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Oswald hatte in der von Ernestinen im Protocoll bezeichneten Wohnung vier Stiegen hinter sich und hielt jetzt einen Draht ohne Griff in der Hand, der eine Klingel bedeuten sollte.
Eine alte Frau öffnete.
Die Nähterin, die für den Frauenverein arbeitete, hieß es, wäre nicht daheim, würde aber wohl jeden Augenblick kommen. Oswald fragte, ob er warten dürfte. Mit dem größten Vertrauen öffnete man ihm eine auf den engen Vorplatz hinausgehende Thür …,
Er trat in Ernestinens kleines, aber freundliches Zimmer. Nur ein Fenster erhellte es; es ging auf's [76] Dach hinaus. Eine Schlafkammer nebenan war geschlossen. Unter den schrägen Seitenwänden der Mauer nach der Straßenseite zu standen eine Commode, ein geschlossener Waschtisch. Die Fensternische selbst war verstellt mit einem Tisch, auf dem unter mancherlei Nähapparaten ihm Schulhefte und Bücher auffielen. Auf dem Fensterbret stand ein Tintenfaß mit einem Kästchen, das wahrscheinlich Stahlfedern enthielt. Die Beinhauer'sche bunte Etiquette der Stahlfedern lag wenigstens auf dem Tische zerschnitten zu kleinen Sternen, auf denen Zwirn und Seide aufgewickelt war. Die Wirthin, die mehr aus Höflichkeit als aus Mißtrauen den wahrscheinlich seiner Weiß-Wäsche wegen so hoch gestiegenen Herrn aufhalten wollte, erzählte ihm von Ernestinens Fleiß und lachte über die Bücher und Schreibhefte. Oswald, wohl entnehmend, daß Ernestine die Absicht hatte, ihre wildwachsene Erziehung etwas zu berichtigen, blätterte darin. Es waren französische Elementarbücher, Rechenbücher, Lesebücher mit verschiedenen Schriftsorten. Der Lehrer, erfuhr er, war auch hier wieder Herr Wächter. Oswald gefiel sich in dem Gedanken, ob dieser Trieb der Selbstbildung wohl über Ernestinen gekommen wäre, seit sie sich so plötzlich seines Interesses für sie beraubt sah? Einige Augenblicke darauf nahm ihm Ernestine selbst [77] diesen Glauben und sagte ihm als nächste Ursache dieser Studien eine ganz andere Veranlassung.
Ernestine war nach einer Viertelstunde erschienen. Sie erröthete wohl, war aber von dem Besuche Oswald's nicht überrascht. Sie gestand ihm offen, daß eine innere Stimme ihr gesagt hätte, ein ihr und ihrer Familie früher so freundlich gewesener Mann würde nach der traurigen Begegnung vor den Schranken des Gerichtes sie nicht unbesucht gelassen haben, um ihr ein Wort des Trostes zuzusprechen. Oswald erstaunte, Ernestinen von dem Geschick ihres Verkehrs mit den Gerichten fast ganz allein erfüllt zu sehen. Er hätte viel lieber gehabt, in Ernestinens Seele nur das eine Gefühl, das des Schmerzes und des Verlassenseins durch seine Trennung, anzutreffen. Im Gegentheil, diese Trennung verstand sich für Ernestinen, wie sie sagte, von selbst. Was sollte er auch länger in ihrem Hause, in ihren bescheidenen Verhältnissen, unter rohen Geschwistern, die ihr schon angefangen hatten Schande zu machen! Von ihrer glänzenden Ausfahrt mit der immer abenteuerlicher gewordenen und doch nach Scharfeneck's Erzählung fast bemitleidenswerthen Malvina sprach sie wie von einer großen ‚Unvernunft,‹ welche die Quelle alles ihres gegenwärtigen Mißgeschickes geworden wäre. Und [78] als Oswald sie über den Proceß beruhigte und von ihrer dem Inquirenten, seinem Freunde, vollkommen erwiesenen Nichtbetheiligung an dem Leichtsinn eines Mädchens, das später auf den Namen bald des Grafen, bald seines Kammerdieners überall entliehen und geborgt hatte, sprach, mußte er die mit wahrer Angst ausgesprochene Frage hören: »Aber kommt denn das nicht Alles vor's öffentliche Gericht?«
Oswald beruhigte sie und erstaunte, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß Ernestine Ehrgeiz besaß. Sie gestand ihm, daß sie zum ersten male über ihre mangelhafte Bildung erschrocken wäre, als sie, wegen ihrer Brüder vor Gericht gerufen, lesen, schreiben und einige dabei vorgekommene Zahlenverhältnisse hatte ausrechnen sollen. Man hätte damals manches Wort, das sie eben gesprochen, in der Niederschrift verbessert; seitdem wage sie kaum den Mund aufzuthun in der Angst, die Sprache wohl irrthümlich zu gebrauchen. Sie war darüber so in Sorge gerathen, daß sie beschlossen hatte, nachzuholen, was bei dem traurigen Frühverbrauch der Kinder zu den Zwecken des Hauses und der väterlichen Gewerbe bei den Kindern der Armen auch an ihr versäumt worden wäre. Oswald erstaunte über alle diese Aufklärungen, die Ernestine in einer eigenen Mischung von Scherz und Ernst [79] gab. Ausdruck von Bedeutung gab ihr dabei ihre Darstellung der Lagen, in denen sie seither sich befunden, und eigentlich raffte sie Alles mit Aengstlichkeit zusammen, was sie an Thatsachen nur auftreiben konnte, um nur ihren Besuch zu unterhalten oder wohl noch mehr, um eine gewisse Leere und Lücke nicht eintreten zu lassen, die bei einem gefahrvollen Gegenüber mit Männern für Frauen oft verhängnißvoll wird. Oswald hatte freilich des plaudernden Mädchens Hand ergriffen, aber es lag so viel Unbefangenheit in ihr, daß er seiner aufwallenden männlichen Empfindung Schranken setzte …, Die in Scharfeneck's herber Skizze mitgetheilten Verhältnisse kannte sie größtentheils. Sie bestätigte dieß chaotische Drängen und Ringen im Schooße des Volkes. Sie bestätigte dieß halbbewußtlose Treiben und Wachsen der Masse, dem ein Ziel und Anhalt überall fehle. In der That thut es so außerordentlich Noth, daß die Bildung selbst sittlich feststeht und sich von Unten her nur das Gute anschließen läßt.
Inzwischen kam eine Störung. Herr Wächter, der Lehrer, hatte draußen geklopft. Oswald erhob sich mit der Bitte, sich zuweilen nach Ernestinens Wohl erkundigen und sie mit seinem Rathe unterstützen zu dürfen. Ernestine erröthete und dankte [80] befangen. Den blinzelnden Seitenblick des draußen harrenden Lehrers, der einen Stoß von Büchern unter'm Arme trug, bemerkte Oswald im Gehen um so weniger, als für sein mildes Gefühl schon bei Scharfeneck's Vortrag etwas Rührendes in dieser Abhängigkeit so vieler Bildungslosigkeit von einem einzigen verkommenen Lehrer gelegen hatte.
Und wem ist es dann nicht schon so ergangen, daß er zu einer Begegnung mit einem weiblichen Wesen sich mit allen Einflüsterungen seiner Eitelkeit und seiner Phantasie rüstete, sich ausmalte, wie er vor Augen, von denen er sich bevorzugt träumte, hintreten, wie sich niederlassen, wie sprechen, was erwidert hören würde, und zurückgekehrt an den Ort, wo die Phantasie oder die Eitelkeit ihre triumphirenden Erwartungen sich ausmalte, wie fühlte man sich enttäuscht, beschämt, nicht selten von einem edeln, würdevollen und tugendhaften Weibe bestraft!
Oswald hatte ein ähnliches Gefühl. Er hatte geglaubt, er würde von Ernestinen sich heute nicht trennen können, ohne daß sie vertrauensvoll in seinen Armen läge; er hatte geschwelgt in den Gedanken, sie würde ihre Trauer an seinem Herzen ausweinen; und nun war der Eindruck so völlig anders. Er fand sie gereifter, entwickelter als früher, wenn auch die [81] Röthe ihrer Wangen sich verloren hatte und dafür die Ränder der schönen vollen klaren Augen geröthet waren. Aber ihre ganze Erscheinung wirkte heute mehr electrisch abweisend, als magnetisch anziehend. Diese Bildungsstudien, wie erfreuten sie ihn, wie erfüllten sie ihn mit staunender Achtung! Aber daß er nicht aus Ernestinens Geständnissen hatte abnehmen können, sie dächte nur im Rückblick auf ihn an eine Ausbildung! Aus Furcht vor der gerichtlichen Oeffentlichkeit lernte sie? Das streifte alle Blüthen seiner Träume ab –
Und doch, doch wuchs auf die Länge wieder ihre ganze Erscheinung. Die Dachkammer des vierten Stockes, so still – so friedlich – dieß freie selbstständige Walten einer Arbeiterin für sich, – diese engbegrenzte, ihr allein angehörende Welt, – diese Wärme der Hand, die er einige Minuten gehalten hatte, – diese räthselhaften und so viel verschließenden Augen, – dieß sichere Sichselberangehören eines blühenden, schönen Mädchens – alles Das schmückte ihre Erscheinung mit neuen Zaubern und war wiederum etwas so Verändertes für Oswald's sanftes Gemüth, daß er zu Scharfeneck hätte eilen und ihm sagen mögen: Auch in dieser kleinen Welt, die Du verachtest und so herabsetzest, giebt es Erschei [82]nungen, welche die Seele ergreifen und die Dein ›emporgerichtetes‹ Auge lange prüfen müßte, bis es ihren Grund und ihr wahres Wesen ganz erforscht hätte. In weichen Seelen wirkt die Liebe electrisch; in starken magnetisch. Für Scharfeneck's Natur wäre es unmöglich gewesen, sich durch Ernestine angezogen zu fühlen. Oswald aber – je öfter er sie sah, desto offener wurde sein Bekenntniß. Sie beschäftigte ihn und nicht etwa nur sein Gefühl des Verlassenseins, sein Bedürfniß des traulichen Sichanschmiegens, wie er sich zuweilen vorwarf und mahnend sich anklagte; nein, die Wiederherstellung dieses Umgangs war tieferes Bedürfniß. Trug seine dem Idyllischen zugewandte Natur die Schuld, so konnte er diese Natur nicht ändern. Er sah Ernestinen fast jeden dritten Tag, schrieb ihr oft in der Zwischenzeit, schickte ihr Bücher zum Lesen, holte sie an Orten ab, wo er sie zu finden hoffen konnte. Und weil ihn zu diesen Huldigungen Liebe trieb, reine und lautere Liebe, so wagte er in beklemmender Betrachtung seiner Gesellschaftsstellung am wenigsten stürmische Bewerbung. Wieder fürchtete er, jede Berührung der Hand müßte die zarte Luftspiegelung seines gegenwärtigen Lebens zerstören. Es war wieder wie in der Vorstadt. Und ist nicht reine Liebe das Gegenbild Pygmalion's? [83] Pygmalion konnte nicht ertragen, daß ein Marmorbild von unendlicher Schönheit unter seiner Hand nur kalter Stein blieb und die Götter Griechenlands, die Götter des sinnlichen Olymp schenkten ihm eine in seinen Armen Fleisch und Blut gewinnende Galathee. Die Liebe der christlichen Welt aber formt umgekehrt die Wirklichkeit, das volle, warme, pulsirende Leben in Gegenstände der Anbetung um, in Marmorbilder, die nur der Andacht und Verehrung geweiht.
So verflossen bis zu einer hereinbrechenden Katastrophe Monate.
Oswald konnte vor den Augen der Nachbarn nur für Ernestinens Geliebten gelten und wie sehr er es war, bewies ihm die unbedingte Hingebung ihres Vertrauens. Würde sie sein Werben, seine Besuche, seine Aufmerksamkeiten geduldet haben, wenn sie davon nicht beglückt gewesen wäre? …,
Und fast ein Jahr ging so hin. Ernestine war von der Nothwendigkeit eines öffentlichen Erscheinens an den Schranken des Gerichtes verschont geblieben. Ihre Brüder waren von der Strafe, die sie für kleine Diebstähle traf, endlich wieder frei geworden; auch Malvina, die ›bei verschlossenen Thüren‹ ein Urtheil getroffen, war auf freien Füßen und hatte sich vom Schauplatz ihrer Verirrungen nach Hamburg [84] entfernt. Oswald vernachlässigte seine Laufbahn nicht. Er arbeitete in Civilsachen und mit Erfolg. Er schrieb den Eltern regelmäßiger als in der Zeit, wo er bei Frau von Wolmany verkehrte. Er war fröhlich, befriedigt durch sich selbst, durch seine Lage, durch Ernestinens Liebe, die ihm diese schenkte ohne einen Gedanken an die Zukunft. Sie wußte, daß sie nicht das einzige Mädchen aus dem Volke war, das einem von der Gesellschaft über sie hinaus gestellten Jüngling eines Tages nichts sein würde als ein aufgegebener Zeitvertreib oder ein Opfer der Rücksichten, die eine gesunde Vernunft in der Ordnung finden mußte. Oswald's Gattin …, das war ein Begriff, der unter ihrem Dache nicht ausgesprochen wurde.
Scharfeneck war verreist in die gemeinschaftliche Heimath. Um so eifriger in seinen Besuchen wurde Oswald eines Tages von einer seltsamen Unruhe überrascht, in der er Ernestinen betraf. Sie hatte schon oft in großer Angst ihm gestanden, daß ihre Brüder sie belästigten, Geld von ihr erpreßten, sie des Hochmuths anklagten und auf wilde Art ihr friedliches Leben störten. Sie hatte nicht den Muth hinzuzufügen, daß die Brüder aus ihrem Verhältniß zu Oswald Berechtigung zogen, sie mit Spott und Hohn [85] zu behandeln. Sie sagten ihr wohl, sie sei nur Ihresgleichen und kaum mehr als Malvina Wilde …, Oswald ahnte diesen Zusammenhang und glaubte, als er sie an jenem Tage in äußerster Unruhe antraf, ihr die Versicherung geben zu müssen, daß er sie vor den Belästigungen ihrer Verwandten schützen würde. Es war aber, wie sie sagte, eine andere Ursache, die sie in diese Aufregung versetzte. Oswald forschte. Unter Zusicherung des unverbrüchlichsten Schweigens erfuhr er, daß ihr ausdauernder, unermüdlicher Lehrer, Herr Wächter, ihr eine ansehnliche Summe Geldes übergeben hätte, die sie ihm aufbewahren sollte, er fürchte in seiner Wohnung seit einiger Zeit für deren Sicherheit. Oswald fand dieß Vertrauen lästig. Er sah darin eine Zudringlichkeit. Schon längst war ihm aufgefallen, daß er in dem nahe an die Vierzig gerückten Manne, obgleich er vor ihm seinen weißen Hut immer bis tief zur Erde zog, eine Art Rivalen hatte. Ernestine nannte Wächtern einen verkommenen und bemitleidenswerthen Menschen. Immer furchtsam, gedrückt, ängstlich hätte Wächter ihr schon oft gesagt: er sehne sich, die Liebe nur eines einzigen Menschen auf Gottes Erde zu gewinnen. »Es ist ein schmutziger Geizhals,« erwiderte Oswald, »ein Angeber, ein Zuträger, einer der Menschen, wie ich deren [86] Vielen schon begegnete, einem Fritz Hackert, einem Privat-Schreiber Schmelzing und ähnlichen unsichern Leuten, ohne die leider die Gerechtigkeit nicht den Sieg über die Werke der Nacht davontragen kann!« Ernestine hatte diese Anklage entschieden in Abrede gestellt und ihren Lehrer mit einer Wärme vertheidigt, die Oswald mit Scherz und doch verwundert aufnahm. Nun fand er das Vertrauen Wächter's, Ernestinen eine Summe von fünfhundert Thalern zur Aufbewahrung zu übergeben, geradezu aufdringlich. Er sah darin eine ganz offene Bewerbung, eine Darlegung seiner Glücksumstände und nannte das Geld einen Sündenlohn. »Nein,« erwiderte Ernestine, »ich weiß, daß Wächter seit Jahren spart, schon als Kind in einer Erziehungsanstalt ein eigenes kleines Vermögen erworben hat, weil sich vornehme Gönner für ihn interessirten, er darbt sich den Bissen vom Munde und lebt mit der Uhr in der Hand.« »Nun,« fiel Oswald ein, »dann ist die Verantwortlichkeit, die man für die Bewahrung einer so ansehnlichen Summe hat, nicht minder gefahrvoll.« Ernestine gab ihm Recht und versprach, dem Lehrer das anvertraute Gut schon morgen zurückzustellen.
Es war an einem Spätherbsttage. Scharfeneck war zurückgekommen und hatte dem Freunde tausend [87] Umarmungen und Grüße von der Heimath gebracht. Oswald nahm auf seinem Zimmer alle Beweise der Liebe mit gleicher Stimmung entgegen, verrieth aber doch, daß auf die Länge ihm Scharfeneck's Besuch drückend wurde: es war die Zeit, wo er nunmehr schon jeden Abend zu Ernestinen ging. Aber gerade, als wenn Scharfeneck geahnt hätte, daß Oswald eilte, gerade deßhalb blieb er. Er rauchte nicht einmal, streckte sich nicht einmal behaglich, wie er pflegte, auf dem Sopha, sondern trommelte mit den Fingern auf den Tisch und erzählte Dieß, erzählte Jenes und blieb. Wie Oswald nahe daran war, nach der Uhr zu greifen und damit ein discretes Zeichen seiner Ungeduld zu geben, begann Scharfeneck ein Geständniß, das den Freund seine Uhr, seine gewohnte Stunde und für heute Ernestinen vergessen ließ. Scharfeneck berichtete seine Verlobung mit Evelinen, Oswald's Schwester. Der überraschte Bruder sprang auf, warf sich dem Freunde an die Brust und mit Thränen, die ihm vor Freude und Rührung in die Augen traten, rief er: »Eveline verlobt? Und mit Dir? Doch mit Dir?« Scharfeneck mußte erzählen, wie er die längst im Stillen gehegte Neigung der Schwester für ihn erkannt und wie er dazu gekommen, sich auszusprechen. Eine Schwester, eine gute und selbstlose [88] Schwester kann einem selbstlosen Bruder über Alles gehen. Was wir Männer an dem weiblichen Geschlechte oft hassen, verdanken wir – wer will es widerlegen? – den Erfahrungen an Bräuten oder Gattinnen, und was wir an ihm wahrhaft lieben, verdanken wir der Erinnerung an unsere Mutter oder an eine Schwester, die sich bewährte und selbstlos war.
Nachdem Scharfeneck dem Freunde sein ganzes Glück erzählt, war natürlich für heute Oswald's Plan, Ernestinen zu sehen, aufgegeben.
Am folgenden Morgen kamen Briefe von Hause, Anfragen, Aufträge, Grüße wieder an den Freund, die er selbst ausrichten mußte. Er suchte Scharfeneck schon in aller Frühe auf, und so neu befestigt war jetzt der Zusammenhang beider Herzen, so viel gab es zu erzählen und so ernstlich Pläne zu entwerfen, daß Oswald wieder den ganzen Tag von Scharfeneck gefesselt blieb. Und konnte sich der jüngere Freund verschweigen, daß in dem Bunde Scharfeneck's mit seiner gebildeten, in geregelten, edlen, reinen, in der Weihe des Familienlebens aufgewachsenen und von ihr behüteten und nun ihm plötzlich ganz wie neu verklärten Schwester etwas lag, was ihn mit der Geschichte seines eigenen Herzens gegen den Freund tief herabdrückte? Hätte Scharfeneck die Hand der [89] Frau von Wolmany, wie man lange glaubte, gewonnen gehabt oder sich mit einer von den Finanzagententöchtern verlobt, sein Verhältniß zu einem armen Mädchen aus dem Volke würde ihm nicht nur mit der vollen Poesie einer höheren Berechtigung dagegen bestanden haben, sondern es hätte sein Gefühl an Wahrheit und innerer Begründung noch überwogen. So aber gegen diese ruhiggeschlossene, zwei edle Familien beglückende Verbindung, gegen diese von den heiligen Laren des Hauses gestützte Liebe, die eine hoffnungslose gewesen war, da Eveline nicht glauben konnte, bei Scharfeneck mit den Erscheinungen der großen Welt wetteifern zu dürfen, gegen dieß dennoch erfolgte Erklären der Gefühle des Freundes an dem kleinen Brunnen des Bades, am Rande der eingefriedigten Stahlquelle, in den traulichen Schatten eines nahegelegenen Parkes, der einst Scharfeneck selber gehören sollte, gegen diese tiefe, gehaltvolle, innere Sittlichkeit des Glückes seiner einzigen Schwester trat sein Bund mit einem Mädchen der Vorstadt, einer Schwester verbrecherischer Brüder, einer Proletarierin, die vor der Bewerbung eines unheimlichen Menschen, der ihr, um seine Mittel zu zeigen, fünfhundert Thaler aufdringt, wie vor einem maskirten und fast in ernstliche Ueberlegung zu ziehenden [90] reellen Eheantrage erschrecken mußte, entschieden in den Schatten. Er schwieg zwar nicht, als ihn Scharfeneck nach Ernestinen fragte, er verwies ihm seinen Spott, doch mußte er schweigen, als der Freund sagte: »Deine Eltern sind nicht wenig betrübt über diese Verirrung, wie ich sie nennen muß. Sie haben von mehr als einer Seite darüber die genauesten Erkundigungen eingezogen. Pfarrer Dämmer erzählt jeden Posttag Neues. Man glaubt Dich verloren. Ich gab aber dem Vater Recht, der mir sagte, sein Stolz verböte ihm, Dir über diese unglückselige Folge einer Bekanntschaft zu schreiben, die er leider selbst veranlaßt hätte. Ich erklärte Allen, daß Du Dich sammeln würdest. Und in der That komm' ich wieder auf meinen alten Satz zurück. Ich sprach von Goethe's Egmont vor länger als einem Jahre, denke an Jean Jacques Rousseau! Was wäre aus diesem großen Geiste geworden, wenn er sich von dem unwiderstehlichen Drange nach den untern Regionen der Gesellschaft hätte befreien können! Die Großen zogen ihn hervor und nur weil er linkisch war und eitel und sich nirgends benehmen konnte, erklärte er die Großen für falsch, hassenswürdig, erbärmlich und kehrte immer wieder in den Schmuz einer geringen Existenz zurück mit einem Weibe wie Therese Levas [91]seur! Wohl, Du willst kein Rousseau sein und ich will Dich nicht kränken, wenn ich Ernestine Waldmann mit Therese Levasseur vergleiche. Es mag ein braves, mit einem starken Geist begabtes und anziehendes Wesen sein. Aber die Umgebung, Freund! Diese Menschen, die an ihr haften! Wie kannst Du Das trennen von ihr, einen trunksüchtigen Vater, verbrecherische Brüder, sittenlose Freundinnen! Du sagst vielleicht, Du trügest sie Dir empor aus diesen Flammen wie Mahadöh der Gott der Erde beim Dichter das verlorene Kind der Sünde! Aber der Gott, der zu dem reinen Aether einer vorurtheilslosen Welt steigt, wirst Du durch eine Heirath mit diesem Mädchen nie werden. Im Gegentheil, mit ihr verbunden, dann beginnt erst die irdische Bedingung, dann hört die Entwickelungsfähigkeit, die sich jetzt an Deiner Hand zu bilden sucht, auf; dann tritt der Abschluß des Bishierher und nicht weiter! sogar unter dem Glorienschein der häuslichen Tugend und der bürgerlichen Einfachheit auf. Selbst dieß Abwerfen der angeborenen verwandtschaftlichen Elemente würde mich an dem Mädchen erschrecken. Ich würde immer fürchten, ein solches Wesen büße etwas von der Reinheit ihres Herzens ein, wenn man sich vor den Besuchen eines unwürdigen Vaters verleugnen [92] muß, wenn man nothgedrungen kalt und schroff gegen Brüder, Schwestern, Freundinnen aufzutreten hätte. Ich würde Dich ewig bemitleiden, Freund, wenn Du Dir diese Zukunft bereitetest. Noch ist es Zeit, daß Du Dich aufraffst! Noch gelingt Dir ein männlicher Entschluß und wenn Du Liebe bedarfst, wenn Du sehen mußt, daß Deine Person mit klopfendem Herzen irgendwo erwartet wird, so knüpfe irgendwo ein Verhältniß an! Geh' von diesen kleinen Wiesenrainen fort! Die Wolmany, eine Mitvorsteherin des Frauenvereins, hat nicht gelacht, als man ihr sagte, eine gewisse Ernestine Waldmann würde von der Liste der Arbeiterinnen auszustreichen sein, seit sie die ihr übergebenen Arbeiten unregelmäßig abliefere und ihren Unterhalt von einem jungen Referendar Namens Ernst Oswald bestritten erhalte – sie ist bleich geworden wie die Wäsche, die sie zu controliren hatte; sie fuhr noch im Spätsommer nach Marienbad; ich wette, daß diese Frau Alles aufgäbe, Litteratur, Kunst, alle Musen, Goethe, Schiller, die Vorlesungen, Alles, Alles, wenn Du Dich entschließen könntest …,«
Oswald unterbrach den Freund.
»Zücke Dolche auf mich,« sagte er, »aber vergifte sie nicht! …,«
[93] Aufgeregt schritt er im Zimmer, sprach von Uebertreibung, schmollte sogar, aber dieß neue Bild – das mit der Näharbeit, dem Frauenverein und der Frau von Wolmany – das wirkte wie damals der Bericht Dankmar Wildungen's vom Blindekuh-Spiel im Walde. Er sah diese Arbeiten, er hörte seinen Namen genannt. Dieß Gefühl, sich gegenständlich unter den Leuten zu wissen und im Munde Anderer und als Schatten an der Wand und besprochen und erörtert in einem verborgenen Verhältnisse – das war ihm furchtbar. Es verging wieder ein Tag, bis er sich entschließen konnte, Ernestinen wiederzusehen.
Scharfeneck benutzte diese Stimmung. Die Nachmittage, die Abende schnitt er dem Freunde geradezu ab, bemächtigte sich seiner und gab ihn ohne Gewalt nicht mehr heraus. Ernst Oswald, ein Gemüthsmensch, verzweifelte an seiner eigenen Schwäche. Er wollte an Ernestinen ein Lebewohl schreiben und zerriß die Briefe. Er wollte gehen und erschrak am fünften, sechsten Tage, wie er sein Ausbleiben bis zum vierten, fünften entschuldigen sollte. So gingen zehn Tage hin. Mit Gewalt legte er sich Entfernungen auf, die er zurückzulegen hatte, er nahm Fiaker und fuhr weit über Land, um sich zu zwingen, zu Fuß zurückzukehren, Abends spät erst wieder in der Stadt [94] einzutreffen. Dennoch erlag er. Bei einem dieser gezwungenen Spaziergänge überkam ihn in Mitten eines Waldes, an dem stillen Spiegel eines kleinen Sees, wo am Uferrand zwischen Schilf und Moos stillverborgen Vergißmeinnicht blühten, eine solche Wehmuth, daß er an sein zuckendes Herz greifen und fast laut ausrufen mußte: »Ich ertrag' es nicht länger!« Er rannte durch den Wald der Landstraße zu, rief den ersten Miethwagen an, den er leer zur Stadt zurückfahrend erblickte, sprang hinein und bezahlte für die beschleunigte Fahrt das Doppelte.
Noch war die Sonne nicht untergegangen, als er am Eingang der Straße, wo Ernestine wohnte, still halten ließ, den Wagen verließ und mit stürmischem Drange die Stufen zu dem bescheidenen Kämmerlein im Dache hinaufsprang. Er klopfte. Man öffnete nicht. Er klingelte. Man näherte sich drinnen schüchtern und behutsam. Die alte Frau, die den Kopf zwischen die kaum geöffnete Thürspalte steckte, fragte ängstlich: »Wer da?« Oswald nannte sich. Man öffnete und berichtete jetzt Dinge, die ihm das Haar zu Berge sträuben mußten …,
Ernestine war gefänglich eingezogen! Ihr Zimmer war untersucht, ihre kleinen Habseligkeiten waren versiegelt worden.
[95] Ludwig Wächter, den Lehrer Ernestinens, hatte man auf einem der am Wasser gelegenen Quais in verwichener Nacht ermordet gefunden. [96]