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Sechstes Capitel.

Die Brüder.

Ernestine hatte fünf Brüder.

Zwei davon, die älter als sie selbst waren, Heinrich und Wilhelm, sind uns in ihrem Leichtsinn bereits bekannt.

Doch übertraf sie Alle ein, Ernestinen selbst gleichaltriger, Dritter, Namens Gustav, äußerlich fast liebenswürdig und von einem Schein gefälliger Solidität.

In jener großen Fabrik, die Wilhelm und Heinrich, obgleich sie auf kurze Zeit schon in Gefängnissen gewesen waren, aus Nachsicht als Arbeiter duldete, stand Gustav, äußerlich unbescholten, als Comptoirist. Seiner scheinbaren Treuherzigkeit war [151] es immer gelungen, die Brüder dem reichen Fabrikherrn wieder zu empfehlen, während seine eigene Gleißnerei, seine versteckten Ausschweifungen und Unredlichkeiten nicht zu Tage kamen. Ernestine kannte dieses Gustav's ganze Keckheit. Sie verabscheute ihn mehr als die beiden älteren Brüder, die nur aus Wildheit und schlechtem Umgang, besonders mit den Söhnen eines wohlhabenden Fischers, Namens Brunck, auf ihre unregelmäßige Bahn gezogen wurden.

An einem Morgen, wo lautlose Stille um Ernestinen herrschte, ihre Miethsleute auf Arbeit ausgegangen waren, hatte es leise bei ihr angeklopft. Sie öffnete …,

Ihr Bruder Wilhelm trat ein. Er war noch unter Ernestinens Brüdern der Treuherzigste, während sie dem ihr verhaßten Gustav verbot, sich je vor ihr blicken zu lassen. Aber schlechte Gesellschaft hatte auch Wilhelm verdorben. Ernestine hatte schon oft Thränen, Worte der Liebe verschwendet, ihn von dem Pfade, auf dem sie ihn wandeln sah, abzubringen, ihn vor böser Gesellschaft zu warnen. Wenn der junge, scherzende, lachende Mensch damals in dem Garten seines Vaters erschien, hatte Oswald niemals Ahnung gehabt, was diesen Jünglingen schon Alles an den Fersen haftete!

[152] An jenem Tage in der Frühe, als Alles um Ernestinen still war, tritt Wilhelm bleich, verstört, düster bei ihr ein, setzt sich, stützt den Kopf auf und seufzt mit tiefster Herzensangst. Er erzählt, er würde die Stelle in der großen Fabrik, wo man ihn aus Freundlichkeit und durch die Fürsprache des schmeichelnden Gustav wieder aufgenommen, bald für immer verlieren. Auch wär' es besser, er lebte nicht mehr! fuhr er fort.

»Wie?« rief die Schwester entsetzt und horchte auf.

»Seine Tage kämen ihm ohnehin gezählt vor,« sagte Wilhelm, und stieß dabei dumpfe Worte aus, die er mit den auffallendsten Geberden unterstützte.

Ernestine erschreckt, drängt nach der Ursache seines Kummers, räth auf ein böses Gewissen, auf einen neuen Leichtsinn, dessen Entdeckung Wilhelm fürchtete, auf ein Verbrechen wohl gar …,

Wilhelm antwortete nicht und bestätigte durch sein düsteres Schweigen nur der Schwester entsetzliche Ahnung. Nach langem Drängen stößt er endlich einen herzzerreißenden Seufzer aus und sagt mit halb wahnsinnigem Lachen: »Das wird nun Zuchthaus und mindestens zehn Jahre!«

»Um Gottes willen!« schreit Ernestine auf, schließt [153] alle Fenster, sieht nach den Thüren auf dem Vorplatze. Alles still, Alles hinlänglich ruhig, um die Verwünschungen auszusprechen, die sich ihr zwischen ihre Thränen drängten. »Elender!« rief sie voll Verzweiflung. »Was hast Du begangen?«

Wilhelm schwieg und sagte nur: »Du kannst mir und uns Allen doch nicht helfen!«

Als sie dieß Wort und die Andeutung eines ganzen Complots hörte, war es ihr erst, als wenn das ein Wort wäre, hervorgegangen aus einer erlangten Wissenschaft von dem anvertrauten Gelde Ludwig Wächter's. Es war ihr geradezu gewesen, als wenn bei diesem Worte: ›Du kannst uns doch nicht helfen!‹ die Augen des jungen Wüstlings einen unheimlichen Blitz entsendet hätten auf die Thür des Schlafkämmerchens nebenan, wo in einer Truhe dicht an ihrem Bette über eine Woche schon fünfhundert Thaler verschlossen lagen; Wächter hatte sie wieder abholen wollen. Der Gedanke an das Geld gab ihr Kraft. »Bube!« rief sie. »Wenn Du unverbesserlich bist, so verlaß meine reine Schwelle, wirf Dich in's Wasser, wo Du willst, ein Mühlstein an den Hals eines Diebes!« Es war die Sprache der Verzweiflung, die so schon mit dem Aeußersten sich gegen Schreckliches wehrte …,

[154] Wilhelm, statt sich zu erzürnen, breitete die Arme kreuzweise auf den Tisch, legte den Kopf auf und fing zu weinen an.

Das Schluchzen eines feigen Mannes kann für Frauen erkältend wirken bis zur Verachtung. Hier untergrub es aber ihren Widerstand und lockte selbst Thränen hervor. Ernestine, außer sich über die Dinge, die einer solchen Verzweiflung, solch' einer plötzlichen Furcht eines verwegenen Menschen zum Grunde liegen konnten, wehrte sich noch gegen ihr Mitleid. Sie ließ hellauf wieder ihren Zorn lodern, trat an Wilhelm heran und rüttelte ihn, faßte ihn am Kragen seines Rockes, tobte die ganze Entrüstung einer sittlichen Natur aus, die mit den furchtbarsten Anstrengungen sich wehrt gegen den Gedanken an Entsetzliches und nicht glauben will, nicht glauben kann und die tiefste Verzweiflung empfindet vor der dennoch bestehenden Wahrheit.

Wilhelm ließ Alles geschehen und brachte sie eben dadurch in Verzweiflung bis zum Weinen. Er bewahrte sein Geheimniß. Als kennte er die Natur eines Weibes, ließ er Ernestinen sich erst in ihrem Zorne auskämpfen und wußte dann wohl, daß die Erschöpfung mildere Saiten aufziehen würde.

Mitten in diesem Aufruhre aller Gefühle der [155] durch die ohnehin durch Oswald's fast zehntägiges Ausbleiben und den offen ihr damit ausgesprochenen Bruch im Zustande kraftlosester Erschöpfung Befindlichen hörte sie Geräusch auf dem Vorplatze.

Sie öffnete.

Wie auf Verabredung kam leise die Treppen heraufgeschlichen Heinrich, der älteste Bruder. Schüchtern grüßte er die Schwester, die über den Anblick des ohne Zweifel Betheiligten erstarrte. Heinrich that, als wisse Ernestine nichts von der Verlegenheit der Brüder. Er wollte Wilhelm nur, wie er sagte, herausrufen und endlich mit ihm gehen heißen. Wilhelm stand auf und wollte gehen.

»Du bleibst!« rief Ernestine entschieden und drückte mit einer sie wie ein Krampf überkommenden Gewalt der Hände den Bruder nieder. »Du kommst herein!« herrschte sie den Andern an, warf die Thür zu und drückte Heinrich fest an die Wand. »Was habt Ihr vor?« stöhnte sie. »Was giebts unter Euch!«

Heinrich war sonst kurz und bündig. Heute ließ er Alles mit sich geschehen und nur wie mit bösem Gewissen sagte er: »Was ist denn? Was willst Du denn? Wilhelm soll herunter kommen, Hartmann ist da. Wir haben mit ihm zu sprechen.«

»Hartmann?« rief Ernestine außer sich und ein [156] neuer Schauder überfiel sie; denn sie sah einen Zusammenhang von Menschen und Verhältnissen, die ihr entsetzlich waren. Sie sah wie damals, als sie Oswald verlassen hatte, den Grund in ihren Umgebungen, sie sah jetzt, wo sie wieder ihres Looses, von Oswald eines Tages vergessen, preisgegeben zu sein, inne war, Menschen in ihrer Nähe, die reine Naturen von ihr entfernen mußten. Dieser Hartmann! Sie wußte nichts von ihm, als daß er zu den vielen Bureaukräften der Fabrik gehörte, wie ihr Bruder Gustav, dabei ein eitler Prahler, ein Elegant war, den Malvina Wilde liebte, dieselbe Malvina, die schon einmal so verhängnißvoll in ihr Leben eingegriffen hatte. Als Malvina an jenem Abend einer Landpartie, die wir kennen, ermüdet und ohne Halt (in sich oder in einem eitlen jungen Manne, dem ihr Herz gehörte), ein Opfer des Zufalls und der Intrigue geworden war, hatte sie das Loos, das ihr der junge Graf Edgar – Luchsifuchsi war ein scherzender von Scharfeneck erfundener Name für den Sproß einer großen und reichen Familie – auf kurze Zeit, bis seine Eltern Einsprache thaten, bereitete, als Uebertäubung ihrer Scham benutzt. Als der junge Graf sie aufgeben mußte, die gemietheten Bediente und Pferde von seinen Angehörigen [157] untersagt erhielt, er selbst verheirathet wurde, hatte sie die Demüthigung eines so schnellen Sturzes nicht ertragen mögen und dennoch ihre schimmernde Existenz fortsetzen wollen. Die Gerichte machten diesem Beginnen ein Ende. Für einige Zeit, die sie theils im Gefängnisse, theils auswärts zubrachte, verschwand sie. Sie kehrte zurück mit aller List und Verschlagenheit, die allmälig die Folge eines solchen immer tiefer gehenden Verfalls, selbst bei sonst nicht gerade schlimmen Naturen, ist; doch war ihr die Anhänglichkeit an jenen Siegmund Hartmann geblieben, den sie, fast möchte man sagen gerade seiner Sprödigkeit und Herzlosigkeit wegen, nicht in ihrem bessern Innern hatte aufgeben mögen. Sie traf mit dem jungen Manne wieder zusammen. Wie ihr näheres Verhältniß war, wußte Ernestine nicht. Sie hatte die verlorene Jugendfreundin mit Strenge von sich abgewiesen, so viel auch Wächter, der sie noch öfter sah, von ihr erzählte.

Mit einem, tief aus gepreßter Brust wie ein Hilferuf sich lösenden und schon mit Thränen, die von ihrer nachlassenden Kraft kamen, gemischten Seufzer, sagte sie auf einen Stuhl sinkend: »Was soll Hartmann? Was habt Ihr? Redet!« …,

Heinrich wollte Wilhelm nun wegziehen und [158] meinte trotzig: »Das ginge sie ja all' nichts an! Was Wilhelm sich hier aufhalte!«

Wilhelm aber erwiderte: »Die Schwester könnte helfen; sie hätte einen Freund, der reich wäre! Freilich,« setzte er hinzu, »anders als mit etwas Ordentlichem ist uns nicht geholfen!«

Oswald also sollte Geld geben! Das war das Ziel! Diese Erwähnung Oswald's mehrte Ernestinens Schmerz! Schon konnte sie unter erstickten Thränen nicht mehr als wiederholen, was es mit Hartmann solle, und so erfuhr sie denn:

Seit geraumer Zeit hätte sich, freilich unter ganz neuen Bedingungen, wieder jener Kreis zusammengefunden, der sich vor Jahr und Tag wegen der Kartoffelaussaat und auf dem Tanzsaale in Buchenau erzürnte. Diese Aussöhnungen sind im Volksleben characteristisch. Der Kreis von Bekannten ist bei geringen Leuten so klein und doch sind die Leidenschaften und der Egoismus groß. So kommt das Ende immer wieder in den Anfang zurück. Frau Peltzer, trotz eines Processes, regierte wieder und veranstaltete wieder Partien. Hartmann, Malvina, die Brüder Wilhelm, Heinrich und Gustav Waldmann, die Brunck's, das wäre, erfuhr sie, ein Verkehr geworden, wo Einer den Andern im Wetteifer überbot. [159] Man hätte mehr Geld ausgegeben, als man durfte. Man hätte geborgt, Einer vom Andern. Man hätte sich zu helfen gesucht wie es eben ging, bis die anvertrauten Geschäfte der Fabrik wären veruntreut worden. Seit einigen Wochen schon hätte man Zahlungen nicht eingetragen, in den Büchern Irrthümer verdeckt, ja sogar einen Wechsel gefälscht … Die Entdeckung stünde jeden Augenblick bevor und nur zwei Wege der Rettung gäbe es, entweder Flucht aller Betheiligten oder ein versteckter, die Unordnungen deckender Einbruch in die Casse der Fabrik, zu der die Brüder riethen …,

»Allmächtiger Gott!« unterbrach Ernestine; »Ihr geht mit Tollkühnheit an ein zweites Verbrechen, um ein erstes gut zu machen!« …,

»Was bleibt uns übrig!« sagte Heinrich. »Auf meinen Theil könnt' ich wohl hundert Thaler wieder zur Stelle schaffen.«

»Und ich durch Brunck's zweihundert Thaler,« sagte Wilhelm.

Aber Beide setzten hinzu, daß Gustav, der die Seele dieser Comtorverbrechen war, sich nicht helfen könnte, wenn er nicht sechshundert Thaler sogleich zur Hand hätte. Hartmann hätte sich durch Malvinen geholfen. Sie könnten den Bruder nicht im [160] Stiche lassen, umsoweniger, als sie selbst verschuldet wären und nicht wüßten, wie frei bleiben. So müsse denn Rath geschafft werden! So oder so! Wollte sie die Schwester angeben, wär's Recht. Sie hätten mit dem Leben längst ihre Rechnung gemacht. Neulich hätten sie im Flusse geschwommen, Wilhelm hätte einen Krampf im Fuß bekommen und wäre gesunken. Fritz Brunck hätte ihn nur sollen sinken lassen …, sie müßten sich jetzt ordentlich helfen und (Heinrich stieß Wilhelm's Kopf gegen die Wand als den eines Feiglings, der sie hier an die Schwester verrieth) …, es bleibe dabei …, in der Nacht käm' es zur Ausführung …, was der Schwager, Herr Oswald, solle, Geizhals wäre der immer gewesen …, Gustav's falscher Wechsel wird heute entdeckt. »Komm! Komm!« herrschte Heinrich und riß den Bruder an sich, um ihn mit fortzuziehen.

Ernestine sprang dazwischen. Sie hatte ein anvertrautes Pfand von fünfhundert blanken Thalern im Nebenzimmer liegen. Gab sie dieß Geld zur Deckung des Deficits her, so besaß sie die Mittel nicht, durch ihrer eigenen Hände Arbeit sie Ludwig Wächter'n je wieder zu erstatten. Oswald um ein Darlehn anzugehen? Wie konnte sie das über sich gewinnen, selbst wenn sie nicht von ihm verlassen [161] gewesen wäre! Der älteste Bruder drängte, tobte, sah zum Fenster hinaus, sprach von Gustav's Verzweiflung und Hartmann's Ungeduld, dem sie schuldeten! Heinrich sagte: man könnte sie alle heraufrufen, sie ständen unten …,

»Nein!« rief die verzweifelnde Schwester. »Eine Herberge von Räubern und Dieben hier?« Sie kannte Hartmann nicht, sie mochte ihn nicht sehen und nun hörte sie draußen schon Tritte. Sie öffnete. Gustav stand auf der Treppe, bleich wie die Wand, scheu wie das böse Gewissen und, als Ernestine öffnete, wie auf der Flucht. Sprachlos winkte sie ihm. Das Wort im Munde schien auch ihm zu stocken. Er deutete auf Jemanden, der unten warte …, So ließ sie die Thür der Hand entgleiten und verlor die Besinnung. Sie sah sich mit allen diesen Menschen schon vor Gericht, sah sich nicht mehr herauskommen aus dem Fluche ihrer niedern und so unglücklich bedingten Herkunft, sie schwankte zurück, taumelte, sie wußte nicht, was sie that, als sie die Kammerthür öffnete, die Truhe aufschloß und den staunenden Brüdern, die in der That nur einen Brief an Oswald, den reichen Sohn eines Gutsbesitzers erwartet hatten, den schweren Beutel mit Geld übergab. Die Brüder waren starr. Sie umarmten [162] Ernestinen. Wilhelm küßte der Schwester die Hände. Heinrich wandte sich abwärts und schien seine Gedanken zu verbergen. »Das Geld gehört Wächter'n,« sagte Ernestine, »ich werde schon sehen, wie ich mit ihm fertig werde …,« Draußen hinter der geschlossenen Vorplatzthür näherte sich Gustav, sie rief aber: »Fort! Fort! Laßt mich allein!« In wenig Augenblicken waren die Brüder verschwunden und Ernestine war allein – mit dem furchtbaren Gefühl, was sie Ludwig Wächter'n sagen würde …, Und vierundzwanzig Stunden darauf wurde dieser ermordet gefunden.

Oswald hätte den Namen eines Rechtskundigen nicht verdient, wenn er nicht nach dieser, ihm allerdings sogleich nicht im Ganzen vorliegenden Aufklärung gesagt hätte: »Diese Schurken sind dreifach strafbar! Sie sind Mörder, Diebe und Betrüger! Sie wußten, daß Wächter, der sich mit ihnen hielt, das Geld ihrer Schwester gegeben und waren uneinig, ob sie es einfach ihr rauben oder durch List abgewinnen sollten …,« Er fuhr fort: »Jenem Siegmund Hartmann trau' ich die Theilnahme an diesem Ueberfalle kaum zu. Malvina ist bei dem ganzen Streich nur genannt worden, weil man von Ernestinen wußte, daß sie eher Alles thun würde, als sich etwa bei ihr [163] erst nach dem Zusammenhang erkundigen –« und so sprach Oswald diese und jene Vermuthung aus und gab auch zu, daß man vielleicht auf ihn selbst und seine eigene Casse es abgesehen hatte; »wie aber Wächter's Tod? Erfuhr Wächter das Schicksal Ernestinens? Was sagte der zu dem verlorenen Gelde?« »Er suchte es sich wahrscheinlich selbst wieder,« vermuthete Scharfeneck; denn nur Vermuthungen ließen sich aussprechen, da Wächter auf ewig stumm war. »Ob er die wahre Geschichte der nothgedrungenen Veruntreuung Ernestinens erfuhr, kann zweifelhaft erscheinen;« fuhr Scharfeneck fort; »sicher blieben ihm die Namen verborgen. Doch suchte er sie sich selbst. Sein Instinct konnte ihn, als Ernestine sich ihm offenbart hatte, nur auf die Brüder führen. Ich denke so. Er paßte diesen Menschen auf, schlich sich nächtlicherweile sie irgendwo entdeckend nach, fand sie mit den Söhnen des Fischermeisters Brunck auf einem gemeinschaftlichen Wege. Wohin? Zu dessen Fischbehältern. Konnten sie der Schwester trauen? Mußten sie nicht eine Untersuchung gewärtigen? Erschreckten sie nicht, als Wächter genannt wurde, dem sie schon einmal Gefängniß verdankten? Wo das Geld verbergen? Bei sich selbst? Irgendwo vergraben? Sie trugen es in die verschlossenen Fischbehälter, deren [164] Schlüssel die jungen Brunck's führten. Dort muß er sie beobachtet haben. Als sie von den Fischbehältern zurückkehrten, begab sich Wächter ohne Zweifel selbst an die Kästen, wo man einen schweren Gegenstand eingesenkt hatte. Die Räuber kehren noch einmal zurück, entdecken ihn, sie sehen sich verrathen, verfolgen den Fliehenden und schlagen ihn nieder. Das einzige Wort, das er noch sprechen konnte, verrieth sie.«

»O,« rief Oswald aus, »giebst Du nun nicht zu, Freund, daß Ernestine sich aus allen diesen Schrecken wie ein Phönix von seinem Flammenneste erhebt? Könntest Du noch einen Funken von Achtung vor mir haben, wenn ich dieß edle und seltene Mädchen ihr grausames Schicksal entgelten ließe, sie nicht vielmehr wie eine gehetzte Unglückliche an mein Herz zöge und sie in meiner Liebe die Ruhe finden ließe, welche die Arme nach so vielen Leiden verdient?«

Scharfeneck schwieg. Der Freund wallte in schmerzlicher Empfindung auf. »Sprich nicht mehr vom Emporblick!« sagte er, »ich würde mich selbst nicht mehr achten, wenn ich die Hoffnungen täuschte, die das Mädchen auf mich setzen darf …,«

Scharfeneck erwiderte nichts, zog sein Portefeuille, [165] öffnete es und gab Oswald ein von seiner eigenen Hand geschriebenes Blatt.

»Was soll das?« fragte Oswald.

»Hier, Ernst!« sagte Scharfeneck. »Dieser Brief von Ernestine Waldmann wurde in der Brieftasche des Erschlagenen gefunden. Das Original mit Blut bespritzt liegt bei den Acten und wird nicht zur öffentlichen Verhandlung kommen. Die Abschrift ist von mir. »Ich kann Dir die Kenntnißnahme dieser Zeilen nicht ersparen.«

Oswald las einen Brief, den Ernestine Waldmann einige Stunden nach dem Ueberfalle, den die Brüder auf ihr gläubiges und schwesterliches Herz versucht und glücklich ausgeführt hatten, mit gewandter, zierlicher Handschrift an Ludwig Wächter gerichtet hatte.

Er lautete, auch in stilistischer Hinsicht überraschend, folgendermaßen:

,Lieber Herr Wächter! Sie haben mir durch allzu großes Vertrauen den Muth gegeben, in einem der qualvollsten Augenblicke meines Lebens die Feder zu ergreifen und nach Fassung ringend mich mit Ihnen schriftlich auszusprechen. Ihr Leben haben Sie mir seit dem letzten Jahre unserer Bekanntschaft so oft erzählt, daß ich es wage, die gute Meinung, [166] die ich immer von Ihnen hegte und die ich oft genug gegen Ihre Feinde vertheidigte, heute zu meinen Gunsten sprechen zu lassen; denn ich habe Ihnen Schmerzliches anzuzeigen. Die Summe, die Sie mir anvertrauten, besitz' ich nicht mehr. – – Wie ich dazugekommen, ohne Sie zu fragen, die Ersparnisse Ihres freudlosen Lebens an Jemanden auszuleihen, der nicht im Stande ist, mir auch nur die geringste Bürgschaft der Wiedererstattung zu leisten und sie auch schwerlich jemals wiedererstatten wird, darüber lassen Sie mich mit Stillschweigen hinweggehen. Sie kennen mich zu gut, lieber Herr Wächter, als daß Sie nicht glauben sollten, ich hätte Ihr Vertrauen nur erst nach den fürchterlichsten Prüfungen getäuscht, nach Prüfungen, die mir das Schicksal auferlegen wollte. – – Ich fühle mich jetzt Ihre Schuldnerin. Was Sie seit länger als einem Jahre zu meiner Ausbildung thaten und ferner noch ohne Ansprüche auf Entgeltung thun wollten, das hab' ich dennoch immer mit meiner Hände Arbeit und nach Ihren geringen Forderungen gutgemacht. Wie ich aber den Verlust Ihres Eigenthums gutmachen und die Ersparnisse Ihres Lebens, die Hoffnung Ihrer Zukunft Ihnen ersetzen soll, das ist ein Gedanke, der mich vernichtet. Erwerben kann ich es nicht; noch [167] weniger kann ich den Freund, den Sie kennen, um Beistand angehen; denn Sie wissen, daß ich seit dem Tage, wo er zum ersten male nicht wieder in unsere bescheidene Hütte, damals in der Vorstadt, die leider nicht die Hütte der Unschuld und Tugend war, zurückkehrte, die Ueberzeugung gewann, ein so Hochstehender könnte ein armes Dasein wie das meinige durch Freundschaft nur dann auszeichnen, wenn es ihm nicht verpflichtet ist. Ich fühle oft, daß es doch wohl ein unreiner Geist war, der mir einflüsterte: Du mußt die Spuren Deiner Armuth und Deinen Mangel an Bildung verwischen, wenn Du die Freundschaft eines solchen Mannes verdienen willst! Sie wissen, lieber Herr Wächter, wie ich, von thörichter Verblendung getrieben, gerungen habe, aus meinen häuslichen Verhältnissen mich frei zu machen und meinen Mangel an Bildung zu verdecken! Wenn ich mir die Schreckensaugenblicke vergegenwärtige, wo ich das mir von Ihrem Vertrauen übergebene Pfand aus meinen Händen geben konnte, so muß ich mir zu meiner tiefsten Beschämung gestehen, daß es wieder nur die Furcht war, vor dem Freunde im düstern Lichte zu erscheinen, umgeben von Verhältnissen, die ihn in der That auch jetzt schon wieder von mir entfernt haben. Er wird nicht mehr zurückkehren. Seit [168] zehn Tagen von ihm gemieden, fühl' ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo ich von einer thörichten Einbildung, die meine Eitelkeit mir schon seit zwei Jahren gefangen nahm, mich auf ewig trennen muß. Ach, welch' eine Verblendung! Seit einigen Wochen erhielt ich Briefe aus Oswald's Heimath, von Beauftragten seiner Eltern, welche die Trennung mir zur Pflicht machen. Die Berufung auf meine Vernunft hat mich bestimmt. Ich raubte edlen Eltern einen edlen Sohn! Ich habe das Vertrauen eines Geistlichen, der mir aus Oswald's Heimath schrieb, nicht täuschen wollen, habe die Briefe des Herrn Dämmer dem Freunde nicht mitgetheilt. Aber unwürdig wie ich bin, jemals Oswald's Gattin zu werden, muß ich meinem Wahne ein Opfer bringen und endlich, endlich mit Gewalt selbst der Möglichkeit vorbeugen, daß der Freund, wie schon einmal, so auch jetzt aus alter Gewohnheit je wieder zu mir zurückkehrt. Ich muß diesen Wahn aus meinem Herzen reißen und ginge damit mein Leben hin und – – auch aus seinem; denn er gehört andern, edlern Verhältnissen! …, Sie sehen, lieber Wächter, wie es in meinem Herzen aussieht! Ich bin nicht im Stande, Ihr Vermögen Ihnen zurückzugeben. Ich muß Sie beschwören, fußfällig beschwören, es nicht zu fordern. Ich [169] muß Sie bei Allem, was Sie mir je über Ihre Zuneigung zu mir und Ihre Wünsche seit drei Jahren schon gesagt haben, anflehen: Lassen Sie jede Untersuchung! Fragen Sie mich nie, was aus diesem Gelde geworden ist! Ich kann es Ihnen nicht wiedergeben, ich kann Ihnen auch nicht sagen, wem ich es geben mußte. – – Ich bin arm und habe nichts, womit ich Sie einigermaßen zufrieden stellen kann. Seit drei Jahren schon sagen Sie mir, daß Sie mich lieben. Sie haben mir oft gesagt, daß ich das einzige Glück Ihres Lebens werden könnte. Seit drei Jahren folgen Sie mir auf Schritt und Tritt und duldeten ruhig, daß ich Sie zurückwies, Ihrer anfangs spottete, dann Ihnen die Huldigung eines Jüngern und Reichern vorzog. Sie störten nie diesen unglücklichen Bund; Sie harrten aus und behüteten mich, wie ein Vater sein Kind behütet! Sie bildeten mich aus, soweit meine Anlagen reichen. Daß ich diese Zeilen niederschreiben kann, wem verdank' ich es denn anders als Ihnen? Mitleid und Dankbarkeit sind es, die ich für Sie gefühlt habe in jeder Stunde meines Lebens, seit ich Sie kenne. Sie hofften auf Liebe! Ich kann Ihnen schwärmerische Liebe nicht geben. Aber wär' es möglich, ganz mit diesem Leben hier zu brechen, wär's möglich, das Meer [170] zu gewinnen und in Amerika irgend ein ehrliches Gewerbe gemeinschaftlich zu treiben, so könnt' ich mich entschließen, mich loszureißen und, um alle Brücken mit der Vergangenheit abzubrechen, Ihnen, Herr Wächter, in Geduld und im Vertrauen auf Gott, der helfen wird, zu folgen.‹

Als Oswald diesen Brief, den offenbar nicht die Verzweiflung, sondern eine ruhige, ergebene Fassung in die Feder dictirt hatte, gelesen, mußte sein Herz zucken. Was half es ihm, während dem er las, in Zorn gegen Pfarrer Dämmer, ja seine eigenen Eltern anfzulodern! Was half es ihm auszurufen: Herr des Himmels, bin ich denn verdammt, der ewig Getäuschte der Dinge zu sein, die sich ohne mich hinter meinem Rücken machen? Was half es ihm, von dem Todten auszurufen: Mit dieser wie fußfälligen Bitte um Verschwiegenheit in Händen konnte dieser Elende nach dem ihm verlorenen Gelde dennoch forschen, dennoch spüren! Was half es ihm endlich, sich zu sagen: Wächter suchte aber vielleicht das Geld, um nach Amerika zu gehen, mit seinem Rettungsengel, meiner verlorenen Liebe? Es half nichts. Seine Kraft war gebrochen. Scham und Wehmuth, beide warfen ihn in einen Zustand, aus [171] dessen rathlosesten und ohnmächtigsten Entschlüssen er sich nicht aufraffen konnte …,

Ueber die Fischersöhne und die drei Gebrüder Waldmann wurde in Folge geschickter Vertheidigung nur eine dreijährige Zuchthausstrafe ausgesprochen. Ernestine, die vor Gericht nur noch als Zeugin zu erscheinen hatte, und durch die Sicherheit ihres Auftretens, die Bestimmtheit ihrer Antworten allgemeine Theilnahme erregte, wurde sofort in Freiheit gesetzt. Oswald kämpfte mit sich, ob er ihr dennoch trotz dieses Briefes an Ludwig Wächter seinen Schutz und Beistand anbieten sollte. Aber noch ehe er wagte, dem unwiderstehlichen Drange seiner noch immer nicht erloschenen Liebe Gehör zu geben, war Ernestine verschwunden. Niemand wußte wohin sie sich begeben. Es währte lange, bis man erfuhr, daß sie nach Osten zu gereist, in Stettin ein Schiff bestiegen und sich nach Petersburg begeben hatte, von wo sie aller Nachforschungen ungeachtet spurlos im Innern Rußlands sich verloren. [172]


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