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Erstes Capitel.

Eine Ueberraschung bei Gersons in Berlin.

Ob über wogende Kornfelder hinweg oder durch die saubergekehrten Gassen stillgewordener Städte von den läutenden Sonntagsglocken die Lüfte erklingen, Sonntagsfrühe ist erquickend und anregend für Alle, auch für den Einsamen, selbst für den Trauernden. Der Arbeiter erwacht ohne den mahnenden Ruf seiner Alltagspflichten. Die Spuren des mühseligen Wochenberufs werden entfernt; das frische Quellwasser, der geöffnete Wäschschrank schaffen neue Menschen. Sonntagsfrühe, ob gefeiert im Chor der Gemeinde unter rauschenden Orgeltönen oder im Blättergrün des Waldes unter zwitschernden Vogelstimmen, ob gefeiert sogar nur unter aufgeschlagenen [8] geheimen Geschäftsbüchern und bei stillprüfender Uebersicht der Wochenabschlüsse, wie sie in Sonntagsvormittagsruhe der sorgernde Geschäftsmann liebt, oder gefeiert durch ein fesselndes Buch oder eine Musik, die man seinem Instrumente aus Schonung andächtiger Seelen vielleicht nicht während der Kirchenzeit entlocken wird …, Sonntagsfrühe ist belebend und erhebend wie die Sonne selbst, in deren östlichen Strahlen für die Natur und den Menschen eine viel gewaltigere Kraft zu liegen scheint als in ihren westlichen.

Aber der Sonntagsnachmittag!

Du wonnen- und qualenreichster Abschnitt des Tages der Ruhe und der Freude! Wer sie nie gefühlt hat die unendliche Leere eines einsamen Herzens, wer nie in seiner ungestillten Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft sogar von Thränen sich beschleichen ließ (die etwa ein armes Mädchen kennt, das alternd und alternd immer mehr ihres Looses, nie geliebt zu werden, inne wird), wer immer Freunde, immer Zerstreuungen fand, immer von Andern gesucht wurde, der kennt euch nicht, ihr Stimmungen der Wehmuth, die Sonntagsnachmittage wecken können!

Die Straßen sind öde und leer. Ausgeflogen über Feld und Flur ist Alles, was an Familienleben, [9] an die Liebe oder auch nur an einen einzigen Freund sich anlehnen kann. Still, einsam Alles ringsum. Die Sonne wirft wie träge Schatten. Die Plätze sind menschenleer. Die Kirchen sogar mit ihrem Nachmittagsgottesdienste für ältere Dienstboten und arme Hospitalfrauen rufen nicht an ihre hohen Portale. Es ist, als ruhten sich auch ihre Werkzeuge von der vormittägigen Andacht aus. Kein Gruß eines Vorübergehenden. Nichts erblickt man als vielleicht eine alte taube Kinderfrau, die daheimgeblieben als Hüterin eines Hauses oder darin einer Wiege; da ein paar Blumentöpfe am offenen Fenster, eine Katze, die auf einem Blumenbret spinnend ausruht …, Der Sonntagsnachmittag ist die unglückseligste Zeit für junge, sehnsuchtgeschwellte Herzen, die entweder einsam stehen oder, was noch schmerzlicher, die einst schon glücklich waren, einst schon Freundschaft und Liebe gefunden hatten, einst mit Gütern des Herzens gesegnet waren und nun entbehren, an den einzigen wahren Gütern des Lebens darben müssen.

Ernst Oswald, ein junger zum Staatsdienst sich vorbereitender Rechtskundiger, Referendar, Auscultator oder Accessist genannt in unserem an Titeln so reichen und bei Stellungen, die nur hoffnunggebende [10] Exspectanzen sind, an ihnen doppelt reichen Vaterlande, empfand diese Vereinsamung eines melancholischen Sonntagsnachmittags in ihrer ganzen drückenden Schwere.

Selbst die Kaffeehäuser und die Billardtische in ihnen standen öde und selbst wie gelangweilt. Oswald, schlank und gefällig, von brauner Locke, brauner Wange, mit schwarzen Sternen in braunen Augen, schlenderte durch die Straßen der großen Stadt, die seine Heimath nicht war. Vor kurzem erst aus der Provinz gekommen, wollte er an den obern Gerichten seine letzten Prüfungen bestehen. Empfindsamkeit suchte er von sich zu weisen, suchte sogar – im lichten Sommergewande, dann und wann mit dunkelrothem Taschentuch die heiße Stirn trocknend und den leichten Strohhut lüftend und im stillen Genuß einer Cigarre – auf den einsamen Straßen ein Behagen zu finden. Aber er täuschte sich. Die Stimmung blieb die des drückendsten Verlassenseins. Ernst Oswald gedachte der Heiterkeit, die in diesen Stunden auf dem ländlichen Besitzthum seiner Eltern waltete. Er berechnete, wie um diese Stunde seine Mutter zu einer Fahrt nach einem nahegelegenen Badeorte trieb, die Schwester sich schmückte, der Vater aus seinem Nachmittagsschlafe [11] sich erhob, selbst Apoll, der Wächter des Hauses, aus seiner Hütte sprang und bellend die kühnsten Trampolinsprünge an der Kette zum besten gab, und wie endlich dann der Einspänner aus der Wagenschauer gezogen wurde. Er sah die Fahrt nach dem kleinen Bade durch einen Buchenwald, sah die Ankunft an der eingefriedigten Quelle, einem Stahlwasser, wo seine Schwester regelmäßig aus einem von baarbeinen Kindern dargebotenen Glase zu nippen pflegte, sah das Glas in der Sonne blinken, sah sogar die Gasperlen des Wassers in ihm aufwirbeln …, ach so deutlich stand die Ferne vor ihm! Und ihn, ihn umfing die ödeste Oede, die es innerhalb der Civilisation nur geben kann, der Sonntagsnachmittag einer großen Stadt.

Oswald hatte einen Freund, Scharfeneck, einige Jahre im Leben und auch in der gemeinsamen Laufbahn ihm voran.

Mit Scharfeneck verflogen ihm sonst die Stunden, auch die zwecklosesten. Der geistreiche, treffend urtheilende, frühgereifte Genosse war verreist, war eben in jenem kleinen Bade, das seine Eltern, seine Schwester um diese Stunde besuchten. Scharfeneck war der Sohn eines reichen Grundbesitzers, dem die [12] kleine eingefriedigte Quelle und das zu ihr gehörende ländliche Curhaus gehörten …,

An wen sollte sich Oswald halten? An sich selbst? Ach! Der redlichste Fleiß und die eifrigste Selbstbeschäftigung hat ja Augenblicke, wo sogar große Denker sagten: Ich fühle mich glücklich, jetzt ganz dumm, aber auch nur ganz dumm zu sein! Nur die systematischen Egoisten genügen sich immer. Oswald war kein Egoist, weder systematisch, noch aus Instinct. Mit pochendem, hingegebenem Herzen hatte er jüngst drei Empfehlungsbriefe aus der Heimath an einflußreiche Adressen der großen Stadt abgegeben. Mit welchen frohen Erwartungen hatte er die Straßennummern sich aufgesucht, auf welche das dicke Adreßbuch der Stadt ihn für seine Empfehlungen verwies! Wie reich, wie wohlgeborgen war er sich vorgekommen, wenn er sich dachte: Dieser Geheime Obertribunalrath Wallhard war der Jugendgenosse deines Vaters, mit dem er in den Befreiungskriegen unter denselben eichenlaubbekränzten Fahnen stand! Dieser reiche Handelsherr, ein Millionär, Finanzagent Strack, war ihm von dem Kaufmanne Neubert, einem Geschäftsfreunde seines Vaters, der ihn empfohlen, als ein wohlwollender, entgegenkommender Mann, sein Haus als ein Tempel der [13] Gastfreundschaft bezeichnet worden! Endlich war die dritte Adresse geradezu eine solche gewesen, wie wenn die verwitwete Frau Justizkanzleidirectorin von Wolmany seine eigene Mutter hätte werden müssen! Dieser Empfehlungsbrief war sogar von dem Geistlichen seines Heimathortes gekommen. Und was war das Ergebniß aller dieser geträumten glänzenden Anknüpfungen gewesen? Der Geheime Obertribunalrath war ein grämlicher Hagestolz, der auf den kostbaren Teppichen seiner einsamen und stillgelegenen Wohnung zwei Hunde lieber zu dulden schien als einen Menschen. Er hatte, es wäre ungerecht es verkennen zu wollen, ganz freundlich nach dem Vater, der die militairische Laufbahn fortgesetzt und sich mit dem Range eines Hauptmanns auf die Bewirthschaftung eines alten Erbgutes zurückgezogen hatte, gefragt, hatte sich über die merkwürdig schnelle Flucht der Zeiten gewundert, hatte dem Sohne eines alten Waffengefährten die Hand geschüttelt und ihm für seine Laufbahn feierlich jedes Glück gewünscht mit der an sich wahren und ohne Zweifel treffenden Bemerkung: Jede geregelte Zukunft hätte der Mensch in seiner eigenen Hand und gegen das Außerordentliche gäbe es eben keinen andern Vorbau als die Stählung der eigenen sittlichen Kraft und ein [14] lebendiges Gottvertrauen! Der fromme Obertribunalrath bot auch Oswalden die Mitbenutzung seines Stuhles in einer Kirche an. Der Finanzagent, der reiche Herr Strack, schrieb sich Namen und Wohnung des Empfohlenen mit großer Genauigkeit auf und ließ etwas von seinen Winterbällen fallen, worauf ihm jedoch die Geschäfte schon so wieder auf die Finger brannten, daß Oswald wegen der übelgewählten Stunde um Entschuldigung bitten mußte. Endlich die dritte Adresse, Frau von Wolmany, die Witwe eines Justizkanzleidirectors, war nicht einmal anwesend. Mit frühestem Lenze pflegte die Dame auf ihre Güter zu gehen …, Was hatte Oswald von allen seinen erträumten Beziehungen? Herbe Verletzungen eines jungen, zur Schwärmerei geneigten Herzens. Er wanderte bei den prächtigen drei Häusern, die er vor Wochen mit so frohen Hoffnungen betreten hatte, an diesem Sonntag mit dem Gefühl vorüber: Wie ist die Welt so anders, als man sie sich ausmalt! Und diese Häuser waren heute erst recht stumm und still. Und das der verreisten Witwe war noch nicht einmal so öde als das des frommen Obertribunalrathes, der so freundlich gewesen war, ihm die Mitbenutzung seines Kirchenstuhles anzubieten, worin doch vielleicht, wie Scharfeneck bemerkte, dieses Mannes [15] Absicht, Oswald's Carriere zu befördern, wohlwollend und sehr zeitgemäß ausgesprochen lag.

Schon war Oswald einer der vielen Vorstädte eines Ortes, der ihm heute recht wie ein Gefängniß erschien, näher gekommen, als ihm plötzlich ein Wort des Vaters einfiel, das dieser ihm beim Scheiden gesprochen.

»Lieber Ernst,« hatte der noch rüstige Greis zu seinem einzigen Sohne, dem Sprossen einer zweiten Ehe, nachdem die erste kinderlos geblieben, gesagt, »lieber Ernst, ich habe Unrecht gethan, Dich nur auf den kleinen Universitäten der Provinz studiren zu lassen. Franz, der Sohn unsers Nachbars – er meinte Scharfeneck – kennt das Leben besser. Er besuchte die Schulen großer Städte. Doch, denk' ich, wird Dein reines und immer auf das Gute und Edle gerichtet gewesenes Bestreben sich schon zurechtfinden. Die Empfehlungsbriefe von mir, von unserm guten Neubert und von Deinem Seelsorger, dem braven Dämmer, werden Dir treffliche Dienste leisten. Sie werden Dich in die große Welt einführen, die so schwer zugänglich, aber für Deinen Beruf fast unentbehrlich ist. Lassen Dir Deine Studien, Deine Prüfungsarbeiten und die vielen Zerstreuungen, die ohne Zweifel die Folge dieser Empfehlungen sein [16] werden, einmal eines Tages Zeit genug, um einen verlorenen Augenblick nicht allzu sehr zu bereuen, so sieh' Dich doch einmal irgendwo um, ob Du nicht einen alten Invaliden, Namens Waldmann, vor den Thoren der großen Stadt entdecken kannst. Der alte Knabe war mein Unterofficier, als ich mit der damaligen Jugend dem Rufe des Vaterlandes folgte. Ich überholte ihn und wurde bald sein Lieutenant, sein Capitain, indessen er es mühsam nur bis zum Quartierschreiber brachte – denn eben das Schreiben war seine schwächste Seite. Als ich aber vor Jahren zum letzten Male in der Hauptstadt war, besucht? ich die treue, ehrliche Seele wieder und fand ihn wohlgeborgen bei seinem Sohne, der ein junger rüstiger unternehmender Mann schien und sich als Gärtner in einer der Vorstädte niedergelassen hatte. Hast Du Zeit, so such' einmal meinen alten Waldmann auf, wenn er noch lebt, grüß' ihn von mir und sag' ihm, daß Du mein Sohn bist!«

Dieß Wort des Vaters kam in Ernst Oswald's lebendigste Erinnerung, als sich die Häuser immer mehr vereinzelten, lange hölzerne von Wind und Wetter geschwärzte Plankenzäune sie verbanden und hier und da durch einzelne Gitter freundliche Gärten dem Anblick sich darboten mit gefälligen, meist von [17] wildem Wein umrankten Wohnungen, die zuweilen die Ueberschrift ›Kunstgärtnerei‹ trugen. Oswald entsann sich des Namens Waldmann, erkundigte sich bei einer dieser Gärtnereien nach einem Geschäfte solches Namens, erhielt den Bescheid, daß ein derartiges, und sogar in der Nähe, bestünde und richtete seinen schon ermüdeten Fuß nach der bezeichneten Straße hin. Er erreichte den Zaun, auf den man ihn aus der Ferne schon verwies. Das Haus mußte im Garten liegen. An einer mit neuen Planken ausgebesserten Thür und dicht unter der laufenden Nummer der einsamen Gasse fand er demnach die vierte Adresse seiner Empfehlungen. Sie hieß: ‚Wilhelm Waldmann, Kunstgärtner.‹

Der erste Anblick, der sich beim Oeffnen der unverschlossenen Thür dem Sonntagsnachmittagsgaste darbot, war ein freundlicher.

Der Hof des Häuschens war mit dem Garten verbunden und dieser selbst dehnte sich mit Gemüse-, Blumen- und Obstanlagen in ziemlicher Entfernung aus. Kinder verwiesen den Gast an den noch lebenden Großvater, der an der dem Garten zugewandten Seite des Hauses auf einer Bank saß und ein kurzes Pfeifchen schmauchte. Auch der Sohn, selbst früh' gealtert, war bald in der Nähe und die Freude, [18] den Sprossen des Hauptmanns Oswald zu begrüßen, schien nicht gering. Eine Mutter fehlte dem Hause, sie war seit einigen Jahren todt; von den zahlreichen Kindern aber waren schon einige erwachsen und wie es schien verständig genug, um die Pflichten einer Mutter an ihre eigenen helfenden Hände zu vertheilen. Die Zahl der Kinder, eigenes und Nachbarvolk, war endlos. Immer wieder kam noch ein anderer mehr oder minder sonntäglich erhaltener vorstädtischer kleiner Weltbürger aus einem Heck oder über einen Baum oder über eine niedrige Zwischenmauer gesprungen. Und zuletzt war das Angenehmste – viel junger Mädchenflor, der sich neugierig genug um Oswald versammelte.

Die meisten davon schienen Nachbarinnen. Auch einige Männer, die wohl Freunde der erwachsenen Söhne oder Gehilfen des Vaters waren, auch städtische Gestalten fehlten nicht. Es war das eine kleine belebte Welt, die Oswald, trotz der einfachen Kleiderstoffe, der befangenen Haltung und der gebräunten, nicht immer edlen Gesichtsformen, schon einen Reiz abgewann. Man nöthigte ihn sogar, zu einigen großen Schalen saurer Milch sich niederzulassen und bediente sich dabei mehrfach einer bedauerlichen Wendung, die jedoch als Vertröstung [19] gespendet wurde, es wäre Schade, daß Ernestine noch nicht da wäre. Dieß war die älteste Tochter und seit dem Tode der Mutter die eigentliche Lenkerin des Hauses, obgleich Brüder da waren, die wieder wohl auch über sie emporragten.

Ernestine wurde jeden Augenblick erwartet und erschien auch zuletzt. Hatte Oswald schon durch die Erklärung, wie dieß junge Mädchen zu dem Namen Ernestine, der seinem Vornamen entsprach, gekommen, sich gleichsam wie auf ein verwandtschaftliches Verhältniß mit ihr hingeführt sehen müssen – beim letzten Besuche des Hauptmanns hatte man seinem Sohne Ernst zu Ehren die gerade zur Welt gekommene Enkelin des alten Quartierschreibers Ernestine getauft, – so war der Eindruck des persönlichen Entgegentretens ein in der That überraschender.

Oswald fand ein blühendes, schlankes junges Mädchen, nicht so gebräunt wie die übrige weibliche Genossenschaft, ein Mädchen, zwar in bescheidener Tracht und einer dem Kreise, in dem es sich hier bewegte, wie es schien entsprechenden Bildung, aber es lag ein so angenehmes Lächeln in den von der Ueberraschung und Verlegenheit gerötheten Zügen des regelmäßigen Antlitzes, es war eine so wohlthuende [20] Art, wie Ernestine den Hut in ein Stacket von Weinlaub hing, ein leichtes Tuch, das sie sich abnahm, kurzweg über einen Heckenbusch warf, daß Oswald augenblicklich sich gefesselt fühlen mußte.

Er nannte bald auch Ernestinen scherzend seine Namensschwester. Wenn sie auf seine Versuche ein Gespräch anzuknüpfen, erwidern wollte, gestalteten sich ihre Antworten zwar zu keinem zusammenhängenden und treffenden Sinne, – wie lange währt es nicht auch selbst bei jungen Bildungsüberfütterten, bis sich ihnen, Mädchen oder Jünglingen gegenüber, trotz alles Wissens und Könnens ein vernünftiger Satz mit einem tüchtigen Abgemacht, Punctum! rundet – aber ihr Verkehr mit der übrigen Genossenschaft war so unbefangen, daß Oswald aus ihm schon einen lebhaften Geist und ein rasches Urtheil entnehmen mußte. Ernestine Waldmann hatte schweres, dichtes, goldblondes, in Flechten gebundenes und den ovalen Kopf rings umschließendes Haar, dunkle große blaue Augen, die frischeste Haut, einen schlanken, in den Hüften sich scharf abzeichnenden Wuchs und einen Mund, der bei dem wohlwollenden Lächeln, das ihn umspielte, zwei Reihen der schönsten Zähne zeigte. Und Oswald scherzte nur deßhalb so viel mit dem kleinen Kindervolk, um sich an dem Zauber dieser [21] schönen Zähne zu weiden, wenn Ernestinens leises und allmäliges Lächeln ihre Lippen in die Mundwinkel zurückdrängte. Anmuth ist allen Männern mehr werth als Schönheit, und Ernestine wäre sogar eine Schönheit gewesen, wenn sie sich ihren Teint auf einige Wochen von der Salonluft eines Theecirkels hätte bleichen lassen können.

Oswald schied von der Laube, in der er unter nicht gerade armen, aber, wie es schien, doch nicht im Ueberfluß lebenden Menschen vortreffliche saure Milch mit mürbem Schwarzbrod gespeist hatte, ziemlich spät.

Er kam, da er ›den Kindern etwas schenken‹ wollte, schon den folgenden Tag wieder.

Dann auch ohne Geschenk schon wieder am Mittwoch.

Darauf bezwang er sich, drei Tage auszubleiben, aber am Sonntag fehlte er gewiß nicht und es währte nicht vierzehn Tage, so wanderte er schon fast jeden Abend in die Gartenstraße, saß jeden Abend unter den Kindern eines Gärtners und den Enkeln eines armen Soldaten in einer Geißblattlaube und Ernestine fragte nicht einmal, wie das möglich wäre.

Niemand fragte. Diese abendliche Wanderung war ihm Bedürfniß, den Andern Gewohnheit geworden. [22] Die Wirkung seines vierten ungeschriebenen Empfehlungsbriefes war eine vollendete Thatsache und wenn es nach dem Erwarten seines Vaters gegangen wäre, so hätte sein Sohn Ernst gerade mit diesem Eifer, mit dieser Hingebung an den Diners des Obertribunalraths, an den Soireen des Finanzagenten und den anderweitigen, noch unbekannten Erholungen der noch immer auf ihren Gütern befindlichen Frau von Wolmany theilnehmen sollen. Einmal war Oswald in der That beim Finanzagenten Strack zu Tisch geladen gewesen, fand eine große Gesellschaft, aß vortrefflich, entfernte sich aber zeitig, um noch nach seiner Gartenstraße zu kommen. Es war Sonntag; rath- und thatlose Sonntagsnachmittage kannte er nicht mehr. Die Vorstadt hatte ihn erobert, sie machte ihn glücklich.

Vor seinem Freunde Scharfeneck, der inzwischen zurückgekehrt war, hielt Oswald diese enge Beziehung zu einer armen Gärtnersfamilie denn doch geheim.

Er konnte dem Freunde zwar nicht ganz ableugnen, daß ihn in der Vorstadt eine mit seinem alten Vater bekannte Familie fesselte; er gestand auch dem sarkastischen Lächeln des Freundes zu, daß sich im Schooße derselben allerlei blühende junge Welt befände, daß man scherze, tändle, lache; aber [23] ein ihn bindendes Verhältniß konnte er um so mehr in Abrede stellen, als in der That ein solches mit Ernestine Waldmann nicht bestand. Ernst Oswald war zweiundzwanzig Jahre. Es ist dieß ein Alter, wo die Sehnsucht nach Liebe im Gemüthe der Jugend ebenso lebendig, wie die Verehrung der Frauennatur aber auch eine fast andächtige ist. Kein Jüngling liebt in diesen Jahren mit der stürmischen Ungeduld des Mannes, der nur erobern, nur besitzen will. Der Jüngling würde seine Liebe zu entweihen glauben, wenn er sich das schöne Bild seiner Verehrung zu bald zerstörte. Er sieht die Rose blühen, athmet ihren Duft und betet sie nur an, ohne die Hand auszustrecken, sie zu brechen. Tugend und Besonnenheit in einem Mädchen weiß eine solche Hingebung Jahre lang an sich zu fesseln, ja in Schach zu halten, ohne daß jenes entscheidende Wort fällt, das oft so gefahrvoll und in mancher Lage, wie hier, vielleicht unmöglich ist. Oswald lebte in jenem Kreise wie unter den Seinen. Er liebte, aber eine Erklärung war nicht gegeben. Sie stand vielleicht demnächst bevor, am wenigsten aber deßhalb, weil sie etwa verlangt wurde.

Mitten in diesen zweifelhaften Zuständen sagte eines Tages Scharfeneck, als dieser mit seinem Freunde [24] von ihrem gemeinschaftlichen Mahle heimkehrte, wie beiläufig zu Oswald: »Bester Freund, Deine dritte Adresse ist angekommen!«

»Frau von Wolmany?«

»Frau von Wolmany; eine Witwe, von der ich zu meinem Erstaunen gehört habe, daß sie jung, reizend, hochgebildet und reich sein soll.«

Oswald bestätigte, was auch er inzwischen in Erfahrung gebracht, daß Frau von Wolmany einst einen bejahrten Gatten genommen hatte, früh Witwe wurde und mit Herrn Dämmer, dem Pfarrer seines Ortes, in freundlichem Zusammenhange stand. Sie war von ihm erzogen worden und stand mit ihm noch in Briefwechsel.

Oswald erklärte, er hätte keine Neigung, diesen Empfehlungsbrief abzugeben.

»Warum nicht?« fragte Scharfeneck.

Die Antwort, die er erhielt, war unbestimmt. Oswald wich einem klaren Geständniß aus, sagte, auf eine junge, vornehme Weltdame wär' er nicht im mindesten vorbereitet, sprach von der Umständlichkeit solcher Besuche, den ‚moralischen Kosten,‹ in die man sich zu setzen hätte, erklärte alle diese Beziehungen mit der großen Welt für lügnerisch, eitel, nichtig und führte die geringen Ergebnisse seiner beiden [25] andern Briefe an, um zu beweisen, daß er Recht thäte, auf diesen dritten nicht mehr zurückzukommen.

Scharfeneck schwieg eine Weile. Dann forderte er den Freund auf, mit ihm seine nahegelegene Wohnung zu betreten.

Unterwegs schien er von dem Gegenstande abgekommen. Doch in seinem Zimmer angelangt, nahm er ihn wieder auf. Die Fenster vor der Herbstluft schließend, eine Kiste Cigarren vor Oswald öffnend, das Streichfeuerzeug ihm hinschiebend, sagte er wie in leichter, abgebrochener Anmerkung:

»Der Finanzagent wird Dich schwerlich wieder einladen.«

»Wie so?« fragte Oswald.

»Ich habe gehört, alter Freund …,«

Scharfeneck stockte.

Oswald mußte lange drängen, bis er fortfuhr.

Scharfeneck that es mit den Worten: »Ich habe gehört, alter Freund, daß Dich Herrn Strack's Familie kürzlich complet ausgelacht hat.«

Oswald stutzte. Er dachte an das bestandene Sonntagsdiner und besann sich, was ihm dabei konnte widerfahren sein.

Scharfeneck erzählte aber einen ganz andern Fall. »Man hatte,« sagte er, »in jenem Hause kürzlich eine [26] Spazierfahrt beschlossen und machte sie in eine entlegene Waldgegend an dem obern Ufer unsers Stromes hin …, Dort im Sande langsamer fahrend, entdeckt man eine lautschreiende, lachende, lärmende Gesellschaft unter den breiten Aesten der herrlichen Eichen und Buchen, die daselbst beisammen stehen. Man kommt näher und findet ein Durcheinander von jüngern und ältern Leuten, in Hemdärmeln, theils sich lagernd und schmausend, theils in dem idyllischen Spiele, das man Blindekuh nennt, con amore begriffen. Die Leute schienen dem Handwerkerstande anzugehören. Mein Berichterstatter, unser College Dankmar Wildungen, der die Ehre hatte, die Partie des Finanzagenten und dessen Damen zu begleiten, erkannte sogar aus seiner Criminalpraxis einige zweideutige, ihm schon unter verschiedenen Umständen vorgekommene Physiognomieen, aber die merkwürdigste Figur von Allen war doch ein junger Elegant, der mit verbundenen Augen im Haschespiel hin und her tastete und eben einige junge, allerliebste Mädchen jagte, Mädchen, die allerdings charmanter sein mochten als Manche, die ihr Lebensziel darin finden, Chopin und Schulhoff vom Blatt zu spielen …,«

Oswald sprang auf. Die Gluth der Scham färbte seine Wangen. Der Gedanke, bei einer [27] kürzlich in den Wald unternommenen Landpartie der ganzen zusammengerafften Vorstadtsbekanntschaft beobachtet, erkannt, lächerlich gefunden zu sein, lächerlich gefunden von dem weiblichen Theile einer ihm bekannten gebildeten Familie, …, war ihm im höchsten Grade fatal. Sein Stolz, durch diese Erzählung so außerordentlich gedemüthigt, konnte sich kaum sammeln.

Scharfeneck schwieg eine Welle. Es schien seine Absicht zu sein, den Stachel gründlich wirken zu lassen. Er zog ihn nicht heraus, bohrte ihn im Gegentheil nur noch tiefer ein, indem er die Berechtigung der Finanzagententöchter, so satirisch, wie sie gethan, einen ganzen Tag lang über den Anblick des Blindekuhspielers zu lachen, mit allerlei Scherzen bestritt. Die Wirkung blieb bei Oswald dieselbe. Er war vernichtet, beantwortete keine einzige der Fragen, die Scharfeneck über die jungen Mädchen an ihn richtete, besonders eine, die Malvina hieß, an Reiz sogar Ernestinen überstrahlte und eine, wie er jetzt erst erfuhr, bewunderte Schönheit der ganzen jungen Stadt-Gentry war.

Endlich aber reichte Scharfeneck dem Freunde die Hand und sagte:

»Mein theurer Freund! Schließ Frieden mit [28] Deinem Stolz und fass' einen männlichen Entschluß! Diese kleine Welt ist Deiner nicht würdig. Du hast Dich in sie geflüchtet, um nicht mehr den schmerzlichen Druck des Verlassenseins zu fühlen! Du sehnst Dich nach Liebe, Hingebung, gemüthvoller Anlehnung. Ich kenne Dein gutes, weiches Herz. Aber sei aufrichtig und geh' einen Schritt weiter! Was wir Gemüth nennen, ist es denn nicht so oft nur unsere Muthlosigkeit, ja geradezu unsere Trägheit? Die ganze deutsche Nation beschönigt ihre Muthlosigkeit und ihre Trägheit mit diesem blumengeschmückten Aushängeschilde des Gemüths. Du giebst Dich den nächsten und zufälligsten Umständen hin, weil Du nicht wagen willst, Dir andere zu erobern. Diese große Welt, die Dir bis jetzt nur verschlossene Thüren und den Rücken gezeigt hat, will erobert, gewonnen, von der Hand eines kräftigen, markvollen Ringers zu seinem Vortheil gebändigt sein. Du fürchtest diesen Kampf vielleicht nicht aus Trägheit, ich denke, Du kennst ihn nur nicht. Du glaubst, die hingeworfene Verurtheilung dieser großen Welt als einer nur herzlosen, kalten, egoistischen Sphäre genüge vollkommen, sie Dir werthlos zu machen. Und was ist die Folge dieser Verachtung? Du setzest in Deinem Werthe Dich selbst herab. Ich kenne vollkommen den Reiz [29] dieser kleinen Welt, wo uns Alles mit offenen Armen entgegenkommt, ja durch unsere Herablassung sich geehrt fühlt. Aber selbst an dem stolzen Egmont unsers Goethe hab' ich doch nie leiden mögen, daß der Dichter uns die ritterliche Gestalt eines Helden, der sein Haupt für die Freiheit seines Volkes auf den Block legen mußte, in einer, allen geschichtlichen Erinnerungen unverantwortlich widersprechenden Art, zum galanten Cavalerielieutenant, zum tändelnden nächtlichen Buhlen eines Bürgermädchens macht, die mit dem goldenen Schnur- und Litzenwerk seines spanischen Costüms spielt. Es hat einen wohlthuenden Reiz, ein gutes Mädchen zu kennen, das, wenn uns ein Knopf am Rocke losgegangen ist, ihr Nähtischchen öffnet und ihn im Handumwenden wieder annäht; allein sich so mit seinem ganzen Werthe, mit seiner ganzen Zukunft an eine Idylle und an einen solchen Knopf mit annähen zu lassen, das kann nur ein Brackenburg thun, der mir immer wie ein weichmüthiger, neu etablirter junger Tischlermeister erschienen ist, trotzdem daß er von Brutus spricht und auf der Schule lateinische Exercitien gemacht haben will. Theurer Freund! Aufwärts den Blick! Immer emporgeschaut zur Höhe eines großen Zieles! Und wäre der Weg hinauf voll schwindelnder Klippen [30] oder regenglatter Wege, müßte die Hand auch an knorrigen, dornendurchzogenen Aesten von wirrem Strauchwerk sich festhalten, um nur einen ersten Vorsprung zu gewinnen, beklemmte die Brust auch die Angst um die fast unmögliche Rückkehr oder die Anstrengung des Steigens oder die Furcht vor einem verfehlten Wege oder vor bösen Geistern gar, die uns im Spuklichte des Mondes, wenn uns die Nacht überrascht, ein verzerrtes Antlitz zeigen und uns in Abgründe locken wollen, aushalten muß man und nur emporschauen in die Höhe, zu den Wolken, zu den Sternen! Was hinter uns ist, das zeuge erst für uns, während wir schon wieder weiterklimmen. Du vollends, Oswald, bist eine Natur, die sich keine Ruhe gönnen darf, eine Natur, die den Muth besitzen muß, mit Irrthümern zu brechen, selbst wenn sie Dir wie Deine Lieblingswahrheiten aussehen. Ich sage nicht, daß Du den Tribunalrath hättest zwingen müssen, Dir mit der Zeit eine Stelle in seinem Testamente statt einen Stuhl in der Kirche anzuweisen, aber ich sage, daß ein Mann wie Du, jung, gefällig, nicht ohne Mittel, jedenfalls nicht ohne die Mittel des Geistes, den Finanzagenten hätte zwingen müssen, eine Heirath mit einer von seinen, wie ich höre liebenswürdigen und gebildeten Töchtern [31] zu bewilligen. Und ich wäre auch nicht einmal für einen solchen frühen Abschluß. Jeden Kahn, der Dich eben an irgend ein Ufer gebracht hat, sollst Du noch hinter Dir wegstoßen. Die Welt nennt das Egoismus. Der Egoismus aber, der in kleinen Erfolgen Befriedigung findet, der sich genügt, im Unbedeutenden ein Herrscher zu sein, der ist viel größer und verwerflicher. Ueberlege Dir, was Du, um Dich als Mann zu retten, in diesem Falle zu thun hast!«

Oswald dankte dem Freunde von ganzem Herzen.

Er erklärte, sein Entschluß bedürfte keiner weitern Erörterung; er würde die Vorstadt nie wieder besuchen; es verstünde sich von selbst, daß er sich von einer Neigung losrisse, die nur eine gemüthliche Schwäche gewesen wäre. Ueberdieß versprach er, bei der jungen Witwe den dritten Brief abzugeben und, im Fall er freundliche Aufnahme fände, auch den Freund daselbst einzuführen. Beide schieden voll Uebereinstimmung und neu befestigter Herzlichkeit.

Um sich zu zerstreuen, die brennenden Wunden seines Stolzes und doch auch einen schon sich meldenden leisen Schmerz des Entsagens so traulich gewesener Gewohnheiten zu betäuben, ging Ernst Oswald dem Gewühl der innern Stadt zu. Was sonst selten [32] geschah: er blieb bei manchem Schaufenster stehen, betrachtete glänzende Läden, sah auf manche Erscheinung des öffentlichen Lebens, die ihn sonst gleichgiltig gelassen hatte. Oswald bekämpfte sich eben und suchte sich durch die Welt schon zu bezwingen …,

Wie er sich so durch die engen Durchgänge an den ersten Modemagazinen der Stadt vorbei einem kleinen freien Platze zuwandte, bemerkte er daselbst, dicht vor einem Modemagazin von europäischer Berühmtheit, aus einem vornehmen herrschaftlichen Wagen zwei Damen steigen, von denen die eine eine so außerordentliche Aehnlichkeit mit Ernestine Waldmann hatte, daß er auf den ersten Anblick hätte schwören mögen, sie wäre es selbst. Seines Irrthums gewiß, ging er weiter, verlor sich, mit Schmerz der nothwendigen Trennung gedenkend, in andere Straßen; die Aehnlichkeit der Dame mit Ernestine Waldmann war auffallend, aber doch nur eine Aehnlichkeit gewesen. Jetzt sah er, wie schön Ernestine war, wie gefällig sie hätte erscheinen können, wenn sie nicht arm und ohne Bildung gewesen wäre.

Der Zufall führte ihn aber an die Stelle des ersten Anblicks zurück und unter mehreren herrschaftlichen Wagen, die inzwischen vor dem großen Magazine sich hinzugefunden hatten, hielt noch dasselbe [33] leichte elegante Gespann von vorhin. Oswald blickte, mehr wie um seine drückenden Empfindungen loszuwerden, als aus sicherer Erwartung, durch die Spiegelscheiben des berühmten Magazins.

Es war voller Menschen. Die Ausdehnung dieser Räume hinderte, sie ganz zu übersehen. Den in glänzender Livree harrenden Bedienten der Equipage zu fragen, wem sie gehöre und welche Dame so sehr Ernestinen gleichen könnte, würde ihm eine Thorheit erschienen sein, um so mehr, als mit diesem Bedienten Jemand sprach, den er kennen mußte: ein gewöhnlicher Mann in einem weißen Hute, den er schon öfters in den Kreisen der Vorstadt getroffen hatte und der ihm sogleich eingefallen war, als er vorhin von Scharfeneck hatte hören müssen, sein Freund Dankmar Wildungen hätte bei jener Partie Physiognomieen erblickt, die der Criminalpflege nicht unbekannt wären. Oswald besann sich, daß dieser immer mit weißem Hute gehende kleine gedrückte, etwa in den Dreißigen zählende Mann mit sonderbarer Vertraulichkeit von diesen geringen Menschen gewöhnlich Lude Wächter genannt wurde. Es war Oswald doch, als er diesen Mann sah und vielleicht nun doch Ernestinen wirklich in der Nähe vermuthen konnte, als schnürte ihm etwas den Athem zu. Er konnte [34] nicht reden, nicht fragen; er unterdrückte mit Gewalt den Glauben, wirklich Ernestinen gesehen zu haben. Darauf entfernte er sich.

Kaum war er aber einige hundert Schritte weiter gegangen, als er, sich umwendend, dieselbe Equipage erblickte, die rasselnd auf dem Straßenpflaster hinter ihm herflog. Die Damen fehlten nicht. Die eine saß ihm abgewandt und konnte nicht erkannt werden, die andere war in der That Ernestine. Daß sie es war, bestätigte ihm nicht nur ihr Erröthen, ihr erschreckendes Zurücklehnen, sondern ihr halber und doch ausdrücklicher Gruß.

Oswald mußte an die Thüre eines Hauses treten, um sich zu halten, um sich zu sammeln. Es war ihm, was er da sah, wie eine Traumerscheinung. Ernestine Waldmann in einem glänzenden Wagen, mit kostbaren Kleidern, wie er sie nie an ihr erblickt! Jede Vermuthung, daß sie plötzlich in die Dienste einer vornehmen Herrschaft hätte eingetreten sein können, wurde durch diesen reichen Spitzenhut, durch einen türkischen Shawl, den sie breit auseinandergelegt selber trug, widerlegt.

In Oswald tobte und raste jetzt Alles nach Aufklärung. Er eilte zurück an das große Magazin – wir dürfen es wohl nennen, es war das Gerson'sche [35] in Berlin –, suchte an den noch haltenden Carrossen jenen Ludwig Wächter, den er jedoch nicht mehr fand, trat dann im Magazin ein, fragte nach den beiden Damen, die eben die Räume verlassen haben mußten. Seine Lippen bebten …,

Da die weitläufigen Räume überfüllt waren, mußte erst dieser und jener Comptoirdiener gerufen, diese oder jene Verkäuferin befragt werden …, Man kannte die Damen nicht. Beide hatten sich Stoffe zeigen lassen und vorläufig nur einige Kleinigkeiten gekauft. Oswald trat aus dem glänzenden Hause und verglich sich einem Wanderer, den ein Irrlicht verlockte, oder mit dem Helden eines Märchens, mit dem ein Kobold im Walde Versteckens spielt. Zuletzt mußte er sich sagen: Die Gaukelbilder sind nur in dir, in deinem eigenen verschlossenen Auge! Welche Wirklichkeit lebte um dich her? Mit welchen Menschen verkehrtest du? Was hast du Alles dort draußen in der Vorstadt und unter dem Volke nicht gesehen? Wer ist Ernestine, die dir ein Mädchen der Armuth schien und die jetzt in einem glänzenden Wagen wie eine Fürstin an dir vorüberrollte?

Es läßt sich aber denken, daß er seinen Entschluß, für immer mit der Vorstadt zu brechen, doch noch um einen Tag aufschob. [36]


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