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Auf dem Wege zum Gasthof, in dem er essen wollte, gab mir Don Segundo – gerade meinem Hause gegenüber – die Hand und verabschiedete sich von mir. Ich ahnte, daß ich dies meiner Warnung, er möge sich beim Verlassen der Schänke in acht nehmen, zu danken hatte, und war sehr stolz darauf.
Langsam trat ich in das Haus. Wie ich vorausgesehen hatte, überschütteten mich die Tanten mit Scheltworten, nannten mich einen Verlorenen und verurteilten mich, heute ohne Abendbrot zu bleiben.
Ich sah sie an, wie man ein altes Tauende betrachtet, das zu nichts mehr gut ist. Tante Mercedes, dürr und eckig, mit einer Nase, die wie ein Geierschnabel zwischen ihren tiefliegenden Augen jäh hervorsprang, entzog mir das Abendbrot. Aber Tante Asunción, dickbäuchig, vollbusig und gefräßig, beschimpfte mich ausgiebigst. Ich wünschte sie dahin, wo sie hingehörten, und schloß mich in meine Kammer ein, um über die Erlebnisse des heutigen Abends und über meine Zukunft nachzudenken. Ich hatte das Gefühl, daß mein Leben an das Don Segundos gekettet sei, und obgleich ich mir immer und immer wieder die tausend Hindernisse und Schwierigkeiten, ihm zu folgen, vorhielt, lebte in mir doch die versteckte Hoffnung, daß alles sich noch irgendwie machen würde. Aber wie?
Zuerst stellte ich mir vor, daß Don Segundo eine neue Widerwärtigkeit zustoßen und daß ich ihn ein zweites Mal vor der Gefahr warnen könnte. Dasselbe sollte sich dann noch drei- oder viermal wiederholen, bis der Mann mich schließlich als eine Art Amulett bei sich behalten würde. Danach überlegte ich, ob man nicht irgendeine Verwandtschaft zwischen uns entdecken und er mein Beschützer werden könnte. Schließlich aber träumte ich, daß er mich einfach gern hätte und mir erlaubte, halb als kleiner Peón, halb als Schützling an seiner Seite zu leben.
Aber schließlich kam mir eine unmittelbare Lösung. Don Segundo wollte auf die Estancia von Galván? Gut; ich würde vor ihm da sein.
Auf diesem Gipfel meiner Gedankenarbeit angelangt, gab ich alles weitere Grübeln auf; denn die Lösung befriedigte mich, und bis zur Erschöpfung nachzudenken, führte doch zu keinem brauchbaren Ergebnis.
»Ich geh' fort, ich geh' fort!« Fast laut sagte ich es vor mich hin.
Im Dunkeln (damit man mich schlafend wähnte) saß ich aufrecht in meinem Bett und wartete auf den günstigen Augenblick zur Flucht. Die letzten Geräusche schlichen durch das schläfrige Haus und erzählten mir von der stumpfen Eintönigkeit der vielen kleinen täglichen Obliegenheiten. Ha! Ich konnte all dies nicht mehr ertragen! In einem wahren Wutkrampf sah ich, wie auf einen besiegten Feind, auf die kahlen Wände meiner elenden Kammer. O, ich würde sicherlich nichts von dem vermissen, was ich hier zurückließ; denn Zügel und Beißkorb (die ich im Dunkeln, aufgerollt an einem Haken der Tür ahnte) würden mit mir wandern. Den Wänden, die meine ersten Tränen und meinen ganzen Kummer so ungerührt mit angesehen hatten, geschah es ganz recht, wenn sie allein blieben.
Tastend zog ich ein Paar vertragene Stiefelchen unter meinem Bett hervor, legte Zügel und Zaumzeug neben sie, darüber warf ich den lieben Poncho – ein Geschenk Don Fabios – und etwas Wäsche zum Wechseln. Daß ich schon Hand ans Werk gelegt hatte, erhöhte meinen Mut, und vorsichtig schlüpfte ich in den Hof hinaus, die Tür angelehnt lassend. Die Unendlichkeit der Nacht flößte mir Furcht ein; mir war, als hätte sie sich meines Geheimnisses bemächtigt. Behutsam schlich ich mich zum Dachboden. Sargento, der Hofhund, begrüßte mich schwanzwedelnd. Ich stieg auf der Leiter zu dem weiten Bodenraum hinauf, wo Ratten zwischen Säcken voll Mais und altem Gerümpel herumliefen.
Es war nicht leicht, die einzelnen verstreuten Teile meines Sattelzeuges wieder zusammenzufinden. Aber glücklicherweise hatte ich eine Schachtel Streichhölzer in der Tasche. Bei dem spärlichen Licht der kleinen Flammen konnte ich allmählich die Sattelunterlage, das Sattelpolster, den runden Saumsattel, das Sattelfell, die Überlage und den Bindegurt zusammenbringen. Nachdem ich alles mit dem Gurt zusammengebunden hatte, warf ich mir den Packen über die Schulter und kehrte in mein Zimmer zurück, wo ich meine neuen Habseligkeiten zu dem Poncho, den Zügeln und Stiefeln warf. Und da ich sonst nichts mehr mitzunehmen hatte, legte ich mich auf mein Eigentum und ließ das Bett leerstehen; damit brach ich für meine Begriffe mit der ganzen fremden Abhängigkeit.
Es war noch Nacht, als ich wieder aufwachte. Die rechte Seite tat mir weh, weil ich auf dem Beißkorb gelegen hatte. Mein Hinterteil war auf den Backsteinen kalt geworden, das Genick durch die unbequeme Lage wie verrenkt. – Wieviel Uhr mochte es sein? Auf jeden Fall war es ratsam, bereit zu sein, um jeder Möglichkeit zuvorzukommen.
Wie ein Türke warf ich mir Sattel und Kleiderbündel auf den Rücken. Noch ganz verschlafen, gelangte ich auf den Hof, legte dem Pony die Zügel an, sattelte es, öffnete die große Hintertür und gewann die Straße. Ich empfand ein unbekanntes Glücksgefühl: Freiheit. Das Städtchen lag noch im tiefsten Schlafe, und ich ließ mein Pony im Schritt, der sonderbar laut widerhallte, bis zur Kutscherei von Torres trotten, wo ich mir das andere Pony ausbitten wollte, das der Junge des Krämers dort eingestellt hatte.
Ein Hahn krähte; unmerklich dämmerte es.
Da der Kutschereibetrieb früh aufwachte, um zum ersten Morgenzug bereit zu sein, fand ich das große Hoftor schon offen, und Remigio, einer von meinen kleinen Freunden, machte sich zwischen den Pferden zu schaffen.
»Na, welcher Wind hat dich denn hergeblasen?« war seine erste Frage.
»'n Morgen, Bruder; ich komme, um mir mein Rennpferd abzuholen.«
Ich mußte aber lange mit dem Dummkopf disputieren, um ihm klarzumachen, daß ich Herr über mein Eigentum sei. Schließlich zuckte er die Schultern:
»Hier hast du dein Pony. Tu', was du Lust hast.«
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, legte dem Tier, das weit besser gepflegt war als das in meiner Behandlung gebliebene, das Zaumzeug an und verabschiedete mich von Remigio. Wie ein richtiger Landmann, mit Saumpferd und seinem Bündel Zeug im Poncho, ritt ich über die alte Brücke aus dem Städtchen in den Kamp hinaus.
Um auf die Estancia des Galván zu kommen, mußte ich dieselbe Richtung einschlagen wie zur Estancia des Don Fabio. Auf einer gewissen Höhe zweigte ein Weg nach Norden ab, und dem mußte ich dann folgen bis zu dem Berge, den ich schon von weitem kannte.
Da mir sehr daran lag, mich von dem Städtchen zu entfernen, setzte ich mein Pony in Galopp; das Saumtier gehorchte ausgezeichnet. Als ich zwei spanische Meilen gemacht hatte, ließ ich meinen Tieren eine Atempause. Gerade ging die Sonne über meinem neuen Leben auf.
Ich fühlte mich unsagbar befriedigt. Ein kühles Licht übergoldete den Kamp. Meine Ponys sahen aus, als seien sie mit neuer Farbe emailliert. Um uns erstanden die schweigenden Weideflächen neu im Funkeln des Morgentaues. Und ich mußte vor überströmendem, gewaltigem Glück lachen; lachen aus meinem unendlichen Freiheitsgefühl heraus, während meine Augen sich mit Tränen füllten, als ob auch sie in dieser stillen Morgenstunde sich erneuern müßten.
Noch eine spanische Meile fehlte mir bis zu den Gutshäusern. Ich legte sie im Schritt zurück, während ich den ersten Vogelliedern lauschte und von allen Seiten Lebensmut in mich einsog aus dieser Morgenfrühe, die, den Schatten der Nacht verscheuchend, die Pampa neu zu erschaffen schien.
Scheu wich ich dem Gutshaus aus und wandte mich zum Küchenschuppen. Niemand schien anwesend. Die Hunde beschnupperten knurrend die Fesseln meines Ponys; eine wenig liebenswürdige Einladung, den Fuß auf den Boden zu setzen. Schließlich erschien ein Alter an der Küchentür, kuschte die Hunde fort und bedeutete mir, näher zu treten. Dann wies er auf eine der vielen Bänke, die im Raum standen, damit ich mich setzte.
Den ganzen Morgen verbrachte ich regungslos dort im Winkel und beobachtete alle Bewegungen des Alten, als ob meine Zukunft davon abhinge. Wir sprachen nicht ein Wort.
Um die Mittagszeit kamen nach und nach einige Peone herein; eine Glocke läutete zum Essen. Die Leute grüßten beim Eintreten, und einige sahen mich von der Seite an.
Zusammen mit vier oder fünf Männern trat Goyo López ein, den ich vom Städtchen her kannte.
»Na, was spazierst denn du hier herum?«
»Ich suche Arbeit.«
»Arbeit?« wiederholte er, und sah mich genauer an. Einen Augenblick zitterte ich bei dem Gedanken, daß er etwas über meine Familie im Städtchen sagen könnte. Aber Goyo hatte Feingefühl. Die Peone betrachteten mich. Meine Antwort bespöttelnd, sagte ein Bengel:
»Er will sich wohl verdingen, um Säcke zu schultern?«
Goyo drehte sich nach ihm um:
»Das ist recht, hänsle ihn jetzt nur, solang er eingeschüchtert ist, später, wenn er wieder Mut gewinnt, kann er dich leicht selbst mal über die Schulter werfen. Du weißt nicht, was für ein Tausendsassa das ist.«
Einen Augenblick war ich der Zielpunkt von vierzig Augen. Ich zuckte nicht mit der Wimper und wartete still, bis niemand mehr auf mich achtete. Doch Goyos Worte hatten Eindruck gemacht. Aufgeweckt sein (selbst wenn man einmal die Grenze des guten Benehmens überschreiten sollte) ist eine Eigenschaft, die der Landmann schätzt.
Goyo rief mich von der Tür her und sagte mir, ich solle mein Pony absatteln, und er wolle mir die Tränke zeigen; und kaum trafen wir draußen zusammen, als er auch schon zu mir sagte:
»Du bist aus der Stadt geflohen.«
»Scht! Nichts verraten, Bruderherz; du blamierst mich ja.«
»Ich dich blamieren! Was für ein Witz! … Und du willst nun arbeiten?«
»Und warum nicht?«
»Gut …; gib deinem Pony Wasser … Sieh, da kommt gerade der Verwalter.«
Ein Engländer, halb schon Criollo, kam auf uns zugeritten, und nachdem ich ihn begrüßt hatte, brachte ich meine Bitte vor.
»Ich hab' keine Arbeit für dich«, sagte er, während er absaß.
»Dann erlauben Sie mir vielleicht, hier zu essen? Ich will dann auch sofort wieder gehen.«
»Wohin willst du gehen?«
»Dorthin …« sagte ich und streckte meine Hand aufs Geratewohl in die Gegend.
Mit einem gutmütigen Lächeln sah der Engländer mich an.
»Kannst du dich tummeln?«
»Ja, Señor.«
»Sie kennen ihn, Goyo?«
»Ein wenig, Don Jeremias.«
»Gut, dann geben Sie ihm nach der Siesta das Pony Sapo. Er soll den kleinen Deichselwagen anspannen, das alte Heu aus den Krippen holen und es in den Graben bei der weißen Pforte werfen.«
Um mich bei dem Verwalter in ein gutes Licht zu setzen, ging ich auf sein Pferd zu, nahm ihm den Sattel ab, lüftete die Unterlagen und fragte Goyo, wo ich das Tier hinführen sollte.
»Auf die Fohlenkoppel dort, wo die Tränke ist.«
Lächelnd sah der Engländer mir nach, während ich sein Pferd zur Tränke zog.
»Mit oder ohne Zaum?« fragte ich Goyo.
»Ohne …!«
Ich kann die Freude nicht beschreiben, die ich empfand, als ich dann mitten unter zwanzig Männern zwischen Goyo und einem alten Gringo meinen Platz am Tische einnahm.
»Koch, gib dem neuen Mensual Mensual: ein nicht auf dem Gut ansässiger Landarbeiter, der monatlich sein Gehalt in Geld empfängt. Teller und Löffel!« sagte Goyo.
»… neuen Mensual!« lachte der Bursche, der vorhin schon über meine Bitte um Arbeit gewitzelt hatte. – »Er soll wohl Mist karren!?«
Mir wurde klar, daß er diese Worte, die hätten boshaft sein können, nur aus Dummheit sagte, und so erfaßte ich die Gelegenheit, um Goyo, der mich einen Tausendsassa genannt hatte, nicht Lügen zu strafen.
»Mist karren?« wiederholte ich, »da nimm dich man in acht, daß du nicht eines Morgens in der Abfallgrube aufwachst!«
Und als ich hörte, daß alle lachten, erinnerte ich mich der Tage meiner allgemeinen Beliebtheit im Städtchen.
»Sonderbare Angewohnheiten hast du«, fuhr ich fort, »wenn ich der Patron wäre, würde ich dir die Wolle vom Kopf scheren lassen, Kissen damit zu stopfen.«
Eine Lachsalve folgte meiner Rede. Als sie sich gelegt hatte, rügte mich einer der ältesten Männer mit Würde:
»Nun, du scheinst mir nicht gerade auf den Mund gefallen. Aber man soll nicht fliegen wollen, bevor die Flügel ausgewachsen sind. Du bist noch ein zu junger Kläffer, um wie ein großer Hund zu bellen.«
Ein Blick hatte mir genügt um zu wissen, wer mit mir sprach, so senkte ich denn diesmal den Kopf und sagte so zahm, wie es sich einem Erwachsenen gegenüber ziemt:
»Gewiß, Señor; glauben Sie mir, daß ich auch zu respektieren verstehe.«
»So soll es sein«, bestätigte der Alte, und nach einer kurzen Pause lief mein alter Schnack wieder von Mund zu Munde.
Den ganzen Nachmittag verbrachte ich damit, altes Heu aus den Raufen über eine Strecke Weges von zehn Cuadras in die Abfallgrube zu befördern. Wenn ich zum Stall kam, belud der Stallwärter den Karren und steckte die Heugabel in die Last. An der Grube angelangt, hantierte ich mit dem Werkzeug, das sodann im leeren Wagen ohrenbetäubend klapperte und ratterte, wenn ich wieder zurückfuhr.
Beim Abendessen schlief ich schon halb; aber meine Müdigkeit, die mich zuerst einigen Hänseleien ausgesetzt hatte, versank bald unbemerkt im allgemeinen Schweigen.
In Goyos Kammer hatte man mir eine Pritsche aufgestellt. Ich besaß weder ein Kissen noch irgend etwas, womit ich es mir in dem ungastlichen Bette hätte bequem machen können. Aber Müdigkeit ist der beste Pfühl; und so wickelte ich mich in meinen Poncho und warf mich auf das nackte, harte Segeltuch, ohne mich um weitere Annehmlichkeiten zu kümmern. Eine kleine Weile dachte ich an meine Flucht, rief mir das Haus meiner Tanten, deren Gestalten und meine abendlichen Gebete ins Gedächtnis. Dann fiel der schwere Schlaf über mich wie eine Heuladung über eine Feldlerche.