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In großen Städten verdrängt ein Ereigniß das andere. Nur der Anfang und das Ende dunkler Verwicklungen beschäftigt eine Zeit lang die allgemeine Neugier. Der Anfang über den Tod Ludwig Wächter's brachte eine Darstellung, die, aus vielerlei abweichenden Meinungen herausgelesen, etwa so lautete:
Ein Privatlehrer wäre in der Nacht auf offener Straße, am Kopfe mit einem scharfen Gegenstande stark verwundet, gefunden worden. Man hätte unter den Effecten seiner Behausung nach dem möglichen Anhalte irgend eines Verdachtes gesucht und unter seinen Papieren die Bemerkung gefunden, daß von ihm ein Ersparniß, im Betrage von fünfhundert [97] Thalern, an Ernestine Waldmann, eine von ihrer Hände Arbeit lebende Gärtnerstochter, die er, wie das Gerücht hinzusetzte, hätte ehelichen wollen, wäre anvertraut worden. Die Polizei stattete bei diesem Mädchen einen Besuch ab, fand sie auffallend bestürzt, verlangte das übergebene Geld und traf sie unvermögend, das Eigenthum des Erschlagenen auszuliefern. Da sie die Auskunft, wo das Geld geblieben, verweigerte, auch über den Tod des Lehrers bis zur Verzweiflung in Thränen ausbrach und nicht etwa über den Tod des Lehrers selbst so sehr, sondern über Umstände, die mit ihm zusammenzuhängen schienen, so hätte man kein Bedenken getragen, sich sogleich ihrer Person zu versichern. Die Untersuchung führte der kürzlich der Staatsanwaltschaft beigegebene Assessor Scharfeneck. Und wie sich in tragische Dinge oft ein komischer Zwischenfall drängt, eine derjenigen Störungen, die das öffentliche Verfahren für Verbrecher, die vielleicht binnen kurzem aus dem Leben zu scheiden haben, ganz besonders grausam steigern kann (wir erinnern nur an die komischen Wirkungen der Zeugenschaft in dem Processe des Grafen Bocarmé), so wurde auch bei dem Tode des allbekannten Lude, wie ihn das Volk nannte, ein zum Lachen reizendes Wort erzählt. Der bis zum Tod [98] Verwundete hätte nämlich nur noch so viel Kraft gehabt den Namen irgend eines Fisches auszusprechen. Seine letzte Besinnung, als man ihn aufhob, in einer Tragbahre von dannen trug, war mit dem Namen eines Fisches erfüllt, den er, wie die Leute sagten, vielleicht gern aß oder der, wie die Aerzte erklärten, ihm durch die Hallucinationen des erschütterten Gehirns kam, vielleicht auch durch die Ideenverbindung des Ortes wo ihn der mörderische Ueberfall traf; denn es war dicht am Wasser, in der Nähe der daselbst aufgestellten Fischkästen. Erst einer späteren Zeit sollte es aufbehalten bleiben, aus diesem letzten von Ludwig Wächter ausgesprochenen Worte andere Schlüsse zu ziehen.
Für Oswald begann eine Zeit der Trauer. In seiner einmal unwiderstehlich von Ernestinen beherrschten Hingebung bot er sich als Vertheidiger Ernestinens an. Da er selbst aber ein Zeuge im Processe werden mußte, konnte er als Vertheidiger nicht bestätigt werden. Er wünschte Einlaß zu ihr, Unterredung. Sie wurde ihm verweigert.
Scharfeneck versicherte, daß die moralische Ueberzeugung vorhanden wäre, Ernestine wäre an der blutigen That selbst völlig unbetheiligt, aber ohne [99] Zweifel wisse sie den Mörder. Bei ihren Verwandten hätte man nichts Auffallendes entdeckt; so lange sie aber die Auskunft über das ihr von dem Gemordeten anvertraut gewesene und bei ihr nicht gefundene Geld verweigerte, könnte sie nicht auf freien Fuß gestellt werden. Uebrigens würde sie gut gehalten und dürfte sich nach Wunsch beschäftigen. Sie nähe, läse, schriebe und befände sich meistens in einem brütenden Nachdenken. Scharfeneck verschwieg nicht, daß sie auf seine Erinnerung an Oswald gerade diesen am wenigsten zu sehen und zu sprechen verlangt hätte.
Oswald hatte das Doppelgefühl des innern Vorwurfes, Ernestinen zehn Tage aufgegeben zu haben und das des Schmerzes über den Vorfall selbst. Er sah Ernestinen, wie schon einmal, wieder in ein Gewebe von räthselhaft entsetzlichen Geheimnissen verstrickt und doch stand sie ihm rein und schuldlos da. In seinen eigenen Zeugnissen für sie hatte er Erklärungen gegeben, die über die Fragen des Richters hinausgingen, ja einem öffentlichen Geständniß seiner Liebe gleichkamen. Auch kannte man bereits sein ganzes Verhältniß zur Angeschuldigten. Begreifen läßt sich, wie ihn dieser Vorfall der Gesellschaft gegenüber ungünstig stellte. Nur das einzige [100] Haus der Wolmany besuchte er noch. Freiern Blickes die Menschen und die Welt übersehend, zog ihn diese wohlwollende Frau ausdrücklich an sich. Hier war es, wo er sich allmälig sammelte, allmälig für die Umgebungen wieder empfänglich wurde.
Die alten Wintervorlesungen begannen. Man brachte, was Jeder bringen konnte, und nahm, was geboten wurde. Er selbst kaufte sich von der Nothwendigkeit, lesen zu müssen, durch eine Anzahl Gedichte ab, die seine Stimmung in möglichster Allgemeinheit aussprachen. Scharfeneck dagegen gab wieder eine Ueberraschung aus seiner Criminalpraxis. Bei der endlichen Oeffentlichkeitsreife des Processes über den Tod Wächter's hatte er die Anklageacte abzufassen gehabt und durfte sich eine Mittheilung über die Persönlichkeit, um die es sich vorzugsweise dabei handelte, und deren inzwischen näher bekanntgewordenen Ruf um so mehr erlauben, als die Oeffentlichkeit bald jede Verschleierung aufhob. Oswald kannte die Discretion seines Freundes. Er durfte es wagen, einer Vorlesung beizuwohnen, zu der sich ein außerordentlicher Zustrom, ja sogar Menschen gedrängt hatten, die sonst in die Kreise der Wolmany nicht für immer aufgenommen waren. Scharfeneck las [101] die Geschichte Ludwig Wächter's und nannte seinen Vortrag: Der Wahrheitstrieb.
An den Landrath eines der schlesischen Grenze nahegelegenen Verwaltungsbezirks, begann er, gelangte vor länger als dreißig Jahren eines Morgens die Meldung, daß einem benachbarten Gutsbesitzer aus einem mit vielen Kosten angelegten Fischteiche die schwersten Karpfen wären gestohlen worden. Der Gutsbesitzer bäte, Alles aufzubieten, den Dieb zu entdecken und natürlich wo möglich noch mit den Karpfen selbst.
Der Landrath, nach einiger seiner üblichen Betrachtungen über die Sündhaftigkeit des Zeitalters und die verdorbenen Sitten sogar der unschuldigen Landbewohner, rief den ihm zu seiner practischen Polizeipflege beigegebenen Gensdarmen und trug ihm auf, sein Pferd zu satteln und alle nur erdenkliche List und Spürkraft anzuwenden, den Plünderer eines Fischteiches kennen zu lernen, dessen leckern Inhalt der Landrath aus den Mahlzeiten, die der Gutsbesitzer, Herr Semmler, den Standespersonen der Umgegend zu geben pflegte, vollkommen zu würdigen wußte.
Der vom Landrath beauftragte Gensdarm war in seiner Truppe ein Unterofficier. Er nahm seiner Gewohnheit gemäß den ihm ertheilten Auftrag mit [102] ruhiger Aufmerksamkeit entgegen. Er bedurfte dieser Zurückhaltung, denn sein Chef hatte die Gewohnheit, statt seinerseits Winke über mögliche Verdachtsspuren zu geben, immer die in Anzeige gebrachten Polizeifälle nur mit einer Fülle von allgemeinen Erwägungen zu begleiten, die bei jeder Contravention gegen die gute Ordnung und den allgemeinen Landfrieden, und wenn es sich um einen ausgenommenen Karpfenteich handelte, Politisches, Irreligiöses und sonstig Himmelschreiendes in einer Fluth von Jeremiaden zur Rüge brachte. Kam dann noch die Frau Landräthin hinzu und ließ auch sie sich in Erörterungen über die näheren Umstände solcher Begebenheiten ein, so konnte man, wie der Gensdarm dießmal bei den auch im Hause des Gutsbesitzers vortrefflich zubereiteten Karpfen mit Recht und ohne alle Figürlichkeit sagen durfte, aus der Sauce gar nicht mehr herauskommen und verlor jenen Vorsprung, der bei allem ›Gelingen der practischen Polizei‹ das erste und Haupterforderniß ist.
Der Gensdarm beschloß zuerst zu Herrn Semmler selbst zu reiten. Der Landrath hatte von der Art, wie sein Untergebener diesen wichtigen Fall behandeln wollte, zwar eine andere Auffassung, allein ein für allemal hatte sich der Unterofficier schon bedungen, [103] daß die Ausführung seiner Recherchen und Vigilationen seine eigene Sache wäre. Langheinrich hieß der Gensdarm. Es war einer der eigenthümlichsten Menschen, die jemals einen grünen Rock mit blauem Kragen und ditto Aufschlägen getragen haben. In seiner frühen Jugend auf eine freiere Laufbahn angewiesen, hatte Langheinrich Militärdienste genommen und lange Zeit sich beflissen, in der Artillerie, die seine Waffe war, es bis zur silbernen Degenkoppel zu bringen. Leichtsinn, fröhlicher Jugendübermuth verdarben diese Pläne. Seines frühesten Zeichens Oeconom, hatte er nach mancher Störung der neun Jahre, die er im doppelten Tuche zugebracht, sich von dem letzten Reste eines kleinen Vermögens auf den Versuch einer Pachtung gelegt und Landwirthschaft getrieben. Verheirathet mit der Tochter eines armen Wirthes konnte er bei seinem sorgsamen Eifer einige Erfolge voraussehen. Doch blühten sie ihm nicht. Mißwachs, üble Wahl der Pacht, Unglück mit dem angekauften Viehstand, offenbarer Betrug eines Capitalisten, der sich an Langheinrich's Gewinn betheiligen wollte, alle diese Umstände kamen zusammen und zwangen den auf einem gefährlichen Gebiete operirenden Neuling, von seinem Wagniß abzustehen. Langheinrich liquidirte. Rathlos, ohne Mittel, [104] verlassen von jedem Beistand, ergriff er die ihm als Hilfsarbeiter der Polizei möglich gemachte Rückkehr in den Militärdienst und war bereits seit geraumer Zeit an der schlesischen Grenze als Unterofficier eines Gensdarmencorps postirt. Er fügte sich in diesen schweren, aber eine gewisse, beinahe möchte man sagen poetische Freiheit gestattenden Dienst mit einer zuweilen humoristischen Ergebung. Von seiner frohen Jugendlaune hatte er sich einen Rest leichter Lebensauffassung erhalten, die ihm leider durch manche häusliche Noth mit Weib und Kind, durch die dienstliche Abhängigkeit und gewisse, oft melancholische Anwandlungen getrübt wurde. Sein Amt selbst trug nicht wenig zu dieser jeweiligen Verstimmung bei, die ihn mitten unter den Seinigen und selbst bei gelungenen Untersuchungen und dem Lobe seiner Vorgesetzten überfiel. Langheinrich hatte ebenso viel Herz wie Verstand. Diese Charactere sind nicht glücklich. Sie möchten Alles leicht nehmen und doch treibt sie ihr Eifer, ihre Gewissenhaftigkeit bis an das Ziel, das ihnen entweder ihre Pflicht oder ihr Ehrgeiz steckt. Er ruhte und rastete nicht, bis er ein Verbrechen entdeckt hatte, und wenn er den armen Sünder von seinem Weibe, seinen Kindern, seinen Eltern und Geschwistern mit sich nehmen mußte, brach ihm das [105] Herz. Die Nothwendigkeit, so Vieles gegen sein Gefühl unternehmen zu müssen, hatte ihn schwermüthig gemacht. Oft wenn er einsam durch die Föhrenwälder ritt und der Säbel an den Weichen seines Pferdes klirrte und klapperte, traten ihm Thränen in die Augen. Er gedachte dann der Vergangenheit, alter glücklicher Tage und verglich sie mit seiner Gegenwart, die ihn zum Diener eines drückenden und schmerzlichen Berufes machte.
Bei Herrn Semmler hatte Langheinrich alle nur möglichen Untersuchungen angestellt. Der schöne, von Hängeweiden umschattete Teich war in einer stürmischen Nacht fast gänzlich ausgefischt. Die Spuren von Tritten, die wohl im Wiesenrande des Teiches sichtbar waren, verloren sich zur Hinterpforte des Parkes, von da aber in das hier allgemeine Element, den Sand. Drei Tage lang spähte Langheinrich in der ganzen Gegend. Mit einer ihm, so lange sein Ehrgeiz gereizt war, eigenen Schlauheit und pfiffigen Umsicht wußte er auf die treuherzigste Art da und dort ›auf den Busch zu klopfen‹. Gastwirthen, Müllern, einsamen Büdnern sah er fast wie zufällig im Vorbeireiten in die Küche. Mit Gesinde schäkerte er. Alles vergebens. Die gestohlenen dreißig bis vierzig Karpfen blieben unentdeckt. In den [106] nahegelegenen Städten waren Karpfen verkauft worden, aber unter verdachtlosen Umständen. So blieb trotz der Prämie, die Herr Semmler ausgesetzt hatte, trotz der nun immer unwirscher werdenden Mienen des Landrathes der Thäter unentdeckt. Langheinrich konnte nichts erwidern, wenn die Landräthin murrte und über die nächste Weihnacht klagte, wo sie seit Jahren gewohnt war, nach der Bescherung die ihnen vom Herrn Semmler verehrten Karpfen und eine aus ihrer ostpreußischen Heimath geschickte Schachtel Marzipan zu verzehren.
Am vierten Tage nach jener Anzeige ritt Langheinrich in der Abenddämmerung zum ›Schloß‹ des Herrn Semmler, um den betrübenden Bericht von der Erfolglosigkeit aller seiner Bemühungen und das tiefste Beileid der Frau Landräthin abzustatten. Er ritt langsam und wollte nicht einmal, wie sonst gewohnt und jedem Gensdarmen zukommt, rechts und links lugend und forschend um sich blicken. »Schäme Dich!« sprach er zu sich selbst. »Du hast die Bäume am Weg, die Aehren auf dem Felde in Verdacht, Böses zu thun! In jedem Busch schläft Dir ein Verbrecher, bei jedem Lüftchen meldet sich Dir eine Unthat! Du willst hier auf Deinem Gaule thronen wie der einzige Gerechte, und wer weiß, ob Du nicht [107] noch Mißtrauen in Dich selber setzest und die Karpfen vielleicht in Deinen eigenen Pistolenhalftern stecken!«
Wie Langheinrich so mißmuthig um sich herblickte, näherte er sich einem Dorfe, das er gleich am ersten Tage eines kleinen durch seine Gärten fließenden muntern Baches wegen, die Illritz genannt, mit Späheraugen durchsucht hatte. Wie er dicht bei den Hecken ist, welche die von der Illritz durchschnittenen Kohlgärten des Dorfes einfriedigen, sieht er einen Knaben daherlaufen, baarfuß, mit ärmlichen Kleidern. Der Knabe winkt ihm schon von ferne, duckt sich unter die Hecken und macht eine Miene, als wenn er ihm etwas zu sagen hätte. Langheinrich hält seinen Fuchs an. Der Knabe, sich umsehend, schleicht näher und steht mit geöffnetem Munde vor dem Gensdarmen, bei dem er offenbar ein Anliegen hatte. »Was willst Du, Junge?« frägt Langheinrich. Und als der Knabe, ein Kind von vielleicht neun Jahren, schweigt, frägt er wieder: »Wer bist Du? Wie heißt Du?« Der Knabe antwortete in offenbarer Aufregung: »Ich bin Wächter's Lude.« »Nun? Was giebt's, Lude?« fragte Langheinrich, betroffen von dem blitzenden unruhigen Auge des Knaben. Jetzt fiel dieser mit den Worten heraus: »Herr Gensdarm! Ich weiß, wer die Karpfen gestohlen hat!« »Die Karpfen? Welche Karpfen? [108] Aha! Nun, wer denn?« Es währte eine Secunde. Der Knabe sammelte Kraft zum Geständniß und sagte dann: »Mein Vater hat sie gestohlen.«
Bei diesem überraschenden Worte eines Kindes, das seinen Vater als Dieb anklagte, war es Langheinrich, als hätte sein sonst so scharfes Ohr nicht recht gehört. »Wer?« wiederholte er mit aufgezogenem Augenlid …, »Mein Vater hat sie gestohlen!« wiederholte der Knabe mit einer wunderbaren Festigkeit. »Kommen Sie nur hinter's Haus bei uns. In der Illritz …, da sind sie alle.« »Aber warum giebst Du denn Deinen eigenen Vater an?« fragte Langheinrich, seiner eigenen lieben Kinder gedenkend. »Weil sie mein Vater gestohlen hat!« sagte Lude. »Heut' Nacht soll meine Mutter die Kufe nehmen und die Karpfen in die Stadt tragen auf den Markt. Sie will nicht. Da hat sie der Vater geschlagen. Er ist eben zum Müller gegangen. Kommt er wieder und die Mutter geht nicht, so hat er gesagt, wollt' er sie umbringen. Drum sag' ich's Ihnen, Herr Gensdarm, daß der Vater die Karpfen gestohlen hat.« »Also Deine Mutter schickt Dich?« fiel Langheinrich sich von seiner Bewegung allmälig sammelnd ein. »Ihr habt mich auch schon die Landstraße heraufreiten sehen und habt Angst gekriegt?« »Nein, [109] ich wollte selbst zu Ihnen und allein, Herr Gensdarm«, sagte der Junge mit immer gleicher Festigkeit. »Die Mutter weiß nicht.«
Langheinrich mußte schweigen, mußte sich sammeln: es erschütterte ihn zu sehr, ein Kind zu sehen, das seinen eigenen Vater zum Verbrecher machte, der nun der strafenden Gerechtigkeit anheimfiel! Da der Knabe still stand und mit ruhiger Gelassenheit zu dem Pferde hinaufsah, sagte Langheinrich noch: »Sind's denn noch alle Karpfen?« »Nein«, sagte der Junge, »vier hat der Vater an den Müller drüben verkauft. Die andern aber sind alle noch in der Illritz. Die Mutter soll sie nach der Stadt tragen oder er schlägt sie todt.« »Geh nach Hause, Lude Wächter!« fiel der Gensdarm ein. »Laß Dir nichts vor Deinem Vater merken, auch vor der Mutter nicht! Sei still oder sie schlagen Dich jetzt alle Beide todt.« Damit gab Langheinrich dem Pferde die Sporen und wie er sich noch einmal umsah, war Ludwig Wächter, der Angeber seines Vaters, hinter den Hecken verschwunden.
Erschüttert von dem Vorfall trabte Langheinrich zuerst zu dem bezeichneten Müller. Der wohnte in einsamer Abgelegenheit. Die Sonne war schon untergegangen, doch blieb es hell genug, um noch [110] Untersuchungen und im Dorfe Verhaftung vorzunehmen. Unterwegs begegnete Langheinrich schon dem Vater Lude's, der eben vom Müller kam. Es war eine kurze stämmige Figur. Offenbar scheuen Blickes und eilfertigeren Ganges als die Landleute, wenn sie unter den Feldern wandeln, daherschreitend, bestätigte sein Erscheinen schon des Sohnes Angabe. Und doch hätte Langheinrich dem Mann, der ihn vermeiden zu wollen schien und gerade durch sein Gewissen doch gezwungen wurde, mit einem kräftigen Guten Abend! dicht an ihm vorüberzugehen, zurufen mögen: »Wächter! Dein eigenes Kind hat Dich verrathen! …,« Er bezwang sich natürlich, grüßte sogar scherzend, machte Halt und fragte, ob der Müller daheim wäre, er hätte ihn wegen der Steuer zu fragen. »Der Müller nicht,« stotterte Wächter, »aber seine Frau!« »Ist auch gut!« sagte Langheinrich und gab die Sporen. Mit befremdetem Blicke sah Wächter den Gensdarmen über ein Brückchen der Illritz reiten und hinunter zur Mühle. …, An der Mühle bedurfte es für Langheinrich's scharfes Auge keiner langen Ueberlegung, wo er sich zuerst hinwenden sollte. Er stieg vom Pferde, band's an einen Zaun und ging die paar Schritte in das Haus zu Fuß, um, wie er sagte, sich einen Span aus der Küche zu holen, den er [111] für sein Riemzeug bedurfte. Eine Magd der Müllerin war zugegen. Ein paar Scherze scheinbarer Galanterie, dabei einige Blicke auf die Töpfe und den Herd der Küche stellten sogleich heraus, daß heute und gestern hier Fische verzehrt waren. Die Magd lobte ganz unbefangen die Nase des Gensdarmen, der sogleich von Fischen sprach und ließ ihn erst auf Hechte rathen. Dann sagte sie selbst, es wären Karpfen gewesen, und die hinzugekommene Müllerin konnte nicht anders als bestätigen, daß ihr Mann diese Karpfen von dem Büdner Wächter erstanden hatte; wo der sie her hätte, wisse sie nicht. »Aber doch wohl aus einer reinen Quelle?« sagte Langheinrich scherzend, bestieg seinen Gaul, und ritt zum Dorfe hinauf. Spornstreichs. Seine Gedanken waren schon wie nur von der Sache selbst gehetzt. Er begriff nicht, wie sich Karpfen in der Illritz lebendig erhalten konnten, da ein rinnender Bach kein stilles Wasser ist, wie es jene bemoosten Häupter bedürfen. Der sogleich requirirte Ortsschulze erschrak nicht wenig und erklärte den Fall wegen der Illritz für unmöglich, folgte aber rasch und sogleich mit einem Zuge, der sich schon aus der jungen müßigen Dorfbewohnerschaft gebildet hatte. Es ging in des Büdner Wächters Haus. Wächter war im Garten, die Frau in der Küche. [112] Sie wurde sofort bleich wie die Wand, als sie den Gensdarm und alle die Leute sah. Wächter und Lude standen im Kohlfeld, durch das sich die schmale kleine Illritz schlängelte. Beide hatten eben Weidenzweige in der Hand, die der Vater von einem Baume schnitt und der Sohn über den Bach legen sollte …, Langheinrich hatte immer einige harmlose Redensarten bereit, wenn er eben seinen Fang sicher schon in der Hand hatte. Hier brauchte er nur zu grüßen. »Wetter,« sagte er, »standet Ihr einst bei den Kanonen? Macht Ihr Faschinen, Wächter? Guten Abend! Wie geht's? Teufel, was habt Ihr denn da mit der Illritz vor? Soll die nicht hinunter mehr nach Walddüren fließen? Das muß ich sagen! Der Teich da ist doch zu klein für die Karpfen! Da hättest Du sie bei Semmler'n lassen sollen, Wächter! Wächter, laßt nur Alles jetzt ruhig liegen und kommt nur in Gottes Namen gleich mit mir!«
Es zeigte sich, daß Wächter der durch das Dorf ohnehin mit nur wenig Wasser fließenden Illritz – der Müller half sich unten durch Schleusenwerke, Abfallgitter und allerhand Wiesenrinnsale – ein eigenes Bette abgegraben hatte, in dem zwei Sanddämme das Wasser in stiller gestauter Ruhe erhielten. In diesem künstlichen Tümpel wimmelte es von [113] schwarzgoldglänzenden Karpfen. Die geschnittenen Weidenzweige sollten den Raub bedecken. Es war zu spät. Mit stummer Ergebung und wie zum Tod zusammenbrechend, folgte der überführte Dieb dem Ortsschulzen und der lautlosen Menge, welche die That des sonst unbescholtenen Mannes, eines ehemaligen und noch jetzt zur Landwehr verpflichteten Soldaten, nicht begreifen konnten. Man empfand nicht Hohn, man empfand Mitleid. Es gab Allen einen tief inneren Schreck, als Wächter nur nach seiner Mütze fragte und ohne Abschied von seiner jammernden Frau und dem einzigen, abwärts gewandten, auf die Kohlfelder blickenden Knaben so von dannen gehen mußte. Man brachte seine Mütze; sie hatte eine Cocarde und ringsum einen rothen Streifen. Langheinrich duldete nicht, daß Wächter diese Mütze aufsetzte. Er behielt sie, als seiner unwürdig, in der Hand, während der Verbrecher durch das Dorf in den Gewahrsam des Schulzen geführt wurde. Man nahm ein Protocoll auf und noch in derselben Nacht ließ Langheinrich erst einen berittenen Amtsgenossen requiriren, dann geleiteten Beide den Karpfendieb in aller Frühe in das Inquisitoriat der nahegelegenen Stadt, wo man gerade am großen Wochenmarkte vorüber mußte, gerade an den Fischbehältern, wo es [114] munterer und fröhlicher herging als in dem Herzen Dessen, der seinen Fang hier geglaubt hatte heute verwerthen zu können.
Als Langheinrich dem Landrath den ganzen Vorgang, so wie er von mir erzählt wurde, mitgetheilt hatte, brach sein Chef in die Worte aus: »Wunderbar und ohne Gleichen! Soll man denn noch glauben, daß Sittlichkeit, Tugend, Moral und christliche Gesinnung in dieser Canaille wurzeln! Dieser unwürdige Landwehrmann! Und ein Kind, das jetzt auf Ruhe und Ordnung im Lande sehen muß! Merkwürdig! Ein Junge, der seinen eigenen Vater angiebt! Ich lasse anspannen! Das hoffnungsvolle Kind muß ich kennen lernen.«
Langheinrich erlaubte sich eine Entgegnung,
»Es ist ja gerade, Herr Landrath,« sagte er, »als glaubten Sie, der Junge hätte die Anzeige uns zu Liebe gemacht?«
»Wem denn sonst!« erwiderte der Landrath. »Alles, was Sie mir von dem Vorfalle auch bei der Arrestation des Taugenichts, der dem Kriegsheere Schande macht, erzählen, beweist ja die pure Seelengröße des Jungen, eine Conduite, wie mir so etwas unter solchen Umständen noch gar nicht vorgekommen ist! Sagen Sie selbst, Langheinrich, wenn [115] der Junge eine entsprechende Erziehung erhielte, was könnte aus Dem nicht werden!«
Langheinrich hatte den Muth nicht, seine Gedanken auszusprechen. Er strich sich seinen Knebelbart und bemerkte nur: »Der Junge wollte seine Mutter vor Schlägen behüten und gab deßhalb lieber den Vater an.«
»Ach was!« fiel der in allen Lagen immer eines gewissen Schwunges bedürftige Landrath ein und ging dabei in seinem Zimmer auf und ab, daß die Tassen auf der Servante klapperten. »Die Prügel, die der Wächter seiner Frau angedroht hat, wenn sie die Karpfen nicht auf den Markt trüge, werden die ersten nicht gewesen sein, die die Frau schon besehen hat, ohne daß sie davon gestorben ist!«
»Es soll gegen den Mann doch sonst nichts vorliegen.«
»Geprügelt hat er seine Frau! Längst! Ich weiß das! Hier zu Lande prügelt jeder seine Frau, bei den Deutschen wenigstens! Drüben die Wenden weniger. Die glauben noch Heiden- und Hexenkram und wo dergleichen noch aufkommt, stehen sich die Frauen besser. Nein, Langheinrich, dafür haben Sie die Bildung nicht, das zu begreifen. Ich weiß es. Die Wächter hat alle Wochen ein paar mal [116] ihren Dezem gekriegt, so gut wie jede andere deutsche Frau hier, und um die Mutter hat der Junge den heroischen Schritt nicht gethan! Das war Seelengröße, Ordnungsliebe, Sinn für's Gesetzliche, und ich lasse mir's nicht nehmen, ich muß das Kind sehen und d?rüber Bericht machen. Ohnehin haben wir Herrn Semmler zu seinen Karpfen zu gratuliren.«
Der Landrath ließ anspannen. Langheinrich versprach bis zur Illritz ihn zu begleiten. Zu Herrn Semmler selbst mochte er nicht eintreten. Er wollte den Schein vermeiden, als beanspruche er eine Belohnung. Das Einzige versprach ihm noch der Landrath, das Geheimniß des Kindes hier in der Gegend vor aller Welt aufrecht zu erhalten. Niemand dürfte die That des Jungen erfahren, am wenigsten die Mutter; »denn«, setzte der Gensdarm hinzu, »ich habe es dem Kinde versprochen. Glauben Sie mir, die Mutter würde jetzt ruhig die Hehlerin abgeben, wenn sie den Stehler aus dem Inquisitoriat wieder zurück hätte. Lude hat sich zwischen zwei Stühle gesetzt.«
Der Landrath ließ sich nicht irre machen. Mit den Worten: »D?rum muß man ihm helfen! Von Staats wegen! Das verstehen Sie nicht, Langheinrich! Diese Geschichte liegt tief im Herzen und unter den Nieren! Da könnte ein Prediger einen Vers [117] d?rüber machen!« bestieg er seinen Einspänner, den er gewohnt war selbst zu führen.
Im Hause des Büdners und Landwehrmannes Wächter an der muntern Illritz sah es inzwischen gar traurig aus. Die Dorfleute arbeiteten im Felde. Doch einige Alte und die Kinder, die daheimgeblieben, folgten dem im Dorfe einfahrenden Landrath und dem Gensdarmen, um die Karpfengrube noch einmal mit betrachten zu können. Ein eigenes Urtheil, eigene Justiz, wenn auch nur in Mienen und Worten, hatten diese Leute nicht. Diese Gegenden des Vaterlandes sind so seit Jahrhunderten gewohnt, nur regiert und geführt zu werden, daß sich überall da, wo die Autorität ihre Hand walten läßt, ein Schweigen und Gehenlassen zur Gewohnheit gebildet hat. Diesen militairisch-disciplinirten Stämmen geschah es schon zu oft, daß sie da, wo ihr Rechtsgefühl einmal sich in natürlichem Ausbruche gern Luft gemacht hätte, von der Autorität zurückgewiesen wurden mit Worten: Ob sie mitzureden hätten? Ob sie Dieß oder Das was anginge? Ob sie Advocatensporteln bekämen oder Gerichtskosten zu bezahlen fürchteten? So sah man hier tausendmal, daß selbst das Urtheil über Diebe und Mörder dem Volke nicht gestattet wurde, und Diebe und Mörder gegen [118] Die, die ›ihre Nase in fremde Dinge steckten,‹ von den Gensdarmen und Ortsbehörden in Schutz genommen wurden. Genug! Die Frau des Büdners saß in der Küche und rührte stilltraurig in einem Topfe. Der Landrath polterte in der armen Hütte seine Verwünschungen aus, lechzte aber in alle Winkel mit sehnsüchtigen Augen nach Lude. Im Garten, in einem kleinen Kohlfelde stand der auch ganz geruhig und verlas von den blaugrünen Blättern die Raupen. »Wieder etwas Sauberes und Accurates!« sagte der Landrath zu Langheinrich, als er draußen an der Illritz die eigenthümliche Vorrichtung untersuchte und den Jungen so still da raupenlesend antraf. Der Ortsschulze, vom Felde requirirt, erklärte alles Geschehene noch einmal auf's Deutlichste, während Langheinrich schwieg und seine Augenweide an seinem Chef, dem Ordnungsschwärmer hatte, der Lude Wächter wie einen Genius betrachtete. »Einzig! – Merkwürdig! – Baarfüßiger Junge – Verliest die Raupen! Schmeißt sie alle in einen alten Topfscherben! Bringt sie den paar Hühnern da auf dem Miste! Sieht und hört nichts! Giebt seinen Vater an! Lebt nur im Recht und in der Ordnung. Dem König möchte man privatim d?rüber schreiben. Was kann aus so einem Jungen noch, richtig angefaßt, [119] Alles werden! …,« Diese Worte brummte der Landrath zwischen seine Verwünschungen der Räuberbagage und die jammernden Klagen der Mutter immer zwischen durch. In die glänzendsten Zeugnisse, welche die Frau der sonstigen Solidität ihres Mannes gab, Noth und Armuth als Gründe seines Verbrechens geltend machen wollte und den Landrath bei allen Verheißungen des ewigen Lebens bat, für Wächter'n in der Stadt ein mildes Urtheil zu verwirken, polterte er: »Wird sich finden! Cocarde beschimpft! Mütze noch tragen wollen! Sieh' mal! Ein Jahr Steine klopfen! Mit Schimpf ausgestoßen aus dem Bataillon, wo ich sein Major bin! Mir das anthun! Donner!« Und dann ganz sanft zu Lude, als dieser eben den Schüsselscherben in der Illritz ausschwenkte und in die Hütte zurücktragen wollte: »Thut Dir's denn leid, daß sie Deinen Vater geholt haben? …,« Er winkte dabei dem Gensdarmen, aufzuhorchen, was der Genius der Gesetzlichkeit erwidern würde. Lude schwieg. Er blinzelte nur zum Gensdarmen hinüber, der polternd losbrach: »Junge, wenn der Herr Landrath was frägt, antwortet man.« Die Geschwätzigkeit des Schulzen unterbrach des Kindes nähere landräthliche Seelenprüfung.
Der Landrath bestieg seinen Einspänner wieder [120] und fuhr langsam zum Orte hinaus. Langheinrich gab ihm das Geleit bis zur Mühle, wo er abschwenken und heimreiten wollte. Die Gründe, warum sich sein Chef immer höher in seiner Bewunderung Lude Wächter's steigerte, konnte er nicht in Abrede stellen. In der That hatte das Kind sich in der schwierigen Situation mit Haltung, ja mit einer gewissen Würde benommen. Ohne Furcht zu verrathen, gab es kein Zeichen auch des Trotzes. Langheinrich hätte sich sagen dürfen: Das Kind vertraute eben Dir, Deiner Verschwiegenheit, Deinem Schutze! Es konnte nicht wissen, ob der Landrath von seiner That unterrichtet war. Dieser aber war bei dem wiederholten Ausrufe geblieben: »Mann! Dieser Blick! Diese Festigkeit! Diese Ruhe! Dieser erhabene sittliche Stolz! Es war eine Conduite, die der König erfahren muß! Ich ruhe nicht eher, bis für den Jungen etwas geschehen ist. Aus Staatsmitteln! Hier würde man eine Sünde begehen, wenn man das so unter?m Miste verkommen ließe! Wir sprechen noch davon.«
Nach einigen Wochen überraschte der Landrath seinen Untergebenen mit einer Nachricht, die diesem die schon fast entschwundene Erinnerung an Ludwig Wächter zurückrief. Der Vater war zu acht Monaten [121] Strafarbeit, Cocardenverlust, künftiger Einstellung in eine Strafcompagnie verurtheilt, die Mutter tagelöhnerte und »Luden hab' ich die Carrière eröffnet,« sagte der Landrath. »Keinem Menschen hab' ich hier den Vorfall mitgetheilt, auch Herrn Semmler nicht, aber der Frau Oberpräsidentin hat meine Frau einen langen Brief geschrieben. Der Junge macht jetzt seinen Weg. In Erwägung, daß sein Taugenichts von Vater nichts für ihn wird thun können und die Mutter nicht das liebe Brot im Hause hat, wird Lude für elternlos angesehen und kommt drei Meilen von hier in's Militairwaisenhaus. Mit dem Schulzen und der Mutter ist Alles richtig gemacht. Die Mutter kann das Kind sehen so oft sie will. Ohnehin wird sie bei den Wenden d?rüben mehr Arbeit suchen müssen als in unserer Gegend, wo man ihr aus dem Wege geht. Heute noch holt meine Frau den Jungen ab. Wir bringen ihn selbst an den neuen Ort seiner Bestimmung. Jetzt geben Sie Acht, Mann! In drei Jahren sprechen wir uns wieder!«
»Ich bin begierig!« sagte Langheinrich voll wahrer Freude über diese Wendung. Es wehte ihn ein Trost an, als schützten unsichtbare Engel auch vielleicht einmal seine Kinder, wenn sie von ihrem [122] Vater auch nicht angeben konnten, daß er gestohlen hätte.
Das Militairwaisenhaus lag noch in dem Bezirke des Landrathes, und Langheinrich, der inzwischen zum Wachtmeister befördert war, behielt die Umgebungen auch dieser berühmten und von der Regierung sehr großmüthig gepflegten Anstalt im Auge, wenn auch in dem Städtchen, an dessen Eingang das große stattliche Gebäude mit seinem von einem Eisengitter eingefriedigten Spiel- und Exercierplatze lag, andere Diener der öffentlichen Sicherheit die nächste Aufsicht hatten. Zwei Jahre waren vergangen, als Langheinrich zum ersten male wieder Lude Wächter's ansichtig wurde. Der Knabe grüßte ihn, als er eines Tages, im Begriff, eine Inspectionsronde zu halten, an dem zwischen den beiden mächtigen Flügeln des Militairwaisenhauses gelegenen Spielplatz vorüberritt. Obgleich Lude durch die gute und geregelte Ernährung sich fast bis zur Unkenntlichkeit stattlich entwickelt hatte, so konnte ihn doch der Gruß des uniformirten Knaben nicht irre führen. Er ritt heran und fragte nach seinem Befinden. Lude dankte und lobte die Anstalt. Von seinem Vater hatte er, wie er erzählte, einmal einen Besuch erhalten. Hinzugetretene Lehrer und Aufseher der Zöglinge [123] schilderten dem Wachtmeister das Wiedersehen zwischen Lude und seinem Vater als eine besonders ergreifende Scene. Lude schlug dabei, auch bei dem vielen Lobe, das ihm gespendet wurde, die Augen nieder. Sein Geheimniß verstanden die Lehrer nicht; nur zwischen ihm und Langheinrich waltete es. Befragt, welche Laufbahn der Zögling denn einst einschlagen würde, antworteten die Lehrer, vielleicht daß er in den Kaufmannsstand treten würde. Es hätte sich nämlich der reichste Mann im Orte gefunden, der Ludwig Wächter seines Sohnes wegen mit besonderer Zuneigung behandle. Julius Handtke wäre zufällig in nähere Bekanntschaft mit dem immer stillen und zurückgezogenen Militairzögling getreten und hätte an ihm, wie eben die Schwärmerei und das Bedürfniß der Hingebung in solchen Kinderseelen wirke, einen so mächtigen Gefallen gefunden, daß man gern gestatte, oft Tagelang den Zögling in das Haus des Herrn Handtke zu geben, der auf dem Markte der kleinen Stadt die Haupt-Specerei- und Materialwaarenhandlung inne hatte, gerade dem ›Schwarzen Adler‹ gegenüber, einem Gasthofe, der von einem Bruder des Kaufmanns gehalten wurde. Die Gebrüder Handtke waren somit die Honoratioren der Stadt und die Auszeichnung, die Lude Wächter [124] durch Julius Handtke fand, konnte für ein ausnehmend glückliches Loos gehalten werden. Der Vater seines Freundes war bereit, ihn als Lehrling in seine Handlung zu nehmen …,
Langheinrich wünschte Ludwig Wächter'n zu diesen Aussichten für seine Zukunft Glück, konnte aber doch nicht umhin, da er Julius Handtke als einen wilden, oft übermüthigen und verzogenen Knaben kannte, ihn zu warnen, sich von dem gefährlichen Beispiel seines Freundes anstecken zu lassen. Es war schon Manches mit Julius Handtke vorgekommen, was sogar in eine Berührung mit der öffentlichen Sicherheit geführt hatte. Er hatte Pulver abgebrannt, wo er nicht sollte, Nester ausgenommen, Laternen zerschlagen und galt im Orte für einen von den Seinigen, dem Vater und dem Onkel zwar ziemlich strenggehaltenen, aber doch naschhaften und vergnügungssüchtigen Knaben. Lude Wächter hörte die Warnung ruhig mit an und erklärte, daß er sich schon hüten wolle. Auf die Frage, ob er denn Julius Handtke gern hätte, blieb die Antwort nicht aus, daß er sein bester Freund wäre. Und diese Versicherung bekam noch mehr Bedeutung, da einer der Lehrer, den Wachtmeister begleitend, als Beide allein waren, hinzufügte: »Es ist auch sein einziger. In der Anstalt [125] wollen die Kameraden keine gemeinschaftliche Sache mit ihm machen!« Dieß auffallende Wort blieb ohne nähere Erläuterung; denn die Aufmerksamkeit Langheinrich's wurde schon wieder von einigen Grüßenden abgezogen, auf die er, mit seinem ohnehin unruhigen Gaule, zur Bewillkommnung ansprengen mußte.
Den Gensdarmen des Ortes fand der Inspicient abwesend und zwar in Sachen eines Diebstahls, der kürzlich im ›Schwarzen Adler‹ vorgekommen. Man hatte dem Bruder des Kaufmanns Handtke aus dem Nebenzimmer seiner eigenen Gaststube kürzlich seine goldene Uhr gestohlen. Der Ortsgensdarm hatte viel Mühe, den Thäter zu entdecken und glaubte ihn jetzt in einem Handwerksburschen gefunden zu haben, der kürzlich im ›Schwarzen Adler‹ übernachtete und in der Gaststube, in die er seiner Aermlichkeit wegen nicht hingehörte, einige Augenblicke verweilt hatte. Langheinrich wartete auf die Rückkehr seines Untergebenen, konnte sich aber dabei nicht erwehren, auch seinerseits wegen der mit dem Uhrschlüssel und einem Petschaft daran gestohlenen Uhr rechts und links seine Augen über Dieses und Jenes streifen zu lassen. Er besuchte den Gastwirth, sah sich die Localität, die Umgebungen an, die Hausbedienung, die üblichen Gäste. Nichts kam ihm verdächtig vor. Auch den Kaufmann [126] gegenüber besuchte er, fand dort Ludwig Wächter wieder mit seinem Freunde und überzeugte sich, daß dessen Vater in der That die großmüthigsten Absichten mit einem Knaben hatte, dessen, wie er sagte, stilles und apartes Wesen ihm ausnehmend gefiel und ein wahrer Schatz für seinen etwas verwilderten Sohn und dessen fernere Zukunft wäre. Auch von der goldenen Uhr war die Rede und der Schrecken, in einem so gut gearteten Orte einen Dieb zu wissen, kam in entschiedensten Ausdrücken dabei zur Erörterung. Auf einige sonst achtbare Bürger war schon Verdacht gefallen, andere hatten erklärt, sie zögen vor, unter solchen Umständen den ›Schwarzen Adler‹ nicht mehr zu besuchen, Allen lag daran, daß der Thäter jener Handwerksbursche gewesen sein möchte, nach dessen Verhaftnahme der Ortsgensdarm ausgeritten war. Dieser kam am folgenden Tage zurück mit dem von ihm verhafteten muthmaßlichen Thäter. Diese Angelegenheit berührte Langheinrich nicht weiter. Nach einigen geschäftlichen Rücksprachen ritt er von dannen …,
Es war zeitig. Noch tiefe Morgenfrühe. Kaum war Langheinrich an dem Militairwaisenhause, den Kohl- und Kartoffelfeldern der Ackerbürger des Oertchens vorüber, als er hinter sich rufen hörte:
[127] »Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister!«
Langheinrich sah sich um. Ein Zögling des Waisenhauses lief ihm nach und sein scharfes Auge ließ ihn sogleich aus der Uniform heraus Ludwig Wächter'n erkennen. »Was will der?« sagte er zu sich und hielt seinen Braunen an. Als der Knabe näher kam, rief Langheinrich: »Lude, was giebt's denn noch?« Stumm und sich ängstlich umspähend sprang Lude in den Chausseegraben, der ihn halb deckte, und kam so zu dem unter einem Baume haltenden Wachtmeister.
»Ich will Ihnen sagen,« begann er sogleich, »wer die Uhr gestohlen hat: Julius Handtke.«
Langheinrich erschrak.
Die Erinnerung an den Vorfall vor zwei Jahren erschütterte ihn.
»Junge, bist Du des Teufels?« rief er, faßte mit der Linken rasch die Mähne seines Gauls und war im Nu hinunter.
»Julius Handtke hat die Uhr gestohlen?«
»Ja!« sagte Lude mit derselben Festigkeit, wie er einst seinen eigenen Vater angegeben.
»Warum sagst Du das?« fuhr ihn Langheinrich fast zornig an. Lude schwieg. Langheinrich besann sich, daß es seines Amtes nicht war, Jemanden zu schmählen, der das Gelingen der practischen [128] Polizei unterstützte; aber im ersten Gefühle hätt' er den Säbel ziehen und mit der Klinge den Angeber durchfuchteln mögen. Sich bekämpfend, fragte er nur: »Weißt Du denn das auch ganz gewiß?«
Lude erwiderte: »Julius hat schon oft gestohlen. Er will bei seinem Vater noch einbrechen und dann nach Amerika gehen. Ich soll ihn begleiten. Die Uhr hab' ich bei ihm gesehen.«
»Aber, Lude, Deinen Freund verlierst Du ja nun! Verlierst ja Deine ganze glückliche Zukunft! Der Kaufmann wird Dich ja nicht mehr ansehen wollen …,«
Lude schwieg und blickte nieder. Er schien an die Folgen seiner Entdeckung nicht im mindesten, sondern nur an die Wahrheit selbst gedacht zu haben. Nach einer Weile rathlosen Schweigens auch des erschütterten Wachtmeisters, der von diesem Knaben so viel Vertrauen genoß, sagte Lude nur noch: »Der Handwerksbursche ist's doch nicht gewesen, Julius Handtke ist's gewesen. Die Uhr steckt in seiner Tasche. Ich habe sie gesehen.«
Langheinrich überlegte, welches der wahre Grund dieser Anzeige war. Vielleicht selbst Liebe für den Freund. Vielleicht Besorgniß, der Verführung desselben nicht widerstehen zu können? Er war völlig [129] ohne Entschluß, wußte nicht, was er mit dem Geständnisse machen sollte und blieb auch ohne Entschluß. Lude, um für seine Entfernung nicht bestraft zu werden, eilte inzwischen spornstreichs zurück. Er hatte sich versteckt nicht seiner Anzeige, sondern seiner Entfernung wegen. Und Langheinrich, einer der edelsten und gefühlvollsten Menschen, die je in die schwierigen Collissionen von Pflicht und Rücksicht gekommen sein mögen, sah ihm schwermüthig nach, bestieg seinen Gaul, ritt im Kreise auf und ab, ohne zu einem Gedanken zu kommen. Er wußte nicht wie, er hatte Lude Wächter'n jetzt selber lieb. Es schien ihm ein tragisches Geschick zu sein, das diesen Knaben ewig folterte und quälte, die Dinge, wie sie sind, nicht verschweigen zu können. Er sah einen Unschuldigen leiden und gab lieber seinen eigenen Freund an. Er gab ihn an in der dunklen Ahnung, daß er dem Freunde und vielleicht seinem eigenen sittlichen Selbst nütze! – Und doch – sollte er das Bekenntniß brauchen? Sollte er ohne weiteres zurück in die Stadt, den Sohn eines angesehenen Kaufmannes auf offener Straße anhalten lassen, seine Kleider untersuchen, ihn, die Eltern, den Angeber selbst unglücklich machen? Es waren zu viel und in der That zu ernste Vorstellungen, die ihn bestürmten. [130] Er beschloß, sich Jemanden anzuvertrauen, der den Fall unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit ihm erörtern sollte; er wählte dazu dießmal nicht den Landrath, sondern den Pfarrer von Walddüren, dem Orte, wo auch der Landrath und in dessen Nähe er selber wohnte.
Unglücklicherweise wollte der Zufall, daß Herr von Werthern, Langheinrich's Landrath, bei dem Pfarrer von Walddüren gerade zugegen war. Seit einiger Zeit hatte der Landrath, der bei allen Sonderbarkeiten ein wahrheitsstrebender und sogar etwas schwärmerischer Mann war, mit dem Pfarrer mancherlei Streitigkeiten. Der Pfarrer, ein bejahrter Herr schon, gehörte der alten sächsischen Vernunftsschule an, der Landrath aber, der in seiner Art gern auch etwas Theologie trieb, segelte mit dem Winde, der aus den frommen Kreisen der Residenz wehte, so wenig sein dialectischer Character, sein eigenwilliger und nächst dem Könige sich selbst am meisten vertrauender Sinn mit diesem Winde in seinem ganzen Wesen so zu sagen aus einer Ecke blies. Er mußte sich zur Auffassung der Oberkirchenbehörden mit Gewalt bekehren und ergriff nun jede Gelegenheit, wo sich etwas Räthselhaftes ereignete, davor still zu stehen, alle seine Logik und vernünftige Erklärung gefangen [131] zu geben und auszurufen: »Es ist etwas d?ran an dem Mystischen! Es ist etwas dahinter! Man muß es sich nur nicht nehmen lassen!«
Als Langheinrich seinen Landrath entdeckte, mochte er nun nicht in die Pfarrerswohnung. Herr von Werthern hatte jedoch ein scharfes Ohr und hörte den Säbel eines berittenen Waffenträgers schon in weitester Ferne. Er erblickte seinen Wachtmeister kaum im Dorfe, als er ihn auch schon von der Straße herüberrief und zum Zeugen eines lebhaften Streites machte, in dem er eben mit dem Pfarrer begriffen war.
Der Pfarrer lachte eben über einen Vorfall, den der Landrath sehr ernst nehmen wollte. »Sagen Sie selbst, Langheinrich, war es nicht merkwürdig, was uns Beiden in Wielka, d?rüben in dem Wendendorfe, neulich begegnet ist?«
»Die Geschichte mit der schwarzen Katze?« sagte Langheinrich.
»Kommen Sie herunter und erzählen Sie, Wachtmeister!« befahl der Landrath und sah dabei rauchend auf seine Meerschaumpfeife mit der Bernsteinspitze fast wie ein Fakir herab, der andächtig seine Nase betrachtet.
Er zwang also den Wachtmeister, abzusteigen, sein Pferd draußen anzubinden, in das niedrige, aber [132] freundliche Haus des Geistlichen einzutreten und den Vorfall zu erzählen, wie er in Wielka, einem alten wendischen Stammorte mit allerhand wunderbaren Sitten, zum Beispiel der, daß dort sogar die alten Frauen Tabak rauchten, kürzlich ein Feuer hätte löschen helfen, das bei einem reichen Bauer ausgekommen war. »Die Bauern,« erzählte Langheinrich, »wollten nicht löschen, einige wenige fremde Zuzüger ausgenommen, unter denen der degradirte Landwehrmann Wächter, der auf dem Hofe arbeitet, einer der eifrigsten war. Ich hörte von dem dummen Volk, es würde nicht viel helfen. Das Feuer wäre ja von dem Drachen gekommen, der dem Bauer das viele Geld brächte. Dem Drachen, den er heimlich im Hause auffüttere, hätte der Bauer dießmal zu viel heiße Hirse gegeben; davon wär' ihm die Zunge angebrannt und nun hätt' er Flammen speien müssen und solche Drachenflammen lösche man vergebens. Als ich erwiderte, mit Hilfe Wächter's wäre man ja doch des Feuers Herr geworden, sagten sie: Das wohl! Der Drache wäre auch aus dem Brande davongeflogen; sie hätten ihn Alle gesehen …, Wohin denn, Ihr Narren? fragt' ich. Einstimmig bezeichneten sie mir einen alten hohlen Baum in der Nähe, dem sich jetzt Niemand, und wenn man Geld [133] geboten hätte, nähern wollte. Ich denke, ich mache es, wie ich einmal von dem alten Heidenbekehrer Bonifacius gelesen habe, und lasse den Baum umhauen. Für einen Wachtmeister der Gensdarmen ziemt sich's, Aberglauben so mit Stumpf und Stiel auszurotten. Aber du liebe Zeit! Keiner erbietet sich, dazu auch nur eine Axt oder eine Säge zu leihen. Alles weicht scheu und ergrimmt über meine Methode zurück. Dem Tagelöhner Wächter, der mich unterstützen wollte, verbot ich's, weil der seinen übeln Ruf wiederherstellen muß und Freunde bedarf. Ihr Taugenichtse! ruf' ich. Die Bäume im königlichen Forst sind Euch nicht heilig, aber den da, wo Euer Drache, der zu heiße Hirse gefressen hat, drinnen sitzt, den wollt Ihr schonen, obgleich er keinen grünen Zweig mehr hat? Gebt Acht, ich will Euern Drachen schon hervorlocken. Damit requirir' ich Leute aus Walddüren. Herr Landrath kommen selbst mit und eigentlich« – unterbrach sich Langheinrich – »eigentlich sehr ergrimmt auf mich – …,«
»Weil Sie Aberglauben ausrotten wollten?« rief der Pfarrer lachend dazwischen.
»Hören Sie nur!« sagte der Landrath bedeutungsvoll und auf seine Tabakswolken voll erzwungener Andacht blickend.
[134] »Wir nahmen,« fuhr Langheinrich fort, »Sägen und Aexte und fingen die Arbeit an. Rings stehen die Wenden und schauern zusammen über unsere Tollkühnheit. Sie erwarten nicht anders, als daß der Drache uns sämmtlich verschlingen würde. Die Arbeit dauert eine halbe Stunde. Endlich ist der Baum zum Umstürzen durchsägt, wir stoßen ihn nieder, da fährt aus der Höhlung, die nun zu Tage kommt, eine dicke, große schwarze Katze heraus, rennt mitten durch die schreienden Wenden hindurch und verschwindet im nahestehenden Korn. Zu erwischen war sie nicht und freilich wir standen beschämt da. Die Wenden hatten Recht, der Drache hatte sich in die schwarze Katze verwandelt.«
»Und nun frag' ich,« rief der Landrath, »giebt's nicht Dinge, über die sich gar nicht reden läßt? Alle unsere Vernunft reicht dabei nicht aus und die Ober-Kirchenbehörden haben Recht: Man muß sich blindlings unterwerfen!«
Ein Ausspruch, dem der Pfarrer Alles entgegenstellte, was man in einem solchen Falle nur von einem gesunden alten hallischen und leipziger Standpuncte erwidern konnte.
Die Erwähnung des gebesserten Wächter aber und die feierliche Stimmung des Landrathes verführten [135] den Wachtmeister, in des exaltirten Mannes Gegenwart sein neues Erlebniß mit Lude, Wächter's Sohne, nun dennoch anzubringen.
Die Verwunderung war beim Pfarrer, der zum ersten male von diesem Knaben hörte, nicht minder groß als das erneute Erstaunen des Landrathes.
Dieser, noch erfüllt von dem Wunder des heiligen Wendenbaumes, sah jetzt geradezu in Lude Wächter ein Mysterium. »Es geht nicht anders,« schloß er, die Pfeife ausklopfend, »diesem Knaben muß geholfen werden! Dieser Lude ist zu Großem berufen!«
Und auch der Pfarrer meinte, nach Langheinrich's Erzählung läge hier allerdings ein Fall vor, über den man nachdenken könnte. Er griff hinter sich, lüftete einen Vorhang und langte auf seine Bücherbreter, um Reinhard's ›Moral‹ herunterzuholen. Alle Drei kamen darin überein, daß Lude Wächter vor den Folgen seines Wahrheitstriebes am besten dadurch zu schützen wäre, daß auch Julius Handtke dießmal noch ohne Strafe bliebe und die Uhr so wiedergefunden würde, daß über den wahren Dieb im Orte ein ewiges Geheimniß bliebe.
»Wie das aber anfangen?« fragte der Pfarrer.
»Da weiß unser pfiffiger Wachtmeister schon [136] Rath,« sagte der Landrath, klopfte Langheinrich auf die Schulter und schickte sich zum Gehen an, denn es brannte ihn schon, seine Frau zu suchen, dieser wieder den merkwürdigen neuen Fall mit Lude zu erzählen, dießmal selbst an die Gemahlin des Oberpräsidenten zu schreiben und für Lude Wächter jetzt die weitere Carrière zu eröffnen.
»Aber, Herr Landrath,« fiel Langheinrich ein und fand die Aufgabe, die er ihm zurücklassen wollte, schwierig.
»Sie wissen schon,« sagte sein Chef. »Fällt Ihnen nichts ein? Erinnern Sie Sich nicht, wie Sie's damals auch in Wielka machten, als die zwanzig Thaler Classensteuer dem Schulzen gestohlen waren?«
»Damals beging ich,« sagte Langheinrich, »gleichfalls eine gottlose Sünde an dem heiligen Wendenthum …,«
»An dem heiligen Wendenthum?« fragte der Pfarrer.
»Auch fremden Glauben muß man heilig halten …,« polterte der Landrath dazwischen.
»Wie war das damals?« hieß es, und Langheinrich, sich orientirend über die Möglichkeit, die Uhr durch List herauszubekommen, erzählte, er hätte vom Schulzen in Wielka, der die Classensteuer nichtstim [137]mend fand, einen Bauer bezeichnet erhalten, der die ihm fehlenden zwanzig Thaler wahrscheinlich gestohlen hätte. Er hätte darauf den Schulzen bestimmt, sämmtliche Bauern Abends in der Schenke zu versammeln und wohl darauf zu achten, daß auch der Verdächtige käme. Wie er dann wie durch Zufall eingetreten wäre, hätte er in gebrochenem Wendisch Allen den Fall erzählt und mit der Erklärung geschlossen, unfehlbar hole Den, der dieß Verbrechen begangen, nächstens und vielleicht sogleich Czernebog, der schwarze Geist. Dann hätte er, da man über diese Erklärung still und kleinlaut wurde, seine Brieftasche hervorgezogen, sie geöffnet, einen glücklicherweise schwarzen Bleistift genommen, ihn drei mal angeblasen und dem Zunächststehenden anzufassen gegeben. Der hätte dann zugreifen müssen auf die Gefahr, wenn er der Thäter wäre, plötzlich durch Czernebog's heimliche Berührung schwarz zu werden. Der Erste blieb weiß, der Zweite auch, der Dritte auch; so ging es die Reihe herum, bis aus der engen, überfüllten Stube heimlich einer von den Zitterndbeklommenen verschwunden war. Langheinrich hätte gethan, als bemerkte er die Angst eines Menschen, der schwarz zu werden fürchtete, nicht und wäre mit seinem feierlichen Gottesgericht fortgefahren. [138] Plötzlich hätte man die Thür aufgerissen, die Magd des Schulzen wäre hereingebrochen und hätte gerufen: Eben wäre ein Sack mit Geld durch's Fenster in die Küche geflogen. Sie brachte den Sack. Er enthielt die vermißten zwanzig Thaler. Das Geld wäre demnach dagewesen und die Bauern wüßten heute noch nicht, wer von ihnen es gewesen, der, um den Teufel durch Reue zu versöhnen, sich so still davongeschlichen.
»Nun gut,« sagte der Pfarrer, »wenden Sie jetzt etwas Aehnliches an; nur bitte, incommodiren Sie dabei den Czernebog nicht wieder, der bei dem Herrn Landrath eine geweihte Person zu sein scheint.«
Langheinrich bestieg sein Roß und sprengte in's Städtchen zurück.
Es war fast Abend. Zuerst bestimmte er Lude Wächter'n, den er sich aus ›Privatgründen‹ von der Direction des Waisenhauses frei erbat, zu seinem Freunde zu gehen und ihn einzuladen, zum Onkel in den Schwarzen Adler zu kommen, wo Abends auch sein Vater verkehrte und fast alle wohlhabenden Männer der Stadt. Vorerst sollte er sich wieder die Uhr von Julius zeigen lassen, sie mit dem daran befestigten Schlüssel aufziehen und dann, ohne etwas zu sagen, zurückgeben.
[139] So geschah es.
Um acht Uhr trat Langheinrich in die von Tabaksrauch gefüllte Gaststube zum ›Schwarzen Adler,‹ wo etwa zwölf Herren und auch bereits die Knaben Julius Handtke und Lude Wächter beisammen saßen. Nach einem Guten Abend! und dem Erstaunen über seine Rückkehr sagte Langheinrich: »Meine Herren, vor drei Tagen ist um diese Stunde aus dem Nebenzimmer dieses Saales in Gegenwart der meisten hier versammelten Anwesenden Herrn Handtke die goldene Uhr gestohlen, vielleicht ist sie aber auch nur verlegt worden. Wohl weiß ich, daß die geehrten Herren sämmtlich achtungswürdig sind; dennoch erlaub' ich mir, Sie zu bitten, mir Jeder die Uhr zu geben, die er bei sich trägt. Das Weitere wird sich dann schon finden.«
Man war bestürzt, nicht beleidigt. Wer sollte nicht selbst die Hand dazu bieten, daß ein Dieb, als der nicht zu erscheinen Jedem gelegen sein mußte, entdeckt oder die Uhr als nur verlegt betroffen würde? Als Langheinrich sämmtliche Uhren in Händen hatte, gab er sie dem Wirth zur Aufbewahrung außerhalb des Zimmers und zugleich ordnete er an, daß auch die Lichter hinweggenommen wurden und die [140] Versammlung ganz im Dunkeln blieb. Man stand erschrocken auf und begriff nicht, was werden sollte.
Als die Uhren und die Lichter fort waren und der Wirth noch die Bedeutung bekommen hatte, auf den ersten Ruf: Licht! sogleich mit einem brennenden Lichte hereinzutreten, bat Langheinrich die durcheinandergerathene, an Tischen und Stühlen sich in der Finsterniß stoßende Gesellschaft jetzt durchaus ruhig zu sein, aber auch so ruhig, daß man Mäuschen könnte wispern hören. Halb betroffen, halb lachend über das Beginnen des Wachtmeisters hielten die Gaste sämmtlich den Athem an. »Nun bitt' ich«, sagte Langheinrich, »daß Sie Sich ganz auf mein Gehör verlassen! Befindet sich in diesem Zimmer noch irgendwo eine Uhr, so werd' ich sie unfehlbar entdecken. Ich höre jede Uhr auf zehn Schritte. Und nun still!« …, Nach einigem Räuspern und Hin- und Hertreten wurde es feierlich still. Langheinrich horchte auf. Es währte geraume Zeit, bis er das Ticken einer Uhr vernahm. Endlich unterschied er deutlich den leisen, gleichmäßigen Schall einer Pendelschwingung. »Pst!« sagte er. »Ich werde jetzt Licht! rufen, aber Alles bleibt still und an seinem Platze. Licht!« rief er donnernd. Der Wirth trat herein; 141 Langheinrich bezeichnete einen Platz am Fenster, wo die Uhr sich befinden müßte.
Niemand war am Fenster als Julius Handtke. Dieser stand jedoch unerschrocken. Die Uhr tickte viel höher, weit über ihm. Langheinrich, der geahnt hatte, daß sie von dem Knaben in der Dunkelheit würde fortgeschafft werden, stieg auf einen Fenstertritt, hob einen daselbst befindlichen dichtverwachsenen Blumenstock in die Höhe und zeigte die Uhr. Die demnach ›verlegt gewesene‹ Uhr lag zwischen den Aesten eines Blumenstocks. Noch in demselben Augenblicke wurde Befehl ertheilt, dem armen Handwerksburschen die Freiheit zu geben. Man lachte viel, verwunderte sich, spöttelte auch wohl der ›lange nicht begossenen‹ Blumen und deutete damit die Furcht oder Reue nach einem doch wohl stattgehabten Diebstahl an; aber es genügte, daß die Uhr wieder da war. Dem eigentlichen Diebe konnte nicht weiter nachgeforscht werden.
Vierzehn Tage nach dieser Begebenheit wurde Lude Wächter in ein berühmtes Pädagogium als Alumnus gegeben.
Zwei Jahre darauf wurde er aus dieser Anstalt in ein Schullehrerseminar versetzt.
[142] Schon ein Jahr darauf kam er als Hilfslehrer an eine öffentliche Lehranstalt.
Als mehrere Lehrer dieser Anstalt wegen ihrer Gesinnungen in eine Untersuchung geriethen, wurde die ganze Anstalt aufgelöst und Lude Wächter an eine neue als ordentlicher Lehrer versetzt.
Von dieser Zeit an stockte äußerlich seine für einen armen Landtagelöhnerssohn immerhin glänzende Laufbahn; er kam in seinen Verhältnissen nicht recht weiter.
Die Wahrer der öffentlichen Ordnung, die vier-, fünf mal auf seine Angaben hin wichtige Thatsachen entdeckt hatten, wollten sich seiner als eines Agenten bedienen und machten ihm Anträge, in die höhere Polizei einzutreten. Dem Staate zwar verpflichtet, der Alles für ihn gethan hatte, widerstand Wächter dennoch, aber er blieb der vereinsamteste Mensch von der Welt. Ueberall hin verfolgte ihn unklarer Haß und Mißtrauen. Man hat Aeußerungen von Wächter, daß ihn auch als Lehrer jede aufgehobene Hand eines Kindes, das einen Mitschüler angeben wollte, erschreckte. Sie schien ihm eine aus dem Grabe wachsende Hand eines Kindes, das seine Eltern gemordet hätte. Er hatte die Unbefangenheit des Umgangs mit allen Menschen, ganz besonders [143] aber mit der Jugend verloren. Wer die Menschennatur in ihrer Lebendigkeit, wildwachsenen Frische und ihrem üppigen Aufwuchern nicht harmlos hinzunehmen gelernt hat, wird sich nimmermehr unter der Jugend heimisch fühlen. Der Lehrer Wächter war ausgezeichnet mit dem Einzelnen, aber mit der Masse besinnungslos, feige sogar und ängstlich, schüchtern bis zum Kinderspott. Wer die geheimen Gründe jenes Schlusses einer in ihrem Lehrerbestande anstößig gewordenen Schule kannte, sagte, das böse Gewissen ließe Wächter'n keine Ruhe. Aber man irrte sich. Wächter war sich bewußt, damals, als durch ihn Menschen ihr Brot und ihre Freiheit verloren, nur einer gesetzlichen und verdienstvollen Pflicht gefolgt zu sein; aber in ihm selbst war es einsam und elend. Er zog vor, Privatstunden zu geben. Sein scheues ängstliches Wesen gefiel in der großen Welt nicht, an die er die glänzendsten Empfehlungen hatte; so sank er immer mehr zur kleinen herab, wurde Misanthrop, Geizhals, Cyniker. Man nannte ihn einen verdorbenen Lehrer, aber es war ein verdorbener Mensch, verdorben in dem Sinne, daß er ein Lebensziel gänzlich verfehlt hatte. Es war ein edler Stoff in ihm gewesen; denn der Wahrheitstrieb ist eine der schönsten Eigenschaften eines reinen Herzens. [144] Aber die Bedingungen, die nicht nur die Welt, sondern gerade die Tugend stellt, verlangen, daß Jeder, der die Wahrheit üben will, auch ein Zeuge oder Märtyrer dieser Wahrheit werden muß. Nur da ist die Wahrheit groß und bewunderungswürdig, wo ihr Zeugniß mit dem Einsatz aller Gefahren, die nur zu oft in ihrem Gefolge gehen, abgelegt wird. Nur wer sich durch die Dornen seines Wahrheitstriebes hindurchringt, Mißachtung, Spott, Schande, Rache erträgt und doch im Leben immer bei der Wahrheit bleibt, nur der ist groß zu nennen. Ludwig Wächter war ein Kind von großer sittlicher Kraft, aber man entzog ihn den Rückwirkungen dieser sittlichen Kraft. Sein Heroismus wurde klein. Er war zu wohlfeil erkauft. Der Haß eines Vaters, die Züchtigung einer Mutter nach seinem ersten Wahrheitszeugnisse, die Mißgunst eines reichen Mannes, der ihn von sich gestoßen hätte, der Fluch eines Freundes nach seinem zweiten Wahrheitszeugnisse, wären Prüfungen für ihn geworden, an denen er seine sittliche Kraft hätte stählen müssen. So aber entzog falsche, einseitige und abstracte Lebensauffassung, die schon beim besten Willen soviel Unheil über die Welt gebracht hat, ihn regelmäßig den Rückwirkungen seines Wahrheitstriebes und die Folge war, daß [145] ihn zuletzt die furchtbarste Rückwirkung traf; ohne Zweifel sind es nur Menschen aus dem Volke, in dem er sich zuletzt haltlos verlor, sind es Verbrecher gewesen, die von ihm eine Entdeckung fürchteten und ihn erschlugen. Und noch im Tode zeigte sich Merkwürdiges …, Als ich von dem inzwischen längst aus Walddüren geschiedenen, jetzt in andern Sphären wirkenden Langheinrich die Geschichte Lude Wächter's bei gerichtlicher Aufnahme, so wie sie hier erzählt, erfuhr, war der Ausruf des Ermordeten: › Bei den Karpfen!‹ erklärt. Mit der Entdeckung jener Fische, die man auch aus ihrem Elemente genommen hatte, wie ihn, begann eine Laufbahn, die mit dem Tode endete, und wenn auch Langheinrich sagte: ›So sollte sich Lude verändert haben? So sollte er, wie unser braver, in trüber Andacht und fast religiösem Tiefsinn verstorbener Landrath es auch gedeutet haben würde, ordentlich mit Thränen im Auge gestorben sein und in seinem letzten Augenblicke an Herrn Semmler's Karpfenteich und die kleine künstliche Diebesgrube in der Illritz gedacht haben? Nein –‹
Bis hierher hatte Scharfeneck gelesen, als sein Vortrag von einem Diener unterbrochen wurde, der [146] geräuschvoll eintrat und mit einem: »Herr Assessor!« die fast überreizte Spannung unterbrach.
Es bedurfte nur eines einzigen zugeflüsterten Wortes, als auch schon Scharfeneck, ohne seinen Satz zu beenden, das Manuscript zusammenrollte und den Saal verließ …,
Die Gesellschaft stand befremdet auf, sah nach der Thür, folgte in's Vorzimmer, die Damen waren in ängstlicher Bewegung und ihre Nerven ohnehin ergriffen. Frau von Wolmany bedeutete Alles, sich zu beruhigen. Es war fast als wenn man den Ruf: Es brennt! fürchtete. Es hieß, draußen wären die Commissarien der Polizei. In die allgemeine Bestürzung, die sich indessen bei Erwägung der Stellung des Vorlesers zur Staatsanwaltschaft löste und einer Erörterung der gehörten Lebensskizze Raum machte, kehrte Scharfeneck zurück und erklärte laut:
»Den Schluß meines Vortrages, Verehrteste, muß ich ändern. Ich kann es mit zwei Worten und thu' es aus dem Stegreif. Langheinrich zeigt mir soeben an, daß die wahrscheinlichen Mörder von ihm entdeckt sind. Der Scharfsinnige wollte an meine sentimentale Deutung der von Lude Wächter gesprochenen letzten Worte nicht glauben. Er besichtigte noch einmal den Ort des Verbrechens. Es sind [147] dieß die Quais unserer Stadt. Sein Blick fiel auf die in dem ruhigen und schlammigen Wasser aufgestellten Fischkästen, in denen die Fischer der Vorstadt für die Marktzeit ihre Vorräthe aufbewahren. Er ließ diejenigen durchlöcherten Kästen öffnen, in denen man gewöhnlich Karpfen aufbewahrt. Schon beim zweiten oder dritten Kasten entdeckte man einen schweren Beutel mit einigen Hundert Thalern. Der Besitzer desselben, ein leichtsinniger junger Fischer der Vorstadt, ist meinen vorjährigen Zuhörern schon bekannt. Er wurde gerade mit denselben Gärtnerssöhnen, die damals die Verwirrung im Tanzsaal zu Buchenau anrichteten und schon damals auf Wächter's Angabe verhaftet und bestraft wurden, zusammenbetroffen. Sie sind verhaftet und eben eil' ich einen Thatbestand aufzunehmen, der wahrscheinlich beweisen wird, daß noch das letzte Wort Lude Wächter's eine wahrscheinlich unwillkürliche Huldigung an die Wahrheit ist, die ihm aber zum ersten male in seinem Leben unmittelbar die Folgen eintrug, vor denen die alten Wahrheitspfleger zu seinem Verderben ihn bisher behütet hatten.«
Scharfeneck entfernte sich eiligst.
Die Worte: »Ich begleite Dich!« die er hinter sich auf der Stiege hörte, konnten nur von Oswald [148] kommen, der den Hut ergriff und das Schmerzlichste, was er auch hören mochte, den Debatten vorzog, die sich wie aufgezogene Schleusen über die dießmalige, und wie es schien ansprechendere Darstellung seines Freundes ergießen mußten.
Und war es denn schmerzlich, was er eben vernommen? Ernestinens Geheimniß lüftete sich. Schon am folgenden Tage, als sie die Gefangennehmung ihrer Brüder erfuhr, hörte, daß die Spuren eines Ruderhakens in Wächter's Kopfwunden paßten, und die Gemeinschaftlichkeit des begangenen Verbrechens zwischen fünf Ergriffenen auf der Hand lag, gab Ernestine eine Darstellung ihrer Schuld, die ihr nach der öffentlichen Verhandlung augenblicklich Freiheit erwirken mußte.
Oswald hätte selbst zu ihr fliegen, selbst sie in dem unwürdigen Gewahrsam an sein Herz drücken mögen, aber Ernestine bat unter Thränen, gerade Ernst Oswald ihr nicht vorzuführen. Scharfeneck schien andere Gründe für diese Bitte zu haben, als die der Freund aus dem Zartgefühl des Mädchens herleitete; doch begnügte man sich vorläufig mit der einfachen Thatsache: Ernestine ist unschuldig! Ihre Seelengröße stand noch reiner, ihr Character heroischer [149] da als früher; denn gerade ihre schwesterliche Liebe war es gewesen, die das Opfer eines Gewebes von Schandthaten geworden war, das wir darzustellen im Folgenden versuchen müssen. [150]