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Zweites Capitel.

Der Emporblick.

Ernst Oswald hatte den Beruf der Rechtskunde und späteren Gerechtigkeitshandhabung zwar nicht aus besonderer Neigung gewählt, aber so weit war ihm doch der leitende Grundsatz der Juristen: ›Jeder Mensch gilt so lange für schlimm, als nicht von ihm das Gegentheil bewiesen ist,‹ gegenwärtig, daß er sich auf dem Wege nach der Vorstadt in Vermuthungen über Ernestine Waldmann und ihre Begleiterin erging, die jetzt nicht frei von Mißtrauen gegen ihre Sittlichkeit waren.

Er fand Ernestinen nicht daheim. Auch der Vater war in Geschäften abwesend und die ältern Brüder arbeiteten in einer Fabrik, nicht, wie er anfangs geglaubt hatte, im Gartengeschäft.

[37] Der alte Großvater war, was er schon lange bemerkt hatte, kindisch und unzurechnungsfähig, aber von den im Hause befindlichen kleinern und mittlern Geschwistern erfuhr er so viel, als ihm hinreichend schien, sich schmerzlich genug aufzuklären. Man erzählte ihm auf seine Fragen über den gestrigen Tag, daß es keineswegs eine Fürstin oder Gräfin gewesen wäre, mit der die Schwester in einem glänzenden Wagen sich befunden haben konnte, sondern jene schöne vielbesprochene Malvina Wilde, die sich seit geraumer Zeit nicht hätte sehen lassen, gestern aber in einem prachtvollen Wagen, in Sammet und Seide und mit einem Bedienten vorgefahren gekommen wäre und erzählt hätte, sie wäre durch eine unerwartete Erbschaft plötzlich steinreich geworden. Wie man noch gegafft und gestarrt hätte, wäre Ernestine von ihr ersucht worden, sie zu begleiten. Sie hätte es gethan und eben wäre die Schwester wieder bei der Freundin …,

Oswald hatte genug gehört. Er verstand, was Malvina Wilde eine ›Erbschaft‹ nennen konnte …,

Das Herz zuckte ihm in innerster Brust. Er sah Ernestinen noch unschuldig, aber in grenzenlosester Gefahr.

Sich nun zwischen diese Gefahr werfen, eigen [38]mächtig in ihr Schicksal und ihren Lebensweg eingreifen, weiterfragen, weiterforschen, handeln – dazu hätte er Scharfeneck's so tiefgebilligte Mahnung zum Emporblick und den Gedanken an seine Würde vergessen müssen.

Sein Inneres war schmerzlich bewegt, zerrissen. Er schied zögernd, voll Wehmuth sogar, beschloß auch anfangs, wiederzukommen – den Vater zu warnen, die Brüder zu warnen; doch wieder allein mit sich, verschob er diese Wiederkunft von Tag zu Tag – von Woche zu Woche. Er riß zuletzt mit Gewalt den Gedanken an Ernestinen aus seinem Herzen, sich zwingend, an den ganzen Kreis, in dem er damals gelebt hatte, nur noch mit entrüstetem Stolz und mit völligster Nichtachtung zurückzudenken.

Darüber verfloß der Winter.

Schon daß man nicht aus der Vorstadt das geringste Zeichen des Erstaunens über das plötzliche Abbrechen seiner Besuche gab, bestätigte ihm den Verdacht, daß auch Ernestine, verleitet durch Malvina Wilde, einem bekannten traurigen Loose der Armuth verfallen war.

Ihn in seinem Schmerze aufzurichten fand sich manche Zerstreuung und seine besondere Zuflucht wurde das Haus der Frau von Wolmany.

[39] Diese Dame war allerdings nicht mehr so jung, als Scharfeneck geglaubt hatte. Sie war in dem Uebergangsalter von einer Jugend, die man nicht mehr, auch dem Scheine nach, behaupten kann, zu demjenigen Alter, dem man, wenn man ohne Kinder und ohne unerlaubte Gefallsucht ist, allmälig die Unterlage eines höhern und darum dauernden Reizes für die Gesellschaft zu geben bemüht ist. Frau von Wolmany wollte gefallen, aber innerhalb edler Grenzen. Sie war reich genug, ihr Haus zum Mittelpuncte der interessantesten Begegnungen zu machen. Künstler, Gelehrte, Staatsmänner fanden nicht nur die entsprechendste Aufnahme, sondern wurden, wie dieß bei allen Geistesarbeitern, um sie zu fesseln, nothwendig ist, ausdrücklich von ihr gesucht, mit Absichtlichkeit von ihr herangezogen, sogar verwöhnt und um etwaige Vergeßlichkeit oder Außerachtlassung sonst üblicher Rücksichten nicht im mindesten mit Empfindlichkeit bestraft. Sie hatte jeden Abend Gesellschaft. Fast immer war bei ihr eine Unternehmung im Werke, eine musikalische oder litterarische Vorbereitung, und sollte aus letzterem Bereiche auch nur die Vorlesung eines neuen Dramas oder einiger gefälligen Gedichte zur Ueberraschung kommen. Mit besonderer Vorliebe pflegte sie ihre Montage, an denen jeder ihrer [40] Hausgäste, die es damit wagen durften, der Reihe nach einen Vortrag hielt.

Oswald war in nicht geringer Verlegenheit, als er im November erfuhr, daß auch ihn die Reihe, etwas lesen zu müssen, etwa im Februar treffen würde.

In dieß gesellige, anregende, immer offene Haus ward auch Scharfeneck eingeführt. Die ruhige, klare, wohlwollende und auf Prüfung sich stützende Weise dieses jungen, mit gefälligen Formen ausgestatteten Mannes wußte sich einen ganz besonders sichern Erfolg zu erwerben; doch trat Oswald darum nicht in den Schatten.

Sein inneres und äußeres Wesen wuchs. Eine etwas lange niedergehaltene Kraft der Entwickelung sprang wie mit stählernen Springfedern empor und gegen die Frühjahrszeit hin hatte Scharfeneck nicht nöthig, einige male auf den Kreis, in dem Oswald im Sommer gelebt hatte, mit Ironie zurückzukommen. Er fragte nach einem, in einer großen Fabrik angestellten Buchhalter Wenk, nach einem jungen Commis Sigmund Hartmann, nach einer Wäscherin Peltzer, nach einem Händler mit gewöhnlichen Lebensmitteln Bietz …, Oswald, fast verletzt, wich aus und wollte nicht Rede stehen. Befremdender und zur Neugier reizend konnte es scheinen, als zuweilen [41] Malvina Wilde, auch Ludwig Wächter genannt wurde, aber Oswald ging auf nichts mehr ein. Erst da trat mit unausweichlicher Macht die Vergangenheit wieder auf, als Oswald eines Tages Scharfeneck auf einem Verhörzimmer des peinlichen Amtes besuchen wollte und dieser zu ihm sagte: »Ernst, verlaß das Zimmer! Jeden Augenblick kann Jemand eintreten, den so wiederzusehen Dich mit schmerzlichen Empfindungen erfüllen müßte!« Wie Oswald noch zögerte, noch die Fürsorge des Freundes bei keiner Möglichkeitsvorstellung unterbringen konnte, kam die Sorge schon zu spät. Die Thür öffnete sich und ein junges, einfach gekleidetes Mädchen trat blaß und schüchtern herein.

Es war Ernestine.

Sie zu grüßen, sie anzureden vermochte Oswald in einer ihn sogleich sprachlosmachenden Bestürzung nicht. Aber auch um sich zu entfernen fehlte ihm die Kraft. Er trat von dem hohen Lehnstuhle, auf dem Scharfeneck neben seinem Protocollführer saß, zwar zurück, brachte aber seinen Entschluß, nicht Zeuge der hier bevorstehenden Verhandlung zu werden, nicht weiter zur Ausführung als bis zum letzten Fenster des Saales. Er wandte den Rücken und Scharfeneck hatte schon mit der im Gegensatz zu dem Tage bei [42] Gersons fast ärmlich Gekleideten ein Verhör begonnen, das wörtlich so lautete:

»Wie heißen Sie?«

»Wilhelmine Ernestine Waldmann.«

»Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn Jahre.«

»Wo wohnen Sie?«

Oswald erstaunte nicht, eine andere Wohnung als die des Vaters zu hören.

»Leben Ihre Eltern noch?«

»Nur mein Vater, ein Gärtner in der Vorstadt.«

»Womit beschäftigen Sie Sich?«

Die Pause, die hier eintrat, griff Oswald so in's Herz, als streckte sich eine eisige Hand gegen ihn aus.

Ernestine sagte: »Ich nähe Wäsche für ein Nachweise-Bureau, das unter der Leitung des Frauenvereins steht.«

»Wie viel Brüder besitzen Sie?«

»Fünf.«

»Ist Ihnen bekannt, daß der Aelteste, Heinrich, schon zweimal in Untersuchung war?«

»Ja.«

»Kannten Sie die Betheiligung des zweiten Bruders Wilhelm?«

[43] »Nach der Untersuchung gegen Heinrich.«

»Kennen Sie die Vergehen, deren sie schuldig sind?«

»Diebstahl bei Nachbarn.«

»Seit wann sind Ihnen diese Vergehen bekannt?«

»Seitdem ich das Haus meines Vaters verließ.«

»Ihr Vater ist schwach und vernachlässigt seine Pflichten?«

»Die Mutter fehlt. Meine zweite Schwester läßt sich an, ihr ähnlicher zu werden, als ich es leider bin.«

»Warum leider?«

»Weil ich meinen Brüdern gegenüber keine Gewalt habe.«

»Kennen Sie Malvina Wilde?«

»Ja!«

»Seit wann?«

»Sie ist Schulfreundin von mir. Auch wohnten ihre verstorbenen Eltern in unserer Nähe.«

»Wie kannten Sie Malvina Wilde von Character?«

»Froh und gutmüthig, unwahr und eitel.«

»Sind Sie früher von der Verbindung unterrichtet gewesen, durch die Malvina Wilde im vorigen Herbst drei Wochen lang eine auffallende Existenz führte?«

[44] Ernestine erröthete und sprach ein festes: »Nein!«

»Sie behauptet aber, ihre Einkäufe immer mit Ihnen gemacht zu haben?«

»Einmal nur! Ich ließ mich von einer ihrer fast unwiderstehlichen Unwahrheiten, in denen sie Meister ist, täuschen. Das Vorfahren in einem Wagen mit einem Bedienten schien mir zu überraschend, um eine Erfindung zu sein. Ich war Thörin genug, ihr einige Tage zu glauben.«

»Haben Sie sie seitdem wiedergesehen?«

»Nur einmal.«

»Auf welche Veranlassung?«

»Sie kam mit Thränen zu mir, klagte, daß sie Feinde hätte, die ihr das Leben verbitterten und all' ihr Glück zerstört hätten. Man hätte sie als Schwindlerin verklagt.«

»Was verlangte sie von Ihnen?«

»Ich sollte von den kostbaren Dingen, die sich jetzt hier auf dem Gerichte von ihr befinden, aussagen, daß sie diese sämmtlich mit mir damals schon im Herbste auf unserer ersten und einzigen Ausfahrt sich für ihr damals schon besessenes Geld gekauft hätte.«

»Haben Sie Sich diese Dinge draußen angesehen?«

»Ja.«

[45] »Können Sie bezeugen, daß sie sämmtlich damals von Ihnen gemeinschaftlich gekauft wurden?«

»Nur von einem Hute kann ich es und von einem Shawl; sie waren beide für mich zum Geschenk bestimmt. Ich nahm sie nur deßhalb in dem Laden an, um das Aufsehen zu vermeiden, wenn ich diese Sachen zu tragen ablehnte, stellte aber nach einer halben Stunde schon Beides zurück. Malvina hat diese Dinge, gutmüthig wie sie ist, mir noch immer aufbewahrt. Alles Uebrige an Ringen, Brochen, Kleidungsstücken ist mir unbekannt und kann erst in neuerer Zeit von ihr angeschafft worden sein. Ich will dieß beschwören.«

»Sie können abtreten, wenn Sie vorläufig das Protocoll noch einmal durchgelesen und unterschrieben haben.«

Ernestine ergriff die Blätter, stellte sich so, daß sie Oswald's nicht ansichtig wurde, las wahrscheinlich ohne Bewußtsein, voll Vertrauen, unterschrieb und entfernte sich mit mühsamer Fassung, aber in einer unverkennbaren Erhebung und würdevoll.

Oswald hatte die Hand an's Herz gelegt.

Es drohte ihm zu zerspringen. Es stand bei ihm fest, daß er zwar das auch von ihm verkannte arme, eingeschüchterte und durch eine leichtsinnige [46] Freundin so beschämte Mädchen hier nicht anreden konnte, aber er hätte sich der entschiedensten Herzlosigkeit anklagen müssen, wenn er nicht beschloß, sie noch heute in der von ihr genannten Wohnung aufzusuchen. Es lag in Ernestinens Ton, in ihrer Haltung, in ihrer Art sich auszudrücken etwas so Elegisches, etwas so neu ihn Anziehendes, daß er ihrer, obgleich sie von der Frische, die die freie Luft des Gartens sonst ihren Wangen angehaucht, schon verloren hatte, jetzt wieder mit wahrer Schwärmerei gedenken mußte. Die sanfte Blässe, das öftere Erröthen gaben ihr in seinen Augen etwas Verklärtes.

Und Scharfeneck ahnte wohl die Folgen dieser zufälligen Begegnung. Er sprach sich auch, als beide Freunde nach einem geheimen Verhöre, das Scharfeneck noch mit Ludwig Wächter, dem Mann mit dem weißen Hute, anstellte, und sie später wieder zusammentrafen, darüber mit ängstlicher Besorgniß aus.

»Es thut mir leid, Oswald,« sagte er, »daß Du Zeuge einer solchen Scene werden mußtest. Dem verkannten, armen, allerdings interessanten Mädchen war diese Vernehmung vor Gericht nicht zu ersparen. Daß sie so grausam dadurch geschärft sein mußte, Dir zu begegnen, thut mir herzlich leid. Uebrigens [47] muß ich Dir sagen, es ist kaum glaublich, was sich damals Alles im Stillen um Dich her bewegt hat, und sich vor Dir verbarg und von Deinem gutmüthig Alles verschönernden Auge nicht beobachtet wurde! Schon seit sechs Wochen hab' ich die Verwickelungen ganz einfacher, ihren Keimen nach in einer ländlichen Idylle entsprungenen Thatsachen und Begegnungen zu lösen. Ich will heute Abend versuchen, davon ein Bild in der Vorlesung zu geben, die ich bei Frau von Wolmany halten muß. Ich möchte Dir das Versprechen abnehmen, Oswald, daß Du Ernestinen nicht früher wieder aufsuchst, bis auch Du meinen Vortrag gehört hast.«

Oswald hatte Bedenken, fürchtete etwas für Ernestinen Verletzendes, vielleicht gar etwas ihn selbst Betreffendes zu hören …,

Aber Scharfeneck sagte: »Du trugst neulich eine Art Dorfgeschichte aus unserer Heimath vor. Ich will einmal eine Stadtgeschichte vortragen, bei der Du weder mit verbundenen Augen, noch sonst in Deinem und leider so allgemein verbreiteten harmlosen Glauben an das ›edle, sittliche, gute‹ Volk persönlich sollst gekränkt werden. Versprich mir jedoch –«

Oswald brach des Freundes Bedenken ab …,

[48] Der Abend kam heran.

Eine große Gesellschaft hatte sich versammelt. Die Kerzen brannten. Frau von Wolmany hatte den Tisch des Vorlesers mitten unter Blumen und hängende Rankengewächse gerückt. Scharfeneck trat vor, blickte etwas sarcastisch, suchte nach Oswald, der sich in einem Winkel verborgen hielt, und begann erst mit einer Bitte um Nachsicht für eine städtische Dorfgeschichte, wie er sie nannte.

»Glücklicherweise,« sagte er, »haben wir es in unserm Geschmack dahin gebracht, uns für die kleinen Abenteuer von Bauern, Milchmägden, Viehhirten, Recruten ebenso zu interessiren, wie man sich sonst für Undine und Kühleborn, Schlemihl und seinen Schatten, Goethe's Eugenien und Theresen, Natalien und Ottilien interessirte. Ich bitte, mein kleines Lebensbild zu nennen: › Die Weihe der Arbeit,‹ oder wenn Sie einen humoristischen Titel lieber wollen: ›Die Kartoffelsetzer.‹«

Man ermuthigte den allbeliebten jovialen Gesellschafter zu beginnen.

Oswald horchte zu erfahren, mit welchen Menschen er unwissentlich umgegangen wäre. Er war auf eine Satire über das sogenannte ›Volksleben‹ gefaßt und zwar auf eine mit den derbsten Strichen. [49]


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