20070807
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88 4.

Im Widerspruch mit dem im goldensten Sonnenglanz strahlenden kleinen Städtchen lag am frühen Morgen auf den Mienen der nach so langer Trennung sich Begrüßenden der Ausdruck der Trauer. Die Ankömmlinge sahen wohl, daß den Grafen gestern nur die Besorgniß, die von seiner Mutter so heißersehnten Freunde möchten nicht mehr rechtzeitig eintreffen, bis nach Limone getrieben hatte, von wo er über den Col schon Stafetten aussenden wollte, als sie dann eben kamen. In erster Morgendämmerung hatte ein reitender Bote den Wink des Arztes gebracht, daß des Grafen eigene Rückkehr zu beschleunigen war.

Graf Hugo hatte gealtert. Sein braunes Lockenhaar war lichter geworden und an vielen Stellen ergraut. Die stattliche Haltung war der zurückgebliebenen Gewohnheit seines militärischen Standes zuzuschreiben; seiner Stimmung entsprach sie nicht. An seinen Antworten auf Monika's Bewunderung der entzückenden Gegend sah man, daß Schloß Castellungo ein Ort der Trauer war. Auch Paula war, das erfuhren sie, von Coni, wo sie wohnte, heraufgekommen und harrte ihrer in Castellungo.

Der italienischen Sitte gemäß, wo Rang und Reichthum ihren äußern Ausdruck finden müssen, war mit dem Reisewagen des Obersten auch ein Staatswagen gekommen, ein Viergespann prächtiger Rosse. Er erlaubte die Theilung der Gesellschaft. 89 Obgleich sich Armgart zum Grafen hingezogen fühlte, blieb sie doch bei Hedemanns. Monika, der Oberst, Graf Hugo nahmen die Plätze der offenen großen Equipage ein, die von einem buntgekleideten Kutscher vom Sattel aus geführt wurde. Zwei Bediente leuchteten in neuen Livreen mit den Dorste'schen Farben. Man konnte sich nach Westerhof versetzt glauben, wenn die schöne Natur und der blaue Himmel nicht zu sehr an die Glückseligkeit Italiens erinnert hätte.

Die Gespräche ringsum, schon im Gasthof und im Städtchen, berührten auch die Weltbegebenheiten. Armgart hatte gehört, daß die Kämpfe in Rom zwar noch fortdauerten, für die Republik aber schon hoffnungslos waren. An einem geheimen Blick der Aeltern sah sie, daß auch von Benno gesprochen wurde. Zitternd stand sie, sie mochte hören und mochte auch nicht – jetzt saß sie abwesend, fast fiebernd, auch infolge der gestrigen Anstrengung und einer nur kurzen Nachtruhe. Neben ihr suchte sich Porzia, in den Wonneschauern des Wiedersehens ihrer Heimat, durch ein Durcheinandersprechen zu helfen; sie erklärte jedes Haus, jede Mühle und grüßte jeden Vorübergehenden, als müßte sie noch von allen gekannt sein. Die kleine Erdmuthe langte nach den Früchten, die aus den Gärten blinkten – Armgart nahm sie auf den Schos, um sie zurückzuhalten. Dabei schwankte sie doch selbst vor Freude und Bangen in ihrer hochgespannten Brust.

Nach zweistündiger Fahrt, die unter Kastanien- und Nußbäumen, oft wie unter dem Laubdach eines Parkes hinging, hielt plötzlich der vorausfahrende Wagen des Grafen. Eine Biegung des zuweilen von rauschenden Bergwässern unterbrochenen Weges verhinderte noch, die Ursache des Haltens zu entdecken. Als Armgart's Wagen näher gekommen war, sah sie unter einer Pflanzung von Eichen, die am Wege auf einer grünen Böschung standen, eine Gruppe sich herzlich Bewillkommnender. Eine Dame, 90 die, vom blauen Sonnenäther sich abhebend, hingegeben in den Armen des Vaters und der Mutter lag und doch zugleich mit einem weißen Tuch in die Ferne wehte, um die noch Zurückgebliebenen schon zu begrüßen, konnte doch wol nur Paula sein.

Im ersten Augenblick hätte Armgart laut rufen und all ihre krampfhaft zusammengedrängten Empfindungen in einem Schrei lösen mögen. Ihr Wagen flog jetzt dahin und hielt. Der Schlag wurde geöffnet; sie schwebte, sie wußte nicht wie. Paula lag überwältigt in ihren Armen und senkte ihr Haupt auf die Schultern der athemlosen Freundin.

Daß beide weinten, trotz der Freude – lag es nur allein im Hinblick auf die Sterbende in Castellungo? Angenommen wurde es so. Ihr krampfhaftes, in kurzen Sätzen erfolgendes Schluchzen, das beiden ihre Empfindungen erleichterte, sagte ohne Zweifel mehr.

Der dritte Wagen, mit dem nun noch Paula gekommen war, nahm diese und Armgart allein auf. Sie wollten für sich und hinter allen zurückbleiben. Die andern, dabei eine Italienerin, Paula's Begleiterin, fuhren voraus. Nun erst begrüßten sich die Freundinnen ganz so, wie sie es für sich allein bedurften; nun erst sahen sie, was sie inzwischen geworden – sie spiegelten sich in ihren thränenblinkenden Augen. Paula trug keine Locken mehr. Sie bot vollkommen das Bild einer Dreißigjährigen. Sie war noch nicht verblüht, hatte aber Linien des Grams auf ihrer Stirn und um den Mund jene Einschnitte, die nicht mehr weichen. Ein leichter, mit blauen Florentinerblumen geschmückter Strohhut umrahmte ihr edles Antlitz. Die Freundinnen prüften sich fort und fort, Auge in Auge. Wer beide beobachtete, konnte zweifelnd bleiben: Sind es zwei Jungfrauen oder zwei Witwen?

Das also das Land deiner Verheißungen. Das das Land – 91 deiner Träume –! begann Armgart sich nun erst findend und in der immer paradiesischer werdenden Gegend umblickend.

Der Bediente war auf die andern Wägen geschickt worden. Der Kutscher hatte mit seinen Rossen zu thun. Die Freundinnen konnten annehmen, daß sie allein waren.

Seit ich hier bin, träum' ich schon lange nicht mehr, erwiderte Paula. Ich sehe irdisch wie alle! Die Luft dieser Berge ist gesund. Du und die Aeltern, alle müßt ihr nun bei uns bleiben. Mein Gatte – sagt' er es nicht schon? – sehnt sich freilich in die Welt zurück. Der Kriegslärm lockt ihn schon lange, um wieder in die Armee zu treten. Aber – ihr bleibt –?

Die Beziehung zu dem Lande hier war im Kriegssturm gewiß die bitterste und schwerste? unterbrach Armgart.

Die Mutter glich alles aus – erwiderte Paula. Sie war – so hochverehrt. War! O, daß ihr zu solcher Trauer kommt!

Und auch wir bringen Leid. Der arme Hedemann!

Paula war voll herzlichsten Antheils. Die Freundinnen sprachen wehmuthbewegt von Westerhof, Witoborn, vom Stift Heiligenkreuz. Neuigkeiten gab es genug. Vom Erzbischof von Coni war noch nicht die Rede – nur von Coni selbst, wo Paula wohnte.

Coni ist zwölf Miglien von hier, sagte sie und bediente sich der italienischen Bezeichnung für eine Entfernung, die Armgart auf drei deutsche Meilen zu deuten wußte. So weit lag etwa von Heiligenkreuz Schloß Neuhof entfernt. Jedes Wort, das die Freundinnen wechselten, weckte heilige Erinnerungen.

Paula deutete auf einen zur Linken sich erhebenden grünen Hügel, wo sich terrassenförmig hinauf ein Stationsweg schlängelte und oben eine Kirche malerisch vom blauen Hintergrunde abhob.

Die Kapelle der »besten Maria!« erklärte Paula der den landschaftlichen Reizen schon als Künstlerin lauschenden Freundin.

Diese konnte in einem Augenblick, wo sie schon soviel trübe 92 mit dem Religionszwiespalt zusammenhängende Verhältnisse theurer Angehörigen besprochen hatten, in dieser Hindeutung auf die »beste Maria« nur einen Anlaß finden, an das unsichtbare und ohne Bild verehrte Princip der schmerzverklärten weiblichen Liebe überhaupt zu denken. Sie faltete die Hände und sagte: Das also der Altar, wo die Cocons gesegnet wurden, die dein Brautkleid werden sollten!

Paula erröthete.

Armgart hielt eine Lobrede auf den Grafen, rühmte den Eindruck, den er mache, seine Natürlichkeit, seine Trauer um die Mutter.

Er ist gut! bezeugte Paula.

Das ist der beste Schmuck eines Mannes! entgegnete Armgart mit Andeutung ihrer eigenen trüben Lebenserfahrung.

Nun schwiegen die Freundinnen. Was sie fühlten, verstanden sie ja. Ihr Briefwechsel hatte nichts von ihren tiefern Lebenslagen verschleiert, wenn sie auch nicht in Allem gleicher Meinung waren.

Die Zahl der Wegwanderer, der Fahrenden, Reiter mehrte sich inzwischen. Obgleich die Embleme des katholischen Cultus nicht fehlten, bemerkte doch Armgart Landleute, die einen eigenen Ausdruck der Mienen hatten und der ihr aus Lausanne und Genf bekannt war. Sie forschte für sich nach Waldensern – nach der ganzen Sehnsucht Hedemann's und ihrer Aeltern.

Ein Städtchen kam mit einer mächtigen, dem Ort kaum angemessenen Kathedrale. Eine hochgewölbte Kuppel ragte weit über das ganze Städtchen hinweg.

Das ist Robillante! sagte Paula.

Armgart's Augen fanden schon von selbst vor dem Thor der Stadt das bischöfliche Capitel. Ein mächtiges Gebäude im Jesuitenstyl, die Kirche daneben mit Kuppel und schnörkelhafter Façade. 93 Die Kirche hatte ein Glockenspiel und intonirte soeben mit kurzem Ansatz den Schlag der zehnten Stunde, dem dann ein Musikstück, wie eine Galopade, folgte –!

Das war nun in Italien nicht anders. Bonaventura hatte hier als Bischof, erzählte Paula, die Melodie geändert. Sein Nachfolger hatte wieder die Tänze zurückgeführt.

Mit dieser kurzen Erwähnung waren denn jene Kämpfe angedeutet, welche der fremde Eindringling auf diesem Boden zu bestehen hatte. Im letzten Revolutionssturm hatten sie nachgelassen. Jetzt, nach Piemonts Demüthigung, begannen sie wieder. Auch gegen die neue, in Turin im Bau begriffene Waldenserkirche hatte der neue Bischof von Robillante energischen Protest eingelegt.

Armgart's Phantasie hatte inzwischen Spielraum, sich auszumalen, wie Bonaventura in dem von ehrerbietig grüßenden Priestern umstandenen, nicht endenden Palaste dort gewohnt und wie auch einst Benno und Thiebold hinter jenen stattlichen Fenstern mit den Balconen und grünen Jalousieen von ihm aufgenommen worden.

Die Stadt selbst wurde umfahren. Wieder glänzte im Sonnenschein Berg und Flur. Nur die vielen, um der Seidenwürmer willen entlaubten Maulbeerbäume störten den malerischen Eindruck. Wieder folgten die Grüße von Landleuten, die auf Armgart einen schweizerischen Eindruck machten. Waldenser! bestätigte auch Paula. Wohlhabende Leute darunter –! Dank der Fürsorge der Mutter. Unsere Gemeinde hier ist nur klein. Die Mehrzahl wohnt dort oben. In den Thälern um Pignerol sind ihrer Tausende.

Schon suchte Armgart's Auge nach Castellungo. Viele Schlösser gab es, die auf den grünen Hügeln, den Vorbergen hinterwärts aufstarrender schrofferer Felswände, leuchteten. Paula deutete auf einen schimmernden Punkt in weiter Ferne – eine unter einem tiefdunkeln Waldkranz hervorragende Flagge. So 94 krank die Mutter ist, sagte sie, hat sie zu eurem Empfang doch das Aufziehen aller Fahnen befohlen. Auch eure Farben und die der Hardenbergs werdet ihr finden! Bei hohen Festen sind alle Zinnen damit geschmückt. Bald aber wird die schwarze Trauerfahne wehen –

Das Gespräch kam auf die Waldenser zurück, und Paula sprach von ihnen, ohne das mindeste Zeichen der Abneigung. Alle diese Verhältnisse umschlang lange schon das gemeinsame Band der Schonung und Familienrücksicht. Eine Frage wie die: Wird Graf Hugo nach dem Tode seiner Mutter katholisch werden? kam nicht von Armgart's Lippen; edle Bildung fürchtet sich vor nichts so sehr, als vor dem Aussprechen des Namenlosen; sie läßt das Misliche an sich kommen, ohne es zu rufen. Wie Paula, ihr Gatte und der priesterliche Freund in Coni zusammenlebten, wußte ja Armgart seit Jahren aus dem Briefwechsel der Freundin. Sie kannte, was hier im Herzen edler Menschen möglich, freilich auch nach der Anschauung ihrer Mutter und der Mutter des Grafen ein sprechender Beweis für die tiefe Verwerflichkeit der katholischen Kirche war.

Um dieser Schonung ihres Verhältnisses zu Bonaventura willen berührte Paula auch noch nichts von dem, was zum Unaussprechlichen in Armgart's Seele gehörte. Seitdem Benno »ein Opfer der Dankbarkeit« für Olympia geworden, hatte er aufgehört, für diese ohnehin im Politischen nicht mit dem herrschenden Zeitgeist gehenden Kreise anders, als in den Bildern alter Zeit zu existiren. Der Graf hatte schon in Limone seine alte Anhänglichkeit an Oesterreich zu erkennen gegeben. Die Gegend würde ihn, hatte er gesagt, in dieser anarchischen Zeit mit dem feindseligsten Mistrauen betrachtet haben, wäre die Mutter nicht so hochverehrt. Paula verschwieg nun auch nicht, daß sie alle anfangs dem Ruf des Erzbischofs geschadet hätten. Armgart 95 erkannte an allem, was sie so abgebrochen hörte, daß hier nach dem Tode der Gräfin irgendeine große Entschließung im Werke war. Der Tod Sarzana's wurde von Paula bestätigt. Von Lucinde, von Cäsar von Montalto hatte man keine Nachricht.

Im Austausch der durch alle diese Namen und Verhältnisse hervorgerufenen Empfindungen entdeckte man endlich die deutlichen Umrisse des sich allmählich als Beherrscher eines dichtbevölkerten Thales und einer kleinen Ortschaft erhebenden, aber mehr den Bergen zugelegenen Schlosses. Wohl konnte Armgart begreifen, wie sich Graf Hugo's Vater mit diesem Prachtgebäude hatte in Schulden stürzen müssen. Castellungo gehörte der Gräfin, aber ihr Gatte hatte beigetragen, es weit über ihre Mittel zu einem leuchtenden Mittelpunkt der reizenden Landschaft zu erheben – es war der einzige Adelssitz, der hier noch an die Zeiten der gebrochenen Burgen der Tenda und Saluzzo erinnern konnte. Thürme erhoben sich mit gezackten Zinnen, mit Altanen, freischwebenden luftigen Brücken – alles hätte, ohne den düstern Flor, der jetzt auf dem Ganzen lag, einen um so anziehenderen Aufenthalt verheißen können, als sich die Reize der Natur, geradezu wie ihm schmeichelnd, rings um den mächtigen Bau lehnten. Eine üppige Fruchtbarkeit, gute, freundliche Menschen, die ihre Wohnungen bis weit hinauf über die Berggelände hatten, alles das machte den wohlthuendsten Eindruck.

Wie schmerzlich, daß die Diener, die den auf dem bequemsten Schlängelpfade bis zum Schloß anfahrenden Wägen entgegeneilten, schon in ihren Mienen die angebrochene letzte Stunde der Gräfin berichteten.

Hedemann, nach dem die Sterbende ein besonderes Verlangen trug, stand schon an der Eingangspforte unter den mächtigen Wappenschildern von Marmor und sah sich mit einem Blick in der weiten schönen Gegend und in den blumengeschmückten Höfen 96 des Schlosses um, als wollte er sagen: Hier wirst auch du dein letztes Lager finden.

Eilends stiegen alle aus. Bangklopfenden Herzens folgte man dem Grafen, der Monika den Arm geboten. Paula wurde vom Obersten geführt, der sich noch scheute, sich ihr zu sehr zu nähern. Aber Paula's gen Himmel erhobener Blick schien den Dank aussprechen zu wollen, daß sich ihr Leben schon lange unter die allgemeinen Bedingungen der Natur gestellt hätte. Fest klammerte sie sich an den ihr sympathischen Mann – den Vater ihrer geliebten, so langentbehrten Armgart. Auch der Mutter warf sie nun Blicke der Liebe und Versöhnung zu.

Der Aufgang, das Treppenhaus, alles gab sich in hohem Grade würdig. Decken lagen ausgebreitet über Marmor und Granit. Die Diener gingen leise auf und ab in reicher Zahl. Die alte Gräfin hielt auf den Glanz ihres Hauses; zumal, seitdem die frühere Entbehrung geschwunden. Ordnung und Sauberkeit waltete auf allen Gängen. Die steigende Mittagshitze verlor sich in Schatten und Kühle. Im Schmuck der hohen, luftigen und hellen Zimmer, die man hierauf betrat, herrschte ein gewählter Geschmack. Graf Hugo's Liebhaberei waren schon in Salem kunstvolle Möbel und gediegene Einrichtungen, und schon in Limone deutete er dem Obersten an, daß ihn die Langeweile hier nie beschlichen hätte – zu thun gäb' es bei großem Besitz immer und oft fehle ihm die Zeit, alles allein zu besorgen. Schloß Salem war unverkauft geblieben und seit diesen zehn Jahren jährlich von ihm auf einige Wochen besucht worden. Für die Ankömmlinge, die er für immer gern gefesselt hätte, war ein ganzer Flügel des Schlosses eingerichtet.

In einem hellleuchtenden, säulengeschmückten Saale stand dann eine von Silber und Krystall glänzende, gedeckte Tafel. Hier fanden sich alle Schloßbewohner zusammen. Und wohl sah man, 97 daß nahe genug der Todesengel waltete. An einer hohen, schwarzen, reich mit Holzschnittarbeit gezierten Thür standen weinende Frauen. Einige davon erkannten sogleich Porzia von alten Zeiten her wieder und begrüßten sie. Auch Monika und Armgart fanden Bekannte. Jene aus Wien, diese aus London.

Inzwischen öffnete der Graf jene schwarze Thür und bedeutete die Freunde, ihm zu folgen. Alle sollten so lange in einem Vorzimmer verweilen, bis er auf die endliche Ankunft derselben die Mutter vorbereitet hätte.

Von einem würdigen Manne in schwarzer Kleidung, der ein Prediger schien, wurden zuerst der Oberst und Monika allein hereingerufen. Paula schloß sich ihnen an. Nach einer Weile rief Paula auch Armgart herein. Dann durften Hedemann und Porzia und mit ihnen das kleine Pathenkind folgen.

In einem grünverhangenen Eckzimmer lag auf einem Rollsessel ausgestreckt die Mutter des Grafen, schon einem ausgelebten Körper ähnlich. Ihre knöchernen Hände lagen auf der gepolsterten Lehne des Sessels. Kaum fühlte sie wol noch die Küsse, die ihr von den um sie her Stehenden oder Knieenden auf die kalten Finger gedrückt wurden. Porzia schluchzte laut – die andern schwiegen ehrfurchtsvoll, obschon auch ihnen die Augen voll Thränen standen.

Gräfin Erdmuthe winkte, daß niemand wieder hinausgehen sollte; sie wollte sie alle in ihrer Nähe behalten. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Doch erkannte sie jeden. Lichtstrahlen der Freude, daß sie Menschen, die ihr zu allen Zeiten so werth gewesen, noch einmal sehen konnte, brachen unverkennbar aus ihren schon halb erstarrten Zügen.

Wo gehst du denn hin? sprach die kleine Erdmuthe, da die Gräfin ihre Rede mit einem mehrmaligen: »Ich gehe –« begonnen hatte.

98 In einen schönen – Garten –! antwortete die Sterbende mühsam jede Sylbe betonend.

Wol in den, in den auch der Vater geht? fragte das Kind und wurde um dieser Fragen willen leise von Porzia hinweggezogen.

Aber die Gräfin langte nach ihrem Pathchen und wehrte allen, ihm sein zutraulich Fragen zu verbieten.

Hedemann stand hinter dem Stuhl der Sterbenden und verrieth sein Leiden durch seinen Husten. Die Gräfin hatte ihn mit besonderer Theilnahme begrüßt. Da sie ihm nun, sich nach ihm wendend, zuflüsterte: »Ei – du – frommer – und – getreuer Knecht!« fiel er, das Wort des Kindes bestätigend, ein: »Gehe ein zu deines Herrn Freude!«

Eine Pause trat ein, unterbrochen vom Weinen Porzia's, jetzt auch vom Weinen des von der Vorstellung, etwas nicht recht gemacht zu haben, erschreckten Kindes.

Als es stiller geworden, winkte die Matrone dem Obersten, der ihr in Witoborn und Westerhof immer einen so vortheilhaften Eindruck gemacht hatte und dem sie schon aus Reue über ihre Absicht, Monika mit Terschka zu vermählen, besonders ergeben war, und sprach mit ihm. Es währte lange, bis der Oberst verstand, was sie wollte. Wie ist es – mit – Rom? verstand er endlich.

Er nannte ihr mit scharfbetonten Worten, die ihrem schwachen Gehör eingänglicher sein sollten, die gegenwärtige Sachlage des Kampfes. Der Sieg der Franzosen wäre, sagte er, so gut wie entschieden.

Sie überlegte lange, was gesprochen worden. Monika errieth ihren Gedankengang und half dem Aussprechen desselben nach. Dieser Sieg, sagte Monika dicht am Ohr der Gräfin, wird noch einmal die Herrschaft des Heiligen Vaters wieder zurückführen – bis – dereinst –!

99 Die Gräfin verfiel in einen röchelnden Husten, ergänzte aber, als der krampfhafte Anfall vorüber war, mit einer überraschenden Kraft. Bis einst die wahren Streiter kommen! Das ist das Lamm auf dem Berge – und mit ihm hundert – und vierzigtausend ohne andere – Waffen – als –

Nun versagte die Stimme der Gräfin und Hedemann und Monika fielen ergänzend ein: Als – den Namen des Herrn!

Den Namen des Herrn aus Monika's Munde zu vernehmen schien der Gräfin wohlzuthun. Sie hatte früher an ihr den »rechten Grund« vermißt, wußte nun aber aus Briefen lange schon, um wie viel die jüngere Freundin ihr näher gerückt war.

Der Sohn trat heran, um die Erregung der Mutter zu beschwichtigen.

Die Mutter hielt seine Hand fest und sah ihm mit weitgeöffneten Augen ins Antlitz. Warum läuten die Glocken? fragte sie ihn feierlich.

Es klangen aber keine Glocken. Nur im Nebenzimmer regte sich der Arzt, der hochberühmte Doctor Savelli aus Coni, der näher trat mit einem Glase, woran nur der silberne Löffel so erklang. Diesen Klang wol hörte die Mutter und deutete ihn auf das Läuten von Glocken und starrte darüber wie ins Leere.

Nimm, Mutter! sprach der Graf mit liebevoller Bitte und reichte ihr selbst das Glas dar, das kräftig und würzig duftete. Es war die letzte Stärkung eines von seinen Lebensgeistern immer mehr Verlassenen, edler Tokayerwein.

Die Mutter betrachtete das Glas und erkannte wohl, daß das dargereichte Getränk Tokayer war. In ihrem Ideengang unterbrochen, sah sie den Sohn mit einem schmelzenden Liebesblick an. Nun zog sie ihn näher und heftete die Augen auf ein dicht vor ihr befindliches lebensgroßes Bild, das den Vater Hugo's in Generalsuniform darstellte. Der Sohn verstand ihre 100 Empfindungen. In Ungarn hatten ja er und der Vater gestanden. Er trocknete den Schweiß vom kalten Antlitz der immer mehr sich Aufregenden.

Hinter dem Arzt trat Derjenige hervor, der alle anfangs empfangen hatte. Es war der Geistliche, der »Barbe« eines jenseits des Waldes, der sich hinter dem Schloßgarten erhob, gelegenen Waldenserdorfes, ein Herr Baldasseroni. Er hatte bisher für sich in Diodati's italienischer Bibel gelesen.

Die Mutter sah zu ihm hinüber, langte nach der Bibel, ließ sich das Buch auf den Schoos legen und setzte mit zitternden Händen das Glas mit Tokayerwein darauf. An seinem Inhalt, so deutete sie an, wollte sie sich nach und nach erquicken. So sitzend hielt sie lange des Sohnes Hand. Aber sie wiederholte, daß sie Glocken hörte, und murmelte, das Ohr gegen das Fenster richtend: Glocken haben die Armen ja nicht – und keine Thürme. Nimm nicht die Glocke – von Federigo's Hütte . . . hörst du, mein Sohn?

Der Graf nickte mit einer Miene, die fast eine vorwurfsvolle war. Er that so, als traute sie ihm Unwürdiges zu.

Dann winkte sie Monika und Armgart, daß auch sie näher treten sollten. Beide nannte sie Du und langte nach Monika's Locken, streichelte ihr auch die thränenfeuchte Wange und legte ihre und Armgart's Hände ineinander. Dabei sprach sie langsam ihren Lieblingsvers, der sie einst mit dem deutschen Fremdling verbunden hatte:

Wenn alle untreu werden,
So bleib' ich dir doch treu,
Daß Dankbarkeit auf Erden
Nicht ausgestorben sei –

Wieder trat eine Pause ein – jene Stille, die man den Engel nennt, der durchs Zimmer geht. Die Kleine verscheuchte ihn. 101 Da sie den Ernst der Scene störte, so duldete es jetzt die Leidende, daß Armgart und Porzia das Kind den Dienern im Nebenzimmer zuführten.

Die Sterbende starrte wie tief innenwärts und hörte nur ihre Glocken. Sie war so abwesend, daß man sanft das Glas mit der Bibel von ihrem Schoose fortnehmen konnte, ohne daß sie es bemerkte. Ein großes Wasser – sprach sie dann in abgerissenen Sätzen, wird gehen und ein Donner wird ertönen – lass' – die Glocke unberührt –! Zum Gericht – des Herrn –! Schwöre mir's, mein Sohn, auch – wenn – du dem Thiere folgst –!

Mutter –! rief der Graf voll äußersten Schmerzes – und vielleicht weniger voll Schmerz über den Verdacht, daß er seinen Glauben ändern könnte, als über die Sorgen, von denen sich die Mutter noch in ihrer letzten Stunde beunruhigen ließ.

Die Hochaufgerichtete fühlte den Stachel ihrer Worte in – Paula's Herzen nach. Diese stand bescheiden hinter ihrem Sessel und beugte trauernd ihr lichtblondes Haupt auf die hohe schwarze Sammetlehne. Jetzt zog sie ihr Gatte näher und Paula kniete nieder.

Die Mutter gab ihr ein Zeichen versöhnlicher Gesinnung durch eine Aeußerung, die nur der Graf und die näher Eingeweihten als eine solche verstehen konnten. Sie tastete nach dem Buche, das man weggenommen. Als Baldasseroni es ihr wiedergeben wollte, sagte sie.

No! No! Signore! La Nobla – Leyçon!

Der »Barbe« ging in das dunklere Nebengemach und brachte ein altes kleines Pergamentbändchen, in welchem er blätterte.

Sie –! sprach die Gräfin und deutete auf ihre Schwiegertochter.

Mit erstickter Stimme, vor der Sterbenden knieend, las Paula in einer seltsamen Sprache aus diesem Buche vor. Es war kein 102 Italienisch und kein Französisch, doch eine Sprache voll Wohllaut. Man hörte Reime. Monika, Armgart und der Oberst glaubten das Patois von Nizza zu erkennen.

Paula las allmählich mit Begeisterung. Sie nur und Graf Hugo begriffen, wie die Mutter gerade in dieser Zumuthung, ihr aus dem Buche Nobla Leyçon vorzulesen, eine Versöhnung mit – Bonaventura aussprach, den die Mutter mit unausrottbaren Gefühlen des Mistrauens verfolgte – trotz der damals alles für seine Stellung aufs Spiel setzenden Verwendung desselben für den in Neapel verschollenen Frâ Federigo, trotz seines zehnjährigen Kampfes gegen Lug und Trug im hierarchischen Leben um ihn her – sie konnte eben nur die ihrem Sohn abgewandte Seele seiner Gattin festhalten, deren Kinderlosigkeit, die unmoralischen Consequenzen im römischen Priesterleben überhaupt, endlich die mögliche Gefahr, daß nach ihrem Tode der Sohn übertrat und den mystischen Bund, der hier zwischen drei Personen waltete, immer noch enger und enger schließen half.

Die Nobla Leyçon ist das älteste in provenzalischer Sprache geschriebene Gedicht der Waldenser. Niemand verstand einst die provenzalische Sprache so vollkommen und so rein und wußte den umwohnenden Waldensern ihre alten, sämmtlich in der Sprache der Troubadours geschriebenen Werke so zu übersetzen und zu erläutern wie Federigo, der diese Sprache kannte, noch ehe er von der Sekte der Waldenser etwas wußte. Auch Bonaventura, immer von den Erinnerungen und Sorgen um seinen Vater geleitet, zugleich in seinem Interesse für die Blüten der alten Kirchenpoesie, kannte diese alte Mundart, und Paula erlernte sie ihm zu Liebe in Coni. Daß nun die Mutter im Stande war, sich von ihr noch zum letzten mal aus diesem Buche, einem für Paula allerdings ketzerischen, vorlesen zu lassen, war ein Act der Liebe und der Versöhnung, ein Gruß an den Erzbischof. Ihre Aufforderung dazu 103 gab denn auch Paula wahrhaft Schwingen. Sie las so laut die schönen wohlklingenden Verse, als wollte sie sagen: Im Geist rufst du ja auch noch Bonaventura an dein Lager und versöhnst dich mit dem edelsten der Menschen!

Als Paula bis zu den Worten gekommen war:

»Intrate in la sancta maison!«

blickte sie auf.

Die Mutter schien entschlummert. Paula erhob sich. Aber auch die Sterbende hob die Augen, sah, als wäre sie abwesend, eine Weile starr um sich und sprach: »Ich bin – der Weg – die Wahrheit und das Leben – niemand kommt – zum Vater, denn durch mich!«

Das sahen alle, sie verweilte in den Erinnerungen an die Hütte jenes Einsiedlers, den sie so wahrhaft verehrt und lieb gehabt und von dem sie seit seiner Entweichung nichts mehr vernommen, als, in einem einzigen Abschiedsbriefe für dies Leben, die Bitte an jeden, der ihm Gutes erwiesen und noch erweisen wollte, nie, aber auch nie mehr nach ihm zu forschen.

»Intrate in la sancta maison!« wiederholte sie mit einem Aufblick gen Himmel.

Monika und Armgart, die das noch im Nebenzimmer plaudernde Kind nun ganz entfernt hatten, gingen hin und wieder.

Immer stiller wurde es – still wie schon unter den Gräbern. Jeder hielt den Athem zurück. Da noch einmal streckte die Sterbende die Hände aus und flüsterte mit dem Hohenliede, sicher in Anregung ihres Gedächtnisses durch Armgart's Abbildung der im Herzen Gottes als befiederte Kreuze aufsteigenden Seelen: »Hätt' – ich – Taubenflügel!«

Mit diesen Worten sank sie, von Schmerzen überwältigt und nach Erlösung ringend, zurück. Lange noch wehrte sie Bilder ab, welche sie zu beängstigen schienen. Ihre Stimme blieb 104 erstickt. Ihre Hände sanken erstarrt. An ihrem geöffnet stehen bleibenden Munde traten kleine Schaumbläschen hervor. Sie war noch nicht ganz todt, aber schon zeigte ihr Antlitz jene herbe Strenge, die unsern Gesichtszügen der Tod verleiht.

Der Arzt, der Geistliche traten eilends näher. Leise begab sich alles aus dem Zimmer und trat in den Saal zurück, während die Sterbende auf ihrem Lehnsessel von Dienern unter Hugo's Leitung sanft zurückgerollt wurde in die dunklern Nebenzimmer.

»Ach, hätt' ich Taubenflügel!« wiederholte Hedemann. Auch ihm erklang dies letzte Scheidewort der edeln Frau wie der Ruf nach Erlösung von den Schmerzen, die auch auf seiner kranken Brust lasteten.

Im Saale, wohin alle zurückkehrten, brach die Theilnahme in ihrer ganzen bisher zurückgehaltenen Macht aus. Die Frauen schluchzten. Auch die Männer traten bei Seite. Monika trat bald zum Gatten, bald zu Hedemann, der am Fenster saß und Weib und Kind liebevoll an sich gezogen hatte.

Dann war es recht ein Trauermahl, das in dem schönen Raume genommen wurde. Unsere menschliche Natur erscheint uns nie geringer und wird nie von uns unlieber befriedigt, als wenn unsere himmelentflammte Seele aufjammern möchte vor Schmerzen und unser Leben und Sein doch unter dem Druck des physischen Erdenverhängnisses bleiben – essen und trinken muß!

Noch ehe das Mahl, dessen stärkende Wirkung alle bedurften, zu Ende war, wurde dem Grafen heimlich eine Botschaft überbracht, die ihn bestimmte, sofort aufzuspringen und sich zu entfernen.

Alle folgten ihm erschreckt. Der Bote sagte, die Gräfin hätte geendet.

Bebend folgte man dem Grafen. Paula vor allen, deren Brust von so vielen Schmerzen durchwühlt wurde, deren Gründe 105 sich von den andern wol ahnen ließen. In ernsten Krisen erkannte sie, wie sehr der Graf zu lieben war.

Der Arzt und der Geistliche lüfteten die Vorhänge des Schlafzimmers. Der schöne sonnenhelle Tag schien herein und beleuchtete die Züge der Entschlafenen. Sie hatte noch, so hörte man, versucht, die Worte nachzusprechen, die über ihrem Bett unter ein Bild des ihr verwandten Dichters Novalis-Hardenberg geschrieben waren:

»Und wenn du Ihm dein Herz gegeben,
So ist auch Seines ewig dein!«

Da stockte die Zunge wie gelähmt. Sie hatte ausgehaucht.

Nun läuteten in der That fernher die Glocken. Es waren die ehernen Zungen eines andern Bekenntnisses. Auch Gesänge mischten sich ein, diese dicht in der Nähe und der Entschlafenen geltend. Ein Chor von Kindern stimmte ein geistliches Lied unter ihren Fenstern an. Regelmäßig an jedem Nachmittag hatte sich die Gräfin von den Kindern der Waldensergemeinde, die vom Gebirg herunterkamen, diese Erquickung erbeten – der Pfarrer erklärte dies den Hörern.

Jetzt kam auch ein Herr Giorgio, der sogenannte Moderatore oder Kirchenvorstand der kleinen Colonie, und brachte zu aller Erstaunen eine Schrift, die in seine Hand die Gräfin mit dem Bedeuten übergeben hatte, sie ihrem Sohne erst zu zeigen, unmittelbar wenn sie die Augen geschlossen hätte.

Der Graf erbrach das unversehrte Siegel, las und theilte die Wünsche der Mutter den Umstehenden mit. Sie hatte befohlen, erst in der kleinen Schloßkirche ausgestellt, dann aber in der Kirche der Waldenser und nicht in der Schloßkirche begraben zu werden. Der Graf erkannte, daß dieser Bitte die Voraussetzung zum Grunde lag, er würde Castellungo nicht behalten –! Aufregungen, wie sie mit dem Aussprechen und Erörtern dieser 106 Voraussetzung verbunden sein konnten, hatten sie jedenfalls bestimmt, ihm ihr Verlangen nur schriftlich auszusprechen.

Porzia ließ sich nicht nehmen, die Leiche zu entkleiden, Hedemann nicht, den Katafalk zu ordnen, dem noch für denselben Abend im Betsaal des Schlosses jeder nahen durfte, welcher der Abgeschiedenen seine letzte Ehrfurcht bezeugen wollte. Es kamen ihrer von nah und von fern.

Der Betsaal drückte die ganze Geschichte und Richtung der Gräfin aus – schon an den Bildern, die rings an den Wänden hingen: der tapfere Heinrich Arnaud in kriegerischer Tracht; Bischof Scipione Ricci, der die Souveränetät der Concilien gelehrt hat und vom römischen Stuhl als Lutheraner verdammt wurde; Graf Guicciardini, der kürzlich in Florenz Protestant geworden; der Engländer Oberst Beckwith, der sein ganzes Vermögen den Waldensern schenkte; der mächtigste Beistand der Gräfin, Friedrich Wilhelm III. von Preußen, hatte unter den Porträts den ersten Platz.

Die Reisenden richteten sich inzwischen in den für sie vorbereiteten Zimmern ein. Mit einer eigenthümlich bedingten Theilnahme beobachteten sie, wie eifrig Graf Hugo bemüht war, den Erzbischof in Coni noch vor Anbruch des Abends über das Ableben seiner Mutter mit Angabe aller Einzelheiten in Kenntniß zu setzen. Ja er zeigte Paula noch den Brief zuvor und diese fügte noch die mehrmalige Aeußerung um die Glocke jenes Eremiten hinzu, um den sich Bonaventura so verdient gemacht hatte. Ueber Paula's Lesen aus der Nobla Leyçon hatte schon Graf Hugo geschrieben.

Paula schien in der That erkräftigt und gesund. Sie ertrug den lange und voll Rührung auf ihr ruhenden Blick und die unmittelbare Nähe des Obersten, ohne die Befürchtungen zu bestätigen, die man so lange Jahre über diese Wiederbegegnung 107 gehegt hatte. Monika sagte: Fast scheint es, als wäre eine Kraft über sie gekommen, welche sie früher nicht gekannt hat – Die Kraft des Willens!

Armgart trauerte. Ob darüber, daß unter denen, auf deren Leben ein letzter Segen und eine letzte versöhnte Erinnerung hier zurückgeblieben war, ein einziger ausgestoßen und unberücksichtigt blieb – Benno von Asselyn? Oder über ein unausgesprochenes, ersichtlich vorhandenes Leid der Freundin, ihres Gatten und des hohen Geistlichen in Coni – ein Leid, das schon mit gesteigerter Offenheit von ihrer Mutter als ein unerlaubt unnatürliches verworfen wurde? Oder endlich über den Heimgang ihres »Großmütterchens« nur allein?

Der Aufenthalt in Castellungo hatte jedenfalls erschütternd und bedeutungsvoll begonnen.


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