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Siebentes Capitel.

Der Himmelsblick.

Die Jugend schmollt mit dem Leben, das ihr nicht nach Wunsch gehen will, länger als das reifere Alter. In gesetzten Jahren weiß man die Flucht der Zeiten mehr zu schätzen und findet sich mit ihrer Ungunst gelassener ab. Die jungen Jahre gehen mit sich verschwenderisch um und geben auch ihrem Kummer mehr Raum, als sich der kühlere Sinn späterer Zeit gestattet, ja sich zuweilen kaum noch erklären kann.

Oswald ergriff mit Eifer seinen Beruf, besuchte seine Heimath, sah die frohen, entwölkten Mienen seiner Eltern, denen er nach ihrem Sinne für die vom Pfarrer Dämmer gewagten Schritte eher hätte [173] danken als von ihnen eine Abbitte dafür verlangen sollen, feierte die Verbindung Scharfeneck's und seiner Schwester mit, aber es lag ein Druck auf seiner Seele, der nicht weichen wollte. Scharfeneck, vor ihm zur Residenz zurückkehrend, begründete sich eine Häuslichkeit, die seinem Weltsinn entsprach. Er sah viel Menschen um sich und erzog seine junge Frau mit Geschick für die nicht leichte Aufgabe, ein Haus zu machen. Oft ermunterte er den Schwager, ihrem Beispiele zu folgen und sich zu verehelichen. Oswald lehnte die Zumuthung fast verletzt ab.

Scharfeneck kam selbst nach einigen Jahren noch auf manche Ausläufe der Verirrungen, die sein Schwager durchlebt hatte, zurück.

Während er Ernestinens Entschluß, sich der Ehre Oswald's und dem Rufe seiner Eltern zum Opfer zu bringen, in einer für dessen Gefühl fast übertreibenden Weise pries und sich jetzt, seit Ernestine verschollen war, fast mit ihr ausgesöhnt hatte, häufte er über die Dinge, welche sich rings um Oswald's verblendete Sinne, wie er sagte, damals so behaglich ausgebreitet hatten, allen Spott, dessen seine scharfe Beobachtungsgabe nur fähig war.

»Um Dir ein Bild von Deinem edlen Volke zu geben,« sagte er, »geh' einmal in eine der [174] Nebenstraßen des Schloßplatzes! Dort findest Du ein Modegeschäft unter der Firma: ›Siegmund Hartmann und Comp.‹ Eine reizende junge Frau sitzt am Fenster und nimmt die Bestellungen an. Es ist Malvina. Das Geld, das zu diesem Geschäfte nöthig war, hat einen Ursprung, der Dir die eigenthümliche Vorstellung, die alle diese Menschen mit Macht und Besitz verbinden, vergegenwärtigen wird. Ernestinens Brüder wußten nichts von Wächter's bei ihr aufbewahrtem Gelde. Sie kamen nur in der Absicht, durch ein Gewebe von Lüge die Schwester zu bestimmen, ihre Verbindung mit Dir zu ihrem Vortheil auszubeuten. Exploitiren! Das ist nach oben eine Kunst, die doch noch manchmal Ueberwindung kostet; nach unten versteht sich das Exploitiren von selbst. ›Wie machen wir's, daß Der einmal herausrückt!‹ war das Thema ihres verschmitzten Planes. Hartmann würde sich viel zu vornehm gedünkt haben, mit diesen Leuten gemeinschaftliche Sache zu machen. Sie nannten ihn um Malvina's und der Schwester willen, die vor diesen Namen schauderte. Hartmann war nur schlecht in einem ganz andern Stil. Woher bekommen wir Juristen unsere allerdings traurige Verachtung und Gleichgiltigkeit vor den menschlichen Characteren? Kann man sie uns verargen, wenn [175] wir Thatsachen erfahren wie die: Hartmann nimmt die Liebe der in seine Vernisstiefeln und seine Cravattenknoten vernarrten und auf eine, wie man nach Verirrungen dieser Art oft findet, geregelte Ehe fast mit einer Art Prüderie bedachten Malvina mit ruhigem Hochmuth an und beschließt, seine pariser Erfahrungen und sein Hé! Holà! Houp! dadurch zu nutzen, daß er ein Modemagazin anlegt. Woher aber das Geld dazu nehmen? Rathe! Er, verlobt mit Malvina Wilde, schreibt an den jungen Grafen Luchsifuchsi! Dieser schickt verächtlich für einmal einen Beitrag zur Ehe und zum Etablissement. Jean Morbiller, sein Kammerdiener, der Wuchergeschäfte macht, oft mit seinem jungen Herrn selbst, schießt ein Capital vor und macht sich nunmehr zum Herrn der ganzen, jetzt eröffneten Firma ›Siegmund Hartmann und Comp.‹. Ob da nun früher ein Schimmer von Poesie vorhanden war, den ich in meiner Skizze, wie oft ein junges Wesen in diesen Sphären der raffinirtesten Verführung unterliegen muß, andeutete, das mildert sich nun Alles ab in Täuschung und löst sich in Verhältnisse auf, wie sie leider eben dazu dienen müssen, die Großen so unverbesserlich hochmüthig und von den Kleinen so unverbesserlich geringschätzend denken zu machen.«

[176] »Du hast Recht,« sagte Oswald mit Bitterkeit, »ich werde mir auch deßhalb lieber eine Fürstin zum täglichen Umgang wählen. Frau von Wolmany empfahl mich wenigstens in ein Haus, wo ich solche Erfahrungen, wie Du sie schilderst und ich selbst erlebte, nicht wieder machen werde.«

»Thu' das!« fiel Scharfeneck ein. »Besuche die Cirkel der jungen Fürsten Bagration! Schade, daß sie nicht aus Petersburg, sondern aus Italien kommen. Feodore Bagration, die berühmte Bildhauerin, meißelt ihre Amor's und Psyche's nicht, um sie nur vom Hofe bewundern zu lassen. Sie rafft Künstler und Gelehrte, Civil und Militair, Alles durcheinander auf, um ein Haus zu machen, in welchem Dir vielleicht einmal ein Reisender aus Petersburg begegnet, der Dir von der guten und vortrefflichen Ausnahme Ernestine Waldmann Nachricht bringt.«

Und wirklich erlebte Scharfeneck, daß sein Schwager ein eifriger Besucher einer zahlreichen russischen Familie wurde, deren jüngere Mitglieder aus Italien zurückgekehrt waren, um sich mit den ältern, die aus Petersburg kamen, in dieser Residenz ein Rendezvous zu geben. Das ehrwürdige Haupt dieser reichen und kunstsinnigen Familie war eine Matrone, die von Moskau eintraf. Es war eine geborene Deutsche, [177] eine hochgebildete, wohlwollende Frau, leider seit Jahren erblindet. Scharfeneck erfuhr, daß sich Oswald, eingeführt von Frau von Wolmany, gerade am liebsten in dem engern Kreise dieser greisen Fürstin bewegte und oft in der Woche zwei bis drei mal bei ihr den Thee trank. Die Schwester wurde fast eifersüchtig, wenn Oswald die Behaglichkeit dieser Abende rühmte. Die greise Fürstin ordnete, als sie ankam, sogleich ihren Kreis für sich an. Ihre Enkel und Enkelinnen waren ihr zu erregt, zu lärmend. Sie hatte eine kleine erlesene Gesellschaft für sich, eine Gesellschaft, die ihr mit etwas Umständlichkeit angemeldet wurde, dann auf wollenen Teppichen nahte, in dem matterhellten Zimmer Platz nahm und sich die Gespräche gefallen lassen mußte, die die eigenthümliche und etwas strenge erblindete Dame nach ihrem Wunsche angab oder nach Gefallen abschnitt. Wenn Oswald's seitdem merkwürdigerweise fast wie ungewandeltes Wesen, seine fast zurückgekehrt scheinende Heiterkeit erwähnt wurde, pflegte Scharfeneck in seinem illusionslosen Eifer zu äußern: »Sage man, was man wolle, es liegt etwas Veredelndes, Erhebendes, Läuterndes im Umgang mit den bevorzugten Ständen! Geringe Anschauungen mögen da am allerwenigsten fehlen, aber sie werden entweder verborgen [178] oder nur nach dem Maßstabe irgend eines allgemeingiltigen Gesetzes ausgesprochen. Immer sucht man doch die Vermittelung mit dem Ueblichen und Ueberlieferten. Und welche unaussprechlichen Wirkungen liegen schon im Tacte! Ist der Tact schon die eigentliche Seele der Musik, ohne die all' ihre sonstige Harmonie nicht bestehen kann, so ist der Tact im Umgang geradezu die wahre Seele des Handelns. Wie schleift sich in solcher Umgebung alles Schroffe und Spröde ab! Wie sind die Menschen auf einander angewiesen und tauschen nur ihr Bestes und ihren wahren Reichthum miteinander aus! Ernst ist jetzt erst in die Bahn getreten, in die ich ihn von Anfang an drängen wollte. Er wird jetzt seinen Werth zu schätzen lernen und sich nur an Das verlieren, was seiner würdig ist.«

Eine Störung dieser glücklichen Zeit brachten häusliche Trauerkunden. Die Eltern Oswald's und Evelinens erkrankten und schieden in kurzen Zwischenräumen rasch nacheinander. Der Fall war erschütternd. Der Schmerz, zwei so theure Wesen so kurz hintereinander zu verlieren, schien anfangs kaum zu ertragen; aber in die Trauer mischte sich, wie gewöhnlich, sogleich die Umständlichkeit der Erbschaftsanordnungen. Wenn Menschen, die uns theuer sind, [179] aus dem Leben gehen, will nur unser Herz klagen, und sogleich wird unser Verstand, nicht selten unsere Leidenschaft in Bewegung gesetzt. Es ist dieß traurig genug, aber es ist so.

Ueber diese Zwischenfälle, erst der Trauer, dann der Erbschaftstheilung, ging der Winter hin.

Als die ersten Lerchen stiegen und eines Tages Oswald nur mit Mühe zu bewegen war, einen Spaziergang durch die vom Eise befreiten Felder vor den Thoren der Stadt mit seiner Schwester und dem Schwager zu unternehmen, mußte er, da er wieder das Haus der Fürstin vorschützte, den Vorwurf hören, daß ihn jetzt diese Welt des vornehmen Scheins denn doch auch zu sehr in Anspruch nähme; ja Scharfeneck ließ sogar in der Laune des Nachtisches – Oswald hatte wie oft bei seinem Schwager zu Mittag gegessen – das Wort fallen: »Ich glaubte wahrhaftig, Du liebtest die Prinzessin Feodore und spieltest, wie sich für einen jungen bürgerlichen Advocaten kaum anders ziemt, bei dieser Dame die Rolle eines Toggenburg; aber ich höre ja ganz anders! Ich höre, daß Du ganz der treue Bologneser der alten blinden Fürstin bist und ohne die Wärme ihres Kamins und die Stille ihrer Teppiche nicht mehr leben kannst. Wer hätte das gedacht!«

[180] Oswald hatte schon den noch mit Flor umbundenen Hut in der Hand. Er stockte einen Augenblick, dann zog er sein Portefeuille und fragte den Schwager – wo er seine Verlobungskarten hätte stechen lassen? …,

»Verlobungskarten?« fragte man erstaunt.

Und zur Bestätigung, daß auch er ein solches verhängnißvolles Blättchen wollte vervielfältigen lassen, reichte er Beiden ein Papier. Man ergriff es und las:

 

Ernestine Waldmann,
Ernst Oswald.

 

Sprachlos stand die Schwester. Sie mußte an dem sonnenbeschienenen, mit Hyazinthen geschmückten Fenster, das sie eben öffnen wollte, um die erquickendste Märzluft in's Zimmer einzulassen, sich festhalten.

Man rieth auf einen Scherz.

Oswald aber erwiderte feierlich: »Zu allen Zeiten wären mir diese Erinnerungen zu heilig gewesen, um mit ihnen zu scherzen. Es ist Ernst! Hört, was in diesen sechs Monaten der Trauer um unsere Theuern mich aufrecht erhalten hat, was mir die Kraft gab, mit der Fassung, die Ihr sonst an mir kaum gewohnt seid, unter dem Druck der schwierigsten Pflichten nicht zu wanken!«

[181] Und so erzählte er:

»Im Hause der blinden Fürstin Bagration, in dem grünen verhangenen Zimmer, auf den stillen Teppichen, beim Schimmer eines mattgeschliffenen Lampenglases hab' ich Ernestine Waldmann wiedergefunden.

Nach der wilden Schreckenszeit, die sie durchlebt hatte, war sie dem Norden zugeflüchtet, erst in der Absicht, dort in untergeordneten Verhältnissen zu dienen. Aber bald wurde ihr Werth erkannt. Man zog sie nach Moskau, wo sie in eine Familie aufgenommen wurde, die ihre Bildungsfähigkeit nicht nur, sondern ihre wirklichen schon erworbenen geistigen Besitzthümer mehr zu schätzen wußte, als nur ihr Herz, dessen stiller Druck, dessen noch immer nicht ausgerungener Schmerz ihr auch nicht die Miene gegeben haben würde, um in der Salonwelt zu gefallen. Man stellte sie bei der erblindeten Fürstin Bagration, einer geborenen Deutschen, als Vorleserin an. Ihr reines, zum Herzen sprechendes Organ, ihre gewählte Aussprache, ihre unermüdliche Geduld im Ertragen der vielen Launen einer mißmuthigen und verwöhnten hohen Frau und ihrer noch verwöhntern Umgebungen erwarben ihr, wie ja das nicht anders geschieht, zwar nicht die wahre volle Anerkennung ihrer [182] Trefflichkeit, aber brauchbar erschien sie und sehr nützlich und zuletzt, wie die vornehme Kälte dafür immer vom gerechtern Schicksal bestraft wird, nothwendig.

Nach zwei Jahren sprach man von einer Reise nach Deutschland. Die Rückkehr nach der Heimath konnte Ernestinen nicht erlassen bleiben, denn eine Weigerung, dorthin zu folgen, würde von diesen starkwilligen Menschen nicht angenommen worden sein.

So fügte es der versöhnendste Zufall, daß ich sie wiedersah, als beim Eintreten zur Fürstin gerade eine sanfte Stimme aus Humboldt's ›Kosmos‹ vorlas und mein Auge nicht sogleich auf die weißgekleidete junge Vorleserin fiel. Die Stimme versagte der Lesenden schon, als ich gemeldet wurde. Aber die Fürstin zwang sie, dem ihr von ihren Enkeln vorgestellten Neuling ihres Cirkels noch einmal einige Stellen mitzutheilen, über die sie sogleich ein Gespräch mit mir anknüpfen wollte. Ich erkannte weder sogleich die Gesichtszüge der Vorleserin, noch ihre bebende, nach Fassung ringende Stimme. Erst als sie schweigen, als sie leise sich entfernen durfte, erst da war es mir, als hätte ich eine alte Melodie in meinem Gedächtnisse anklingen gehört, als zöge etwas Geisterhaftes, Fremdes und doch so unendlich Bekanntes durch's Zimmer. Ich wagte es, nach dem [183] blassen jungen Mädchen, das so sicher die schwierigsten Worte und in so vollkommener Aussprache vorgetragen, eine schon die Wahrheit ahnende Frage zu stellen. Ich hörte, schon zitternd, von der blinden Fürstin den Namen Ernestine und Ernestinens Schicksal.

Einen Besuch zu ihr selbst, im obern Stockwerke, durfte ich nicht wagen. Aber zwei Tage darauf, an demselben Kamin, in derselben Beleuchtung gab ich Ernestinen zum Gruße meine zitternde Hand. Die Fürstin sah es nicht …, sie war blind. Sie sah die stumme Begrüßung zweier Menschen nicht, die das Schicksal für einander bestimmt hat.

»Was haben Sie?« fragte die Fürstin in französischer Sprache, als Ernestine eine Antwort auf eine von ihr gewünschte Auskunft geben sollte.

Ernestine wußte, daß in dieser Umgebung ihr Leid und ihre Freude nicht gelten durften. Sie bezwang ihr Gefühl und erwiderte in gleicher Sprache, …, ihr wäre nicht wohl …,

»Sie haben zu viel gearbeitet,« sagte die Fürstin; »wissen Sie,« fuhr sie zu ihrem Besuche sich wendend fort – »wissen Sie, Herr Oswald, diese junge Dame hat den Fanatismus der Bildung. Ich erlebe noch, daß sie Griechisch lernt! …,«

[184] Ernestine lächelte und sagte nur mit verweisender Bitte: »Durchlaucht! …,«

»Ja, ja! Warum soll ich es nicht verrathen,« fuhr die Fürstin fort, »ich habe Fräulein Waldmann als eine junge Dame kennen gelernt, die vor den Wissenschaften zwar schon viel Achtung hatte, aber nicht gewagt haben würde, den ›Kosmos‹ zu lesen aus Furcht, über die schweren Ausdrücke in ihm zu straucheln. Sie faßte Muth und strauchelt jetzt nicht mehr. Aber,« fuhr die Fürstin fort, »ich höre daß ihre Wangen bleicher sind, als sich für so viel Jugend und wie ich höre Schönheit ziemt. Nicht von Andern hör' ich's, daß Sie schön sind, Ernestine; wer anmuthig ist, das hört sich an der Stimme. Wir Blinden sehen mit allen den Organen, die bei Euch nur hören und fühlen können.«

Und dann begann die Fürstin wieder von sich selbst …,«

Oswald erzählte, er hätte während dieser Worte Ernestinens zitternde Hand in der seinen gehabt, hätte sie mit Küssen und mit Thränen bedeckt. Darauf wäre ein Besuch gemeldet worden und der Abend in jener Selbstbeherrschung vorübergegangen, die einen neuen Reiz, einen neuen Zauber über dieß Wiederfinden ausgebreitet hätte.

[185] »Ach,« erzählte Oswald mit leuchtenden Augen, »es begann jetzt ein Glück, dem ich oft versucht war, in Eurer Gegenwart Worte zu leihen. Aber ich begnügte mich, Euch nur die strahlenden Mienen meines Antlitzes zu zeigen. Giebt es denn einen süßern Reiz als das Geheimniß der Liebe? So sich entbehren müssen und sich dennoch besitzen, so unter Fremden verweilen, sich scheinbar fremd und doch so fest sich angehören, so unter dem schützenden Deckmantel der Formen und des Tactes sein theuerstes Besitzthum nicht an Die verrathen, die es ganz zu würdigen doch nie verstehen würden! Ich war glücklich selbst in diesem Zwange, den wir uns auferlegen mußten. Ein Briefwechsel entspann sich statt der persönlichen Begegnung, die nicht zu oft stattfinden durfte. Und wie sprach sich Ernestine in diesen Ergüssen einer gebildeten, bewußtgewordenen Seele aus! Noch immer war sie ein Mädchen aus dem Volke, sie stand über den Formen dieser conventionellen Welt, die sie sich nur angeeignet hatte als eine leider unerläßliche Bedingung ihrer neuen Existenz. Sie ging nicht in diesen Formen auf, nahm sie nicht für mehr, als was sie sind. Sie blieb das frohe Geschöpf der Natur, harmloses Kind bei aller grausamen Zweideutigkeit, in der das Leben schon mit [186] ihr gesprochen und ihr die von Träumen aufschreckende Wahrheit unserer gesunkenen Civilisation gezeigt hatte. Diese Briefe sollt Ihr lesen. Wenn ich eintrat zur Fürstin, wechselten wir unsere Empfindungen aus, Rückblicke, Erlebnisse, aufgeschrieben in Blättern, die wir uns beim ersten Gruße in die Hand drückten. Ihr werdet den Antheil lesen, den sie an unsern herben Verlusten nahm! Sie, die Mutterliebe und Vaterwürde nicht aus eigener Erfahrung kannte, wie rührend spricht sie von beiden! Ernestine hat mir während des ganzen Winters, wo der Tod eine Ausgleichung zwischen dem allzu vielen Glücke, das mir werden sollte, herstellte, nur drei oder vier mal Gelegenheit geben können, sie auf offener Straße, frei vom Zwange der Formen, in denen sie lebte, zu sehen. Wir wanderten in die Vorstadt, sahen mit Rührung das elterliche Haus, das in andern Händen sich befindet; ihr Vater arbeitet mit den Kindern bei andern Gärtnern, empfängt Unterstützung von Ernestinen, und hat trotz seines Alters und seiner vielen Kinder zum zweiten male geheirathet! Wir sahen das Haus, wo Ernestine in ihrem einsamen Zimmerchen die Schrecken mit den drei nach der Gefängnißstrafe wenigstens vor ihr verschollenen Brüdern erlebte. Die Erinnerung an Ludwig Wächter [187] zuckte in ihr schmerzvoll auf. Sie sagte: ›Schon einmal bin ich gestorben, als ich mich von Dir losreißen und dem unglücklichen Manne mich zum Opfer und Ersatz darbieten mußte. Aufleben in dieser Welt, die ich auf ewig fliehen mußte, konnt' ich nur durch Dich!‹ Aber zu selten,« fuhr Oswald fort, »zu selten wurden mir diese Augenblicke der Vertraulichkeit mit meiner wiedergefundenen Liebe. Der Zwang eines so vornehmen Hauses ist fürchterlich. Ernestine ist das Augenlicht jener Fürstin, die mit Geist und einer nicht zu leugnenden Herzensgüte doch auch die ganze Strenge ihrer Kastenansprüche verbindet und Ernestinen wie ein Instrument behandelt. Immer muß sie in ihrer Nähe sein, immer bereit, der Dolmetscher ihrer Unruhe und Wißbegier zu werden. Sie muß es die Fürstin gleichsam vergessen lassen, daß sie blind ist. Mit meiner Verlobung endet ein Verhältniß, das an Ernestinen wie ein Fieber zehrt. Sie bedarf der Erholung, der Pflege, und ich hoffe, wenn noch ein Funke von Freundschaft für mich in Euren Herzen lodert –«

Scharfeneck ließ Oswald nicht ausreden und versicherte ihn seiner innigsten Theilnahme. Oswald blickte fragend auf die Schwester, die gerührt schien, aber doch nicht einem von ihrem Bruder angedeuteten [188] Wunsche eher entgegenzukommen wagte, bis nicht ein Blick auf ihren Gatten ihr die Bahn des Rechten angewiesen.

Scharfeneck sagte: »Du willst, daß wir sie bis zu Deiner Vermählung bei uns aufnehmen?« Oswald bejahte.

Man erwog die Möglichkeit, Ernestinen ein Zimmer einzuräumen.

Es geschah nicht ganz in der raschen Freudigkeit, die Oswald gehofft hatte. Er grollte. Aufdrängen wollte er nicht, was er mit liebendem Entgegenkommen begrüßt und mit Sehnsucht an sich gezogen wünschte.

Scharfeneck befreite ihn aber von allen Verlegenheiten. Er überholte alle seine anderweiten Entschlüsse, indem er noch am selben Tage selbst zur Fürstin ging, von ihr selbst, fast wie ein Brautwerber, Ernestinen für seinen Schwager als künftige Gattin erbat und sie aus dem staunenden hohen Familienkreise nach einigen Tagen in der That in die Arme seiner Gattin führte. Oswald war glücklich, als er endlich die Umarmung dieser Menschen sah, die ihm über Alles gingen. Ernestine weinte – ihre Thränen rührten alle.

Nicht so sehr der Rückblick auf ihre Vergangenheit that weh, als der Gedanke an ihre Zukunft. [189] Sie war von hoher schlanker Gestalt, von edlen Formen, die blonden sich niederwärts senkenden Locken standen ihr wie einer stillen Abendlandschaft Mondenschein. Aber sie war krank. Die Blässe ihres Antlitzes verrieth, welche Anstrengungen es sie gekostet hatte, sich die Bildung zu erwerben, die man in der That bei ihr antraf. Um diese Augen, die so hell, so geisterhaft glänzten, lagen die düstern Schatten nächtlicher Stunden, die an der Lampe hingebracht waren. Die Stimme so wohltönend und kräftig, und der Körper, den sie beseelte, so hinfällig und erschöpft. Oswald konnte sich nicht verschweigen, daß Ernestine, wie sie beim Lampenschein in dem dunklen Zimmer der blinden Fürstin vorlas, und wie sie hier unter den frischen Eindrücken des gesunden Lebens am hellen Sonnenlichte stand, zwei verschiedene Wesen war. Es bekümmerte ihn, als er in den Augen der Seinigen trotz der Theilnahme mehr Wehmuth als Freude entdeckte. Selbst Abneigung würde ihn nicht so geschmerzt haben wie die Rührung, mit der die Schwester dem weinenden Mädchen zusprach.

Die Verbindung wurde angesetzt, dann wieder aufgeschoben. Ernestine kränkelte. Sie war wie eine Blume, die im Treibhause sich entwickelt hatte, aber [190] dort gewachsen und erstarkt, die Luft des wirklichen Lebens nicht ertragen konnte. Ihre Bescheidenheit machte niemals den Umfang ihres Wissens geltend. Sie hatte der Fürstin mehr Bücher vorgelesen, als Oswald's Schwester je hatte nennen hören. Und nicht bloß äußerlich kannte sie alle diese, den verschiedensten Bereichen angehörenden Werke, sie hatte sie auch in sich aufgenommen. Sie verstand Französisch und Englisch. Um ihre Ausbildung ganz vollkommen zu machen, fehlte ihr nur die Musik. Oswald stand oft vor ihr mit gefalteten Händen. Er betrachtete sie wie eine Heilige. Er nannte ihr Leben ein Wunder.

Die Wunder dieser Welt sind nur kurze Geschenke des Himmels. Ernestine litt an allen offenen und geheimen Zeichen jener Krankheit, die man ein schon auf Erden sichtbares Engelwerden nennen kann. Diese zunehmende Reife der Seele, diese glänzenden Augen der Verklärung, diese wachsende Stärke des Gemüths, die feste, ruhige Vorbereitung auf den endlichen Abschied vom Leben, das Verschwinden aller Zeichen des physischen gesunden Seins, der beschleunigte Puls, die magernde Hand, die sich zuspitzenden Formen des Antlitzes, – Alles verrieth die Zehrung, die Ernestinen dem Grabe zuführte. Das einst so blühende, frische Mädchen verschwand zum Schatten.

[191] An einem frühen Herbstmorgen hauchte sie die vielgeprüfte Seele im Arme des Verlobten aus.

Als sie zur Ruhe bestattet und ihr Grab mit Blumen geschmückt war und Oswald zum ersten male die Kraft gewann, selbst zu reden, nicht den tröstenden Zuspruch nur der Andern zu hören, sagte er zu Scharfeneck, des Freundes Hand ergreifend:

»Nun versprech' ich Dir, nur noch nach oben zu sehen. Dein Emporblick ist Himmelsblick geworden. Mein Stern dort oben glänzt so hell, daß ich ihn nicht mehr verlieren werde.«

Der sanfte, stille, junge Mann schied auf einige Zeit aus dem Kreise der Freunde. Er kehrte zurück nicht ohne die Tröstungen, welche die Schönheit der Erde wohl bieten darf; doch blieb er bei seinem Worte. Alle seine Anschauungen, alle seine Gedanken leben nur wie in einer jenseitigen Anknüpfung. Was um ihn her ist, das erfaßt wohl sein Auge, zumal wenn sich mahnende Forderungen der Pflicht an ihn richten; aber sein eigentliches Leben und Sein fesselt nichts Niederes mehr. Was ihn wahrhaft erhebt, muß in die Höhe gehen. Um mit dem Leben abzuschließen noch zu jung, pflegt er wohl zu Scharfeneck zu sagen: »Was ich auch beginne oder erfahre, ich verlasse mich auf eine Hand, die aus den Wolken zu mir niederlangt.«

[192] Wir schließen diese Schilderung der Folgen eines träumend und zwecklos hingelebten Sonntagnachmittags mit der Verwahrung, als hätten wir düstre Scenen aus dem Leben des Volkes deßhalb nur erzählt, um dessen in sich befriedigte und selbstgenügsame Abgeschlossenheit darzuthun. Ernestine und Ludwig Wächter bleiben nur Beispiele, wie schwierig die Bildung des Volkes bedingt ist. Möchte unsere Zeit, die sich bei ihren vielen philanthropischen Zwecken auch den gesetzt hat, Formen des bildenden und emporziehenden Verkehrs der höheren Klassen mit den niederen zu erfinden, einen Mittelweg anbahnen lernen zwischen spröder Ablehnung der Volkselemente und allzusorgsamer Beflissenheit, ihnen entgegenzukommen. Noch ist das Leben der Massen ein Chaos. Die Lichtstrahlen der Liebe zu ihm waren noch nicht stark genug, es ganz zu erhellen. Mag man die vorstehenden Blätter als fragmentarische Studien ansehen, diesem spröden Stoffe wenigstens in der Erkenntniß der dabei in Betrachtung zu ziehenden wirklich gegebenen factischen Sitten und der oft in den wunderbarsten Gegensätzen befangenen Meinungen beizukommen.


Ende.

 

Prag 1855,
Druck von Kath. Gerzabek.

 


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