, die schon seine Heimat, Castellungo, Neapel und die Verließe der Inquisition in den Kreis ihrer Forschungen gezogen zu haben schienen. Sie wollte ihm den nächtlichen Ueberfall anzeigen, den sie heute erlebt hatte, und Veranlassung daraus nehmen, zunächst die Urkunde einzusiegeln und einen Augenblick zu erspähen, wo sie Bonaventura bei seinem Freunde sicher zu Hause fand. Auch sie hielt sich in seiner Nähe einen Spion, einen Priester, der dem fremden Kirchenfürsten seit einem halben Jahr von der Congregation der Bischöfe zur Verfügung gestellt war.
Ihre tägliche Messe hörte sie – »um es mit keinem zu verderben« – bald hier, bald dort. Sie kleidete sich an und fuhr 130 zunächst an einen Ort in der Nähe des Ambrosi'schen Palastes, wo jener Priester an jedem Morgen ihrer harren und berichten mußte, wo sie den Freund den Tag über sehen konnte, was er beginnen, wo celebriren, wo in Gesellschaft sein würde. Der junge Abbate sprang regelmäßig einen Moment an den Wagenschlag; sie lehnte ihm ihr Ohr hin und erfuhr, wo sie hoffen konnte Bonaventura zu begegnen.
Heute hörte sie zwei Nachrichten. Eine erfreuliche, die, daß beide Cardinäle dem großen Sprachenfest der Propaganda beiwohnen würden, sie also Bonaventura sehen könnte – Dann eine erschreckende – beide Cardinäle würden einen Ausflug nach Neapel machen.
Es war Winterszeit und letzteres glaublich. Aber konnte sie denn nicht folgen? Konnte sie nicht ebenso gut wie andere den neuesten Ausbruch des Vesuv sehen wollen oder vom römischen Winter, der diesmal sogar Eis gebracht hatte, gleichfalls vertrieben werden? Andererseits sah sie mit zunehmendem Befremden die wichtige Rolle, die in Bonaventura's Leben Neapel zu spielen anfing!
Mit diesen wichtigen Kunden fuhr sie in die nächste Kirche – die des Al Gesù, wo eigentlich jeder die Messe hören mußte, der zum guten Ton, namentlich zum triumphirenden der Reaction gehören wollte – –
Während sie dort, über ihre nächsten Entschlüsse brütend kniete, saß Bonaventura in den düstern Zimmern des Katakombenpalastes in der That voll tiefster Trauer.
Die Unfähigkeit des Grafen, länger seine Liebe zu beherrschen, hatte im Wettkampf dreier Herzen den Sieg davongetragen. Noch vor einigen Tagen hatte Paula vom Eintritt in ein Kloster gesprochen. Der Tod der Präsidentin von Wittekind war unmittelbar und in der ganzen Herbigkeit eines sich nur ungern dem 131 Gesetz der Natur bequemenden Scheidens von den Freunden miterlebt worden. Nun erfuhr Bonaventura, daß das stille Gute Nacht! des gestrigen Abends der Höhe seines Lebens gegolten hatte. Es konnte jetzt nur noch abwärts gehen. Es war zwischen den Freunden so verabredet worden, daß sie sich ohne Abschied trennten.
Die nächste Zerstreuung, die nächste Füllung der Lücke seines Innern bot die Reise nach Neapel. Ambrosi kannte jede Beziehung im Leben seines Freundes. Als Bonaventura's Mutter gestorben war, ging eine Anzeige dieser Entscheidung in den Silaswald. Bonaventura würde die Botschaft in jene Wildniß selbst überbracht haben, hätte ihn nicht noch des Präsidenten Gegenwart und seine tiefste Betrübniß zurückgehalten – dann hielt ihn, als der Präsident abreiste und der Vater, wenigstens für ihn, auferstehen, der Sohn ihm an die Brust sinken konnte, seine Ernennung zum Cardinal zurück.
Federigo's Absicht, selbst nach Rom pilgern zu wollen, hatten die Freunde nicht erfahren können. Denn die jesuitische Reaction, die mit dem Jahre 1849 über Europa hereinbrach, drang selbst bis in jenen dunkeln Winkel eines calabrischen Waldes und brachte den Einsiedler in Gefangenschaft. Monsignore Cocle, der Bevollmächtigte Fefelotti's, hatte jene Versammlung des zwanzigsten August sprengen und sämmtliche Ketzer des Silaswaldes festnehmen lassen.
Ambrosi mußte das Aeußerste aufbieten, um Bonaventura nach dieser Kunde von unüberlegten Schritten zurückzuhalten. Sofort nach Neapel zu reisen, dort an die Pforte der Inquisition zu pochen, wie Bonaventura gewollt – es war für einen Cardinal und Erzbischof unmöglich, falls nicht Vater und Sohn zu gleicher Zeit die größten Nachtheile davon haben sollten, Ambrosi kannte aber den Haß der Dominicaner gegen die Jesuiten, die 132 Inquisition gehörte jenen; er zog den General-Inquisitor selbst ins Vertrauen.
Pater Lanfranco wirkte in der That im günstigen Sinne nach Neapel. Bald wurde, zur Wuth der Jesuiten, der alte Negrino freigegeben, selbst Paolo Vigo sollte unter gewissen Bedingungen zu Ostern das Sacro Officio verlassen. Von Frâ Federigo sowol wie von dem, auf Betrieb der Jesuiten, aufs heftigste von den Franciscanern reclamirten Hubertus hieß es, beide würden nach Rom geschickt werden, sobald die Acten spruchreif wären, und den letzten Spruch sollte das heilige Officium von Rom fällen.
Alles das wurde allerdings in einem Stil verhandelt, wie er den in solchen Fällen ehemals üblichen Scheiterhaufen entsprach. Doch im Geheimen gab Pater Lanfranco die Versicherung, daß schon bis zur Weihnachtszeit beide Gefangene in Rom sein würden; schon jetzt würden sie besser gehalten, als jemals andere in ähnlicher Lage.
Alles das geschah aus Achtung vor den Empfehlungen zweier Cardinäle und vorzugsweise den Jesuiten zum Trotz. Eine sofortige Unterbrechung der üblichen Proceduren war nicht möglich. Federigo galt für einen Waldenser, war beschuldigt, Proselyten gemacht zu haben, Bonaventura mußte sich in alles ergeben, was zunächst nicht zu ändern war.
Ambrosi bat den Freund, jedenfalls in Rom auszuharren. Er beschwor ihn, sein Interesse für den unglücklichen Vater nicht zu sehr zu verrathen – er würde ihn unfehlbar damit nur verderben. Die beiden Frauen, die vor Jahren die maßlosesten Huldigungen vor dem Bischof von Robillante zur Schau getragen hatten, saßen jetzt im Palast des alten, zum schäbigsten Wucherer gesunkenen Rucca, auf Villa Tibur und Torresani, und ersannen nichts als Kränkungen für einen Priester, dessen neue Erhöhung sie 133 nicht hatten hindern können. Die Herzogin hatte sich dem Präsidenten mit kalter vornehmer Haltung als seine Stiefmutter vorgestellt. Obschon Erbin des Vermögens, das Friedrich von Wittekind seinem natürlichen Bruder ausgesetzt hatte, gab sie sich doch die Miene, diese Mittel nicht zu bedürfen. Beide Frauen waren jetzt mit Fefelotti verbunden –! Sie sahen Terschka bei sich, sie hatten Geheimnisse, die selbst die schlau aufmerkende, freilich immer sanft erscheinende, demüthig ergebene Gräfin Sarzana nicht erfuhr. Ambrosi bat, alles seiner Führung und der nächsten, sicher nicht zu entfernten Zeit zu überlassen.
Mit Ambrosi war jener Austausch der Freundesbeichten, von welchem sie vor Jahren gesprochen hatten, nunmehr wirklich erfolgt. Einer sah auf den Grund des andern. Ja – Ambrosi war ein Schüler Federigo's und ein nur glücklicherer, als Paolo Vigo! Ambrosi war ein Märtyrer geworden – um einst mehr werden zu können, als ein Mönch. Was ist ein Dorfpfarrer, der mit einem Bischof einen Streit beginnt! sagte er in der That, ganz nach Bonaventura's Ahnung. Nur ein mit dem Papste Streit beginnender Bischof reformirt die Kirche! Das war seine Losung. Die politischen Stürme unterbrachen seine Entwickelung, aber die Stunde reifte. Vor dem zwanzigsten August 18** hatte auch er dem Bruder Federigo geloben müssen, nichts zu sein, als ein Katholik wie die andern.
Bonaventura hatte dem Freunde offen gestanden, wer Federigo war. Mehr noch – er hatte ihm gesagt, daß ihm selbst – die Taufe fehlte! Getauft bist du mit dem Geiste Gottes! war die Antwort des muthigen Priesters, der ihm ebenso offen gestand, er hätte sein Leben daran gegeben – einst Statthalter Christi zu werden.
Ambrosi's Gebet um Kraft und Ausdauer war trotz dieser bewußten Absicht, trotz dieses Maskenspiels ein reines und 134 aufrichtiges. Er bedurfte die Tugend und brauchte sie nicht zu heucheln. Einmal nur war er gestrauchelt, damals als Olympia von ihm gesagt hatte, im Beichtstuhl hätten seine Lippen ihren Mund berührt. Ach, er hätte sie wirklich geliebt! gestand er dem Freunde zu. Er hätte sein Bekenntniß darüber, als er bestraft werden sollte, nicht zurückgehalten – Aber – seltsam! selbst dieser Fanatismus, dem Geist einer Sache, nicht ihrem Buchstaben wahr sein zu wollen, hätte sich ihm in Segen verwandeln müssen – denn nur für um so heiliger hätte man ihn seitdem gehalten –! Wenn Bonaventura sagte: Die Welt erkennt noch Heilige an, wenn es ihrer nur gäbe –! überhoben sich beide nicht – ihr Sinn war der der Läuterung, Demuth und Entsagung.
Die Rettung der katholischen Kirche ist ein allgemeines Concil. In dessen Hände legt der Statthalter Christi seine Gewalt nieder – Das war ihre Losung und beide liebten das Kreuz. Daß die Religion nicht Philosophie sein könne, verstand sich ihnen ebenso von selbst, wie die Unmöglichkeit, daß der Katholicismus zum Lutherthum überging.
Der treuverbundene Freund hatte dem Trauernden, dessen Liebe zu Paula aufs tiefste von ihm aus den eigenen Entbehrungen seines Lebens nachgefühlt werden konnte, unausgesetzt Nachrichten vom Vater aus Neapel gebracht, hatte ihn um Mäßigung gebeten und alles gethan, um die Ungeduld des Sohnes von übereilten Schritten zurückzuhalten. Bis zur Weihnachtszeit wollte sich Bonaventura zufrieden geben.
Die Roratemessen kamen, die Weihnachtskrippen, das neue Jahr brach an – die Gefangenen kamen nicht. Nun wollten sie allerdings beide selbst nach Neapel.
Den Vormittag des sechsten Januar brachte Bonaventura mit geschäftlichen Briefen zu, die an sein erzbischöfliches Capitel gerichtet 135 werden mußten. Er speiste allein – Ambrosi war auswärts und durch sein Amt bis über Mittag verhindert.
Als Ambrosi zurückkam, begleitete er den Freund zur Piazza d'Espagna, wo die Missionäre der Propaganda ihr großes Sprachenfest hielten. Dort mußten sie Pater Lanfranco finden. Ertheilte ihnen dieser keine Beruhigung, so wollten sie am nächsten Morgen nach Neapel reisen.
Der Saal war überfüllt. Alle Welt ergreift in Rom jede Gelegenheit, anwesend zu sein, wenn sich Würdenträger der Kirche in reicher Anzahl versammeln. Erschienen sie hier auch nicht in ihren großen außergewöhnlichen Prachtgewändern, so trugen viele doch ihre regelmäßigen Ordenskleider. Griechen, Armenier, Kopten, Maroniten befinden sich immer in ihren eigenthümlichen Trachten. Auch für den Freund der Physiognomik gibt es schwerlich einen interessanteren Genuß, als markirte Priesterköpfe zu studiren.
Bonaventura und Ambrosi kamen an, als die Feierlichkeit schon im Gange war. Die Schüler der Propaganda, jüngere und ältere Scholaren, darunter manche bereits geweihte Kleriker, sprachen in all den Zungen, in welchen sie einst auf Missionsreisen die Botschaft des Heils zu verkündigen hofften. Wenigstens konnten Proben von einem Viertelhundert Sprachen vernommen werden. Ein erhabener Gedanke – ergreifend seine Bedeutung – aber die Ausführung brachte Späße mit sich! Drollig erklang es dem italienischen Ohr, wenn ihm auch nur Slawisch gesprochen wurde. Ambrosi hatte Bonaventura in eine Falle gelockt. Er wollte ihn aufheitern. Als beide ankamen, lachte die Versammlung gerade über die Art, wie sich eine Lobpreisung des Höchsten im Polnischen ausnahm.
Bonaventura glaubte anfangs in einen Concertsaal zu treten. Bald entdeckte er die kleine Fürstin Rucca, die in elegantester 136 Toilette neben ihrem Ercolano saß und so vertraulich mit diesem lachte, als hätte die zehnjährige Episode ihres Lebens mit Benno nicht stattgefunden. In einer gestickten ordenüberladenen Uniform saß Ercolano, lorgnettirte die Damen und klatschte wie im Theater Beifall, wenn eine gewandte Zunge rasch über die schwierigen Passagen der fremden Idiome hinwegkam. Neben Olympien saß die Herzogin von Amarillas mit schneeweißen Haaren; sie blickte mit unversöhntem Groll auf Bonaventura. Olympia beugte sich demuthsvoll dem Cardinal Ambrosi und verzehrte ihn noch jetzt mit ihrem süßlächelnden Gruß – eine Geberde, die ihr auch jetzt noch angenehm stand; gegen Bonaventura dagegen verwandelte sie die süßen Züge in jene ihr eigne plötzliche Kälte und verneigte nicht einmal ihr Haupt, wie wenigstens dies doch die Herzogin gegen beide that.
Gräfin Sarzana fehlte nicht. Sie hatte in ihrer Nähe so viele, die sich mit ihr unterhielten, daß ihr schon Olympia neidische Blicke zuschoß. Der von Ambrosi den Freunden bestellte Sitz war zufällig dem der Gräfin Sarzana so nahe, daß sie mit Bonaventura einige Worte wechseln konnte. Natürlich galten diese der Abreise Paula's. Schließlich sagte sie: Morgen in der Frühe, um zwölf Uhr – find' ich Sie da in Ihrer Wohnung, Eminenz? Zu keinem Besuch. Nur einen gewissen Gegenstand wollt' ich an Ihrem Portal abgeben und eine Beruhigung über den richtigen Empfang haben. Und denken Sie sich – diese Nacht sollte – bei mir –
Ein schallendes Gelächter machte ihre fernere Rede für Bonaventura unhörbar. Ein Neger hatte eben madagassisch gesprochen und Gurgeltöne hervorgebracht, die noch kaum der menschlichen Sprache anzugehören schienen.
Bonaventura war über Lucindens Anblick, über ihre Rede, ihr Bedauern wegen Paula's ergriffen. Welche glänzende Toilette 137 hatte die Gräfin gemacht –! Sie trug ein schwersammetnes Kleid von dunkelrother Farbe. Arme und Hals waren frei. Den allzu grellen Effect milderte ein schwarzer um den Hals festzugehender Spitzenüberwurf. Um den Nacken schlang sich eine Kette von schwarzen Perlen – mit jenem goldenen Kreuze, das sie nie ablegte. Hier und da war ihr Haar schon grau; ein kleines schwarzes Spitzentuch, das an beiden Seiten mit Brillantnadeln festgehalten wurde, bedeckte es. Die unter den Spitzen vorschimmernden immer noch wohlgerundeten braunen Arme trugen am Handgelenk kleine zierlich gewundene Schlangen aus schwarzer Lava.
Vorzugsweise schien Fürst Ercolano die Claque zu leiten. Eine Côterie ihm ähnlich aufgeputzter Dandies schlug auf seinen Wink die Hände zusammen, so oft eine halsbrechende Passage ohne Stocken von den Lippen der Sprecher glitt, unter denen sich Neger und Malaien befanden. Selbst das heilige Hebräisch fand keine Gnade vor den Ohren dieser Zuhörer, denen schon die andächtiger gestimmten Fremden zuweilen zischen mußten. Freilich klangen auch einzelne Sprachen komisch genug; andere desto melodischer; z. B. das Türkische. Als dies gesprochen wurde, schlug Gräfin Sarzana die Augen nieder. Fürchtete sie, um Abdallah Muschir Bei beobachtet zu werden –? Das Arabische klang schroff, rasch, »wie Rosseshufschlag«.Neigebaur: »Der Papst und sein Reich.« Ein syrischer Priester sprach kurdisch; in sanftem Wellenschlag flossen die Idiome der wildesten Völker. Dunkel dagegen und trübe erklangen die Sprachen des Nordens, das Englisch der Irländer und Schotten. Einige förmliche Wettreden wurden aufgeführt, an denen mehrere Sprachen theilnahmen. Auch das Holländische wurde hörbar – Deutsch durch den rauhesten oberbairischen Dialekt, der nicht im 138 mindesten Anklang fand und vorzugsweise von Olympien lächerlich gefunden wurde, indem sie auf Bonaventura höhnische Blicke warf.
Ein unverkennbarer Blick aus den Augen der Gräfin Sarzana sagte: Sprächest das Deutsche Du, so wär' es eitel Wohllaut und die Sprache der Götter!
Die Stimmung, in der sich Bonaventura befand (vor ihm lagen die Fenster der von Paula heute verlassenen Wohnung; sie waren geöffnet, mit Spuren der Abreise ihrer bisherigen Bewohner), bestimmte ihn, ihren Blick durch milden Ausdruck des seinigen zu erwidern. War es eine durch die deutsche Sprache geweckte Rührung beim Gedanken an die Heimat, beim Hinblick auf alles das, was schon sein Leben, das Leben seiner Nachbarin auf dem Boden des Vaterlandes durchlaufen hatte und wie sie hier beide das Gewand einer fremden Nationalität angezogen hatten und jetzt in der That durch ihre Lage Verbundene waren oder welches andere Gefühl ihn ergriffen haben mochte – sein Blick blieb voll Milde und Antheil. Lucinde hätte gewünscht, die Rückgabe der Urkunde schon für heute angesagt zu haben. Sie suchte nach einer Gelegenheit, sich ihm verständlich zu machen und auf alle Fälle mußte sie ihn wegen Neapels befragen.
Vor Bonaventura saßen mehrere Mönche in schlichten Ordensgewändern. Unter ihnen befand sich Pater Lanfranco, der General der Dominicaner.
Ambrosi blinzelte seitwärts auf Bonaventura und flüsterte ihm die Bitte, an den General keine Frage wegen Federigo's zu richten. Neben dem General saßen zwei fremde, wie es schien, angesehene Weltpriester, denen sich anmerken ließ, daß sie zu den Affiliirten der Jesuiten gehörten. Römisch-katholische Geistliche haben dafür einen Blick, der sich selten täuscht.
Pater Lanfranco in seiner weißen Kutte saß mit gebeugtem 139 Haupte, unbeweglich, am kahlen Scheitel war ersichtlichermaßen nur sein Gehör in Thätigkeit. Ein südfranzösischer Kopf, scharf ausgeprägt. Ein Schädel nicht rund, eher länglich und nach oben viereckt auslaufend, wie die getrocknete Feige. Bei einem Lobgesang auf Maria in provenzalischer Sprache wurde seine unbewegliche Gestalt lebendiger.
Ein italienischer Zögling trat auf und sprach malaiisch – die Abwechslung blieb die bunteste –
Als der Redner in seinem wunderlich lautenden Vortrag stockte, sagte einer der Nebenmänner des Generals: Im Sacro Officio sollen jetzt Ihre Brüder in Neapel einen Mönch haben, der diese Sprache besser versteht!
Sie kommt mir vor, entgegnete Lanfranco in einem fremdartigen Italienisch, als balancirte ein Jongleur auf der Lippe mit geschliffenen Messern; es kann wol eines zur Erde fallen.
Bonaventura konnte nicht den Namen Neapels nennen hören ohne aufzuhorchen. Noch dachte er nicht an den Bruder Hubertus, von dem ihm hätte bekannt sein dürfen, daß er ehemals in Java lebte.
Nach einer Weile wurde auch ein auf dem Programm verzeichneter holländischer Vortrag gehalten, für den der General der Jesuiten, ein Holländer, competent gewesen wäre – er war nicht anwesend. Diese Probe ging geläufiger. Der General der Dominicaner sagte zu seinem Nebenmann: Ist Ihr Malaie nicht auch mit dem Holländischen vertraut?
Gewiß! sagten seine beiden Nebenmänner zu gleicher Zeit und einer fügte hinzu: Jener Bruder Franciscaner ist es, der vor Jahren den Pasqualetto erschoß.
Bonaventura, nun erkennend, daß von Hubertus die Rede war, wollte sich in die Unterhaltung mischen, als ihn Ambrosi mit einer heimlichen Handbewegung zurückhielt. Merkt Ihr denn 140 nicht, mein Freund, flüsterte er ihm zu, daß es nur darauf abgesehen ist, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen?
In der That warfen die beiden Weltgeistlichen flüchtig schielende Blicke auf die hinter ihnen Sitzenden und trugen ihre Plaudereien so stark auf, daß sich Ambrosi's Verdacht bestätigte.
Der General schien wie Ambrosi zu denken und schwieg.
Doch nun wurden von seinen Nebenmännern auch die Ketzer des Silaswaldes erwähnt. Frâ Federigo's Name fiel, für beide, Bonaventura und Ambrosi, ein elektrischer Schlag.
Immer wieder unterbrach der Redeactus, das Beifallklatschen und das Lachen, das Blättern in den Programmen eine Unterhaltung, die offenbar der General auf andere Gegenstände zu lenken suchte, als die waren, an denen seine Nebenmänner durchaus festhielten.
Jetzt sagte der Gesprächigste von ihnen, der dem General zur Linken saß: Ew. Gnaden werden am besten die Bücher lesen können, welche bei jenem Hexenmeister im Silaswald gefunden worden sind; die meisten verbrannte er in seiner Hütte selbst. Sie sind in provenzalischer Sprache geschrieben.
Sind die Gefangenen eingetroffen? fragte jetzt der andere.
Ich hörte bei Monsignore Cocle, fuhr der erste fort, daß Einer von ihnen kaum die Anstrengung der Reise überleben wird.
Dennoch sind sie da! betonte Lanfranco scharf und bestimmt und schnitt damit das Gespräch ab.
Die Wirkung dieser Worte, wurden sie nun in berechneter Weise so gesprochen oder nicht, war keine andere, als daß sich Bonaventura sofort erhob und zum Gehen bereit machte.
Das Aufsehen dieser Entfernung, welcher sich auch Cardinal Ambrosi anschloß, war allgemein. Jetzt sah man erst, wie diese beiden Priestererscheinungen das Interesse der ganzen römischen Gesellschaft bildeten. Für ihren hohen Rang waren es zwei noch 141 jugendlich und männlich schöne Gestalten. Der eine schlank und ernst wie die Cypresse, der andere blühend wie der Rosenstrauch. Von manchem Maler, von mancher englischen Touristin, wurden ihre Züge verstohlen aufgefangen. Beide senkten jetzt ihre Augen. Jener, um nur überhaupt seiner Sinne mächtig bleiben zu können und im überfüllten Saal nicht ohnmächtig zu werden; dieser mit der ihm eignen lächelnden Schüchternheit, die ihm selbst in seinem jetzigen reiferen Alter zurückgeblieben war. Der Salonwitz nannte beide Freunde die »Inseparables«, andere»Castor und Pollux«, andere »Orest und Pylades« – nicht selten mit jenen verdächtigen Nebenbeziehungen, die dem katholischen Priesterstand zur Strafe anhaften werden, solange er das Weib verschmäht.
Im Vorsaal wurde dem Cardinal Ambrosi von einem Dominicaner ein Brief überreicht. Er erbrach ihn sofort.
Als die beiden Freunde in ihrer alterthümlichen vergoldeten Kutsche saßen, gab Ambrosi den Brief an Bonaventura. Er enthielt die Worte: »Die Männer von Calabrien sind angekommen! Dem Besuch des Erzbischofs von Coni bei seinem Diöecsanen, dem Einsiedler von Castellungo, steht nichts im Wege – Leider findet er den Mann, trotz aller ärztlichen Bemühungen, dem Tode nahe –«
Zum Vatican! rief Bonaventura dem Kutscher mit Lippen, die fieberhaft zusammenschlugen.
Beruhige dich –! sprach Ambrosi und zitterte doch selbst.
Wir treffen ihn sterbend –! Wie ich geahnt! Meine Strafe das –!
Ambrosi versuchte Hoffnungen auszusprechen. Aber die Stimme versagte ihm. Wie eine Mutter nach ihrer Geburtsstunde von Fieberschauern erschüttert wird, so lag Bonaventura in Ambrosi's Armen. Selbst des Befremdens, das Ambrosi über die Reden 142 der beiden Geistlichen aus Neapel auszudrücken versuchte, konnte sein Ohr nicht mehr achten.
Der Wagen jagte über den Corso, der Tiberbrücke zu und zum Vatican –
Für viele der beim Sprachenfest Zurückgebliebenen hatte die Sitzung durch die Entfernung der beiden gefeierten jungen Cardinäle ihr Interesse verloren. Da sie nicht wiederkamen, so entfernten sich auch andere. Sogar Olympiens Wagen und der der Herzogin rollten bald von dannen. Vor ihnen hatten sich schon die beiden Weltgeistlichen entfernt. Nun ging auch der General der Dominicaner.
Lucindens scharfes Auge beobachtete, wie alles das in irgend einem Zusammenhange stand und wie etwas vorgefallen sein mußte, das erschütternd in das Leben ihres Heiligen griff. Was nur konnte es sein –! Und Ihr konnte etwas verloren gehen –?! Was hatte Olympia im Werk? Auch ihr war nur ein flüchtiger Gruß von ihr zu Theil geworden – Schon oft hatte auch Olympia nach dem Inhalt ihres Kästchens verlangt – Schon oft hatte auch sie von den Geheimnissen der Inquisition gesprochen und ihre Thorheit verwünscht, die sie vor Jahren die Dominicaner, um Bonaventura's willen, beleidigen ließ.
Lucinde, hochaufgeregt, erhob sich. Daß sie am Palast der Katakomben halten und durch ihren Bedienten hinaufsagen ließ: Gräfin Sarzana erkundigte sich, ob Se. Eminenz ein Uebelbefinden betroffen hätte? war in der Ordnung. Sie erfuhr, daß beide Cardinäle noch nicht zurück waren.
So konnte der Gesundheit des Freundes nichts Bedenkliches begegnet sein. Sie sann den Gründen seiner schnellen Entfernung vergeblich nach und verlor sich in Vorstellungen wunderlicher Art. Und wie es dem Menschen ergeht, daß er nur immer allein seine eigne Betheiligung am Schicksal andrer vor 143 Augen hat und, sei's im guten oder schlimmen Sinne, die eigne Betheiligung übertreibt, so stand ihr auch nur ihr Geheimniß über Bonaventura's Taufe vor Augen. Es ist entdeckt –! sagte sie sich. Sturla wußte davon. Es fehlt noch die authentische Bestätigung – die Urkunde aus meiner Hand –! Man wollte sie schon diese Nacht stehlen –! Sie hätte ihm Leo Perl's Brief noch heute zurückgeben mögen.
Bei alledem – welch glückliche Beziehung schien sich nun doch, ohne Paula, wiederherzustellen –! Die Wonnen eines liebenden weiblichen Herzens sind nicht zu ermessen. So nur allein am Fenster des Geliebten einige Minuten harren, so nur die Kunde empfangen zu dürfen, man würde die Anfrage ausrichten – dann sich vorstellen: er kommt – er denkt an Dich – er besinnt sich auf den gewissen Gegenstand – er lächelt – er erinnert sich der beiden Abschiede, die er von Dir nahm, jener beiden Male, wo Du vor ihm auf der Erde lagst – alles das schon allein kann eine Welt des Glücks für ein wahnbethörtes, für die größten Lebenshoffnungen geduldig von kleinen Almosen zehrendes Herz werden.
Die Gräfin kam in ihre heute aus Besorgniß doppelt erhellte Wohnung gerade zur rechten Zeit zurück, um sich mit dem Monsignore Vice-Camerlengo, dem Gouverneur von Rom, zu verständigen. Auch dieser war ein Priester. Er ertheilte den im Kirchenstaat in solchen Fällen üblichen Bescheid: Lassen Sie es auf sich beruhen, Eccellenza –! Denn entdeckt man die Sache, wie sie ist, so könnte es leicht für Sie noch schlimmer werden!
Lucinde kannte Rom. Der hohe Prälat blieb eine Weile zum Plaudern; dann war sie allein und frei. Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und begann einen Brief, der die Urkunde begleiten sollte. Sie hauchte in diese Zeilen ihr ganzes Leben.