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1874

Mein Bruder machte mir am 1. Januar die Anzeige, daß er seinen Abschied als Regimentskommandeur nehmen wolle. Die plötzliche Veränderung in seinem Leben, da er eine nun 38jährige Tätigkeit verläßt, im Alter von erst 54 Jahren, beunruhigte mich sehr.

Das Manuskript ›Lucrezia‹ nahm am 10. Januar Graf Tauffkirchen mit nach Stuttgart, welcher hierher gekommen war, um dem Papst sein Abberufungsschreiben zu überreichen, da er nach Stuttgart versetzt worden ist.

Die Beschäftigung mit dieser Monographie hatte mir eine Lücke angenehm ausgefüllt; ich zog mich mit dieser Schrift aus der ›Geschichte der Stadt Rom‹ heraus; sie ist von ihr noch ein Schößling. Ich habe sie dem Herzog von Sermoneta gewidmet, als ein Zeichen der Erinnerung, welches ich im Hause der Caetani niederlege.

In meiner Freiheit von jeder größeren Arbeit bin ich zu Sprachstudien zurückgekehrt, namentlich zum Griechischen. Gern möchte ich vor meinem Ende Hellas sehen: vielleicht daß neue Anschauungen erfrischend auf mich wirken. Während meiner langen Arbeit über das Mittelalter hatte ich die griechische Literatur ganz vernachlässigen müssen.

Adolf von Schack war am Anfang des Januar aus München gekommen, wo die Cholera wieder ausgebrochen ist. Ich habe mit ihm ein noch näheres Verhältnis angeknüpft; er ist eine bis zur Kindlichkeit harmlose, von keiner Leidenschaft bewegte Natur, immer von dichterischen Phantasien eingenommen. Eines Abends hatte uns Keudell zu Tisch geladen, wobei zugegen waren der amerikanische Gesandte Marsh, der englische Gesandte Sir Augustus Paget und Lady Paget, sodann der Kavalier der Prinzessin von Piemont, Marchese von Montereno und dessen Frau. Aus vielen Gründen war es meine Pflicht geworden, mich bei Hofe im Quirinal vorstellen zu lassen, was ich bisher abgelehnt hatte. Schack tat das gleiche. Der Kronprinz Umberto empfing mich am 21. Januar um 1 Uhr mittags. Sein Adjutant, General Sonnaz, führte mich bei ihm ein. Es war eine seltsame Empfindung für mich, den Quirinal, welchen ich lange Jahre hindurch nicht wieder gesehen hatte, jetzt zu solchem Zweck zu betreten. In dem großen Vorsaal fielen mir Schlachtenbilder aus dem jüngsten Befreiungskriege Italiens auf, welche dort al fresco eine Wand bedecken, dieselbe, wo ehemals Heiligenbilder und Porträts von Päpsten hingen.

Der Prinz empfing mich mit großer Freundlichkeit wie einen ihm schon Bekannten. Er gewinnt in der Nähe und im Gespräch, wo sich seine sonst harten Gesichtszüge beleben. Er ist natürlich und ungezwungen; seine Sprache hat einen entschieden piemontesischen Akzent. Im Gespräch, welches sich hauptsächlich um die Umwälzung Roms drehte, ging er frei heraus. Er sagte, daß die Unversöhnlichkeit der Kurie ein Glück für Italien sei, denn dadurch reife der Prozeß, welcher durch sich selbst eine Lösung dieses Zwiespalts herbeiführen werde; im übrigen sei es ganz gleichgültig, ob Pio IX. lebe oder sterbe, ob sein Nachfolger sein Verfahren beibehalte oder nicht, denn Italien habe der Kirche die vollkommene Freiheit gegeben, und die Dinge gingen ihren gesetzmäßigen Gang fort. Ich nahm die Gelegenheit wahr, dem Kronprinzen die Erhaltung des Turms Astura zu empfehlen, indem ich dies Monument der Hohenstaufenzeit in seinen Schutz stellte. Der Fiskus hatte nämlich diesen Turm zum Verkauf ausgeboten, wie das Schloß Magliana am Tiber, ja wie auch das berühmte Schloß der Este in Ferrara. Wenn heute der fromme Äneas wieder in Latium landete, so würde ihn das Domanium ohne Umstände aufgreifen lassen und an einen meistbietenden Engländer verkaufen. Der Fiskus sucht alles und jedes zu Gelde zu machen; von seinem Standpunkt aus ist das begreiflich; denn die Geldnot ist groß, der öffentlichen Monumente sind zahllose, und diese sind nicht allein ein totes Kapital, sondern sie beanspruchen große Summen zu ihrer Erhaltung.

Zeichnung: Gregorovius

Torre Astura, 29. 6. 1854

Der Kronprinz versprach, noch an demselben Tage mit dem Ackerbauminister Finale zu reden. So empfahl ich mich von ihm.

Ich hielt es indeß für gut, den Turm Astura noch direkt dem Ministerpräsidenten Minghetti zu empfehlen, was ich in einem Schreiben tat. Bald darauf sah ich Minghetti; er versicherte, daß er sofort Ordre gegeben habe, den Turm nicht zu verkaufen.

Mariano schrieb darüber einen Artikel im ›Diritto‹; die ›Riforma‹ brachte einen vorzüglichen Artikel mit der Aufschrift ›Non de pane solo vivit homo‹, worin der Verfasser dem Fiskus eine lange Strafpredigt hielt und alle die vandalischen Frevel aufzählte, welche die Regierung gegen die Monumente der Geschichte verübt habe und noch täglich ausübe. Auch in Deutschland machte diese Rettung Asturas Eindruck; die ›Allgemeine Zeitung‹ druckte mein Gedicht: ›Der Turm Astura‹ wieder ab, welches ich im September 1855 geschrieben und worin ich die Versöhnung Italiens und Deutschlands durch die gemeinsame Freiheit prophezeit hatte. Nur 15 Jahre später war diese Prophezeiung zur Wahrheit geworden.

Rosa, der Intendant der Ausgrabungen, hatte sich über meine Initiative geärgert, und sagte mir eines Abends im Quirinal, daß er selbst bereits Schritte zur Erhaltung Asturas getan habe; er gab mir dabei zu verstehen, daß der Turm trotz alledem vom Prinzen Borghese erkauft worden sei, innerhalb dessen Besitzungen er liege, daß dieser aber gewisse Artikel habe unterzeichnen müssen, die ihn verpflichten, Astura nicht ohne Wissen der Regierung weder zu veräußern noch zu zerstören noch dort Ausgrabungen zu machen.

Am Ende des Jahres wurde ich auf einen Ball im Quirinal der liebenswürdigen Kronprinzessin Margherita vorgestellt.

Den belebtesten Salon, nur für die Mittagsstunden am Sonntag, hält Frau Minghetti. Sie ist vom Haus Acton in Neapel, ehemals vermählt mit dem sizilianischen Prinzen Campo Reale, dann in zweiter Ehe mit Minghetti, welcher jetzt wieder Ministerpräsident ist. In ihrer Jugend war sie von hinreißender Schönheit, und noch jetzt ist sie bezaubernd.

An den Donnerstag-Abenden war Empfang bei Donna Ersilia, der gelehrtesten Frau Roms und vielleicht Italiens. Es verkehren dort de Rossi, der jüngere Visconti und Lanciani, der Orientalist Guidi, Michele Amari, Miniscalchi, der Admiral Acton, Menabrea, ehemals Ministerpräsident nach der Katastrophe von Mentana, ein schöner und ruhiger Mann.

Am 1. März wurde ich durch die mir von Mariano gebrachte Nachricht überrascht, daß die ›Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter‹ auf den Index gesetzt sei, und daß der ›Osservatore Romano‹, das offizielle Blatt des Vatikan, das betreffende Dekret publiziert habe.

Dies datiert vom 6. Februar 1874. Es ist unterzeichnet vom Kardinal de Luca, als Präfekten der Indexkongregation, und vom Dominikaner Pius Saccheri, dem Sekretär derselben. Am Schluß heißt es: Die 25 Februarii 1874 ego infrascriptus magister Cursorum testor supradictum Decretum affixum et publicatum fuisse in Urbe. Philippus Ossani Magister Cursorum.

Die mich betreffende Stelle des Dekrets lautet: Gregorovius Ferdinand – Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, vom 5. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert. Latine vero: Historia urbis Romae in medio-aevo a saeculo quinto usque ad saeculum decimum sextum, tom. 8. Stuttgardiae 1870, apud Cotta Bibliopolam. Opus condemnatum in originali Germanico et in quocumque alio idiomate.

Nach alter Regel werden die Dekrete der Indexkongregation an die Türen der drei großen Basiliken angeschlagen, St. Peter, St. Johann im Lateran und S. Maria Maggiore, außerdem an die Türen der Cancelleria und der Curia Innocenziana. An den beiden letzten Orten konnte das diesmal nicht mehr geschehen. Ich ging nach dem St. Peter, wo ich das Dekret an der Marmorsäule des ersten Eingangs angeheftet sah. Der ehrwürdige Dom bekam plötzlich ein persönliches Verhältnis zu mir. Noch nie zuvor durchwandelte ich ihn mit so erhobener Stimmung. Ich bedachte alle meine Mühen, meine Leiden und Freuden, meine große Leidenschaft, was alles ich in mein Werk versenkt hatte, und ich pries die guten Genien, welche über ihm gewacht zu haben schienen, daß ich es ungestört vollendete, und in demselben Moment, da die Papstherrschaft in Rom zusammenbrach. Hätten die Priester meine ›Geschichte‹ nach dem Erscheinen der ersten Bände mit dem Interdikt belegt, so existierte das Werk heute nicht, denn dann verschlossen sich mir alle Bibliotheken Roms. Seitdem mich die Jesuiten in der ›Civiltà Cattolica‹ denunziert hatten, war ich jahrelang in der Erwartung, daß dieser Blitzstrahl auf mich fallen werde, und so schrieb ich am Werke weiter, inter fulmina. Aber man ließ mich gewähren. Derselbe Kardinal de Luca, den ich bisweilen bei Sermoneta traf, kannte meine ›Geschichte‹ (er versteht deutsch); er las sie in Frascati, wie mir einst Monsignor F. selber sagte; er regte sich jedoch nicht. Erst jetzt ist der Pfeil abgeschossen, weniger gegen mich als gegen Preußen, wo jetzt Bismarck als neuer Diokletian des Christentums verfolgt, wie die Pfaffen schreien, und vielleicht auch gegen das Municipium der Stadt Rom, auf dessen Kosten der Druck in Venedig besorgt wird. Mein Werk ist vollendet und breitet sich in der Welt aus; der Papst macht ihm jetzt Reklame.

Viele Blätter schrieben über das Verbot; Mariano schrieb einen vortrefflichen Artikel im ›Diritto‹. Alle gratulieren mir zu der verdienten Ehre.

Unbekannte Freunde rissen das Dekret am St. Peter nach acht Tagen ab, und sie vernichteten es auch an der Tür der Santa Maria Maggiore; nur am Lateran, welcher abgelegener ist, konnte ich das Plakat noch vor wenigen Tagen meinem Bruder zeigen.

Mein Bruder kam am 15. März abends von Florenz hier an. Ich brachte ihn in seine Wohnung in meiner Nähe. Ich führte ihn sodann dieselben Wege, die ich am ersten Abend meiner Ankunft in Rom gemacht hatte; zuerst zu Tisch in die Restauration gegenüber dem Hotel Cesari, wo ich seit vielleicht fünfzehn Jahren nie mehr gewesen war; dort mußte er sich auf denselben Platz setzen, wo ich gesessen; dann gingen wir aufs Kapitol und hinab zum Forum, wie ich vor nun fast 22 Jahren getan hatte.

Ich zeige nun meinem Bruder Rom, das Theater der Weltgeschichte und auch das meines kleinen Lebens, woran er stets aus der Ferne einen so innigen Anteil genommen hat.

 

Rom, 2. April

Unterdessen bin ich mit dem Bruder viel umhergewandert. Er faßt alles mit frischem Sinn auf und ist erfreut von der Größe und Macht dieser Welt. Ich zeigte ihm die Galerien im Vatikan. Welch ein seltsames Gefühl erregt heute dieser stille Vatikan, in den noch immer Fremde aus allen Ländern ziehen, aber jetzt durch eine Seitenpforte hinten am Garten eingelassen und von den Schweizerwachen oder den Resten der päpstlichen Gendarmerie empfangen, welche Menschen alle schattenhaft und eingeschüchtert dort umherzuschleichen scheinen. Wenn der Vatikan das Gefängnis des Papsts ist, so hat nie ein Gefangener in der Welt ein großartigeres gehabt.

Die Klöster sind jetzt fast alle aufgehoben und verlassen. Eines Abends war ich nach S. Onofrio gegangen, gerade am Vorabend des Tags, an welchem die Mönche dort ausziehen sollten. Als ich in den Klosterhof eintrat, sah ich um den steinernen Brunnen ihrer einige traurig und still dasitzen; und oben stand eine Wetterwolke über dem Janiculus; sie verschattete das Kloster; es blitzte und donnerte.

In S. Lorenzo in Lucina ist ein römisches Nationalmuseum eingerichtet worden. Andere Klöster stehen noch bestimmungslos. In jenes der griechischen Basilianerinnen von S. Maria in Campo Marzio soll das Staatsarchiv verlegt werden. Die Armenier auf der Höhe S. Pietro in Vincoli haben sich zu behaupten gewußt, weil sie eine Schule halten. Aber in jenem von S. Pietro selbst hat ein polytechnisches Institut seinen Sitz aufgeschlagen.

Bei den Augustinern und in der Minerva sind die Mönche als Bibliothekare geblieben. Ich habe noch keine dieser Bibliotheken besucht, wo ich lange Jahre heimisch gewesen bin und wo ich eine immer gleiche Freundlichkeit erfahren habe. Jetzt, da ich auf den Index gekommen bin, will ich die verwunderten Gesichter jener guten Alten nicht sehen; dies eben ist das Peinvolle für mich, daß sich manche Personen unrichtige Vorstellungen von mir machen, die ich nicht beseitigen kann.

Die Ausgrabungen im Kolosseum schreiten vor; große Kanäle kommen dort an den Tag. Von Statuen wurde nichts Besonderes aufgefunden. Um diese Ausgrabungen machen zu können, wurden alle Kapellen der Stationen und auch das Kreuz in der Mitte entfernt. Dies brachte einen Sturm hervor unter allen Frommen und im Vatikan. Der Kardinalvikar belegte den Intendanten Rosa mit dem Bann; täglich zogen Prozessionen nach dem Kolosseum, um dort zu beten. Man grub emsig weiter.

Bei Santa Maria Maggiore wurde ein antikes Haus ausgegraben mit dem Rest einer bemalten Exedra. Vielleicht gehörte diese zum Palast Merula, welche der dortigen Straße den Namen gegeben hat.

 

Rom, 11. Mai

Ich war mit dem Bruder in Frascati und Tusculum und dann in Ostia, wo die Ausgrabungen der am Tiberhafen gelegenen Stadtteile mich überraschten. Denn seit drei Jahren hatte ich Ostia nicht gesehen.

Von der afrikanischen Expedition kehrten zurück Professor Zittel und Dr. Ascherson.

Viele Fremde kamen; doch wird es allmählich still. Am 4. Mai wurde ›Lucrezia Borgia‹ zugleich in Stuttgart und in Leipzig ausgegeben. Mariano vollendete die italienische Übersetzung des Buchs, welche Le Monnier drucken will.

 

Süditalische Reise vom 14. Mai bis 7. Juni 1874.

Am 14. Mai fuhr ich mit dem Bruder von Rom ab, um 10 Uhr des Morgens. Es herrschte noch ungewöhnliche Kälte und regnete.

In Caserta erwartete uns an der Bahn Rafael Mariano, um sich uns anzuschließen.

Am 15. fuhren wir nach Benevent.

An demselben Tage nach Foggia.

Am 16. Mai nach Lucera, und nachmittags zurück über Foggia nach Manfredonia in zwei Stunden.

Am 17. bei Sonnenaufgang nach S. Angelo auf dem Kap Gargano.

Zu Mittag zurück nach Manfredonia, und weiter nach Foggia, wo wir zur Nacht blieben.

Am 18. setzten wir die adriatische Küstenreise fort. Mittags in Barletta. Diese Stadt, wie auch alle übrigen am adriatischen Meer, ist sauber und modern von Charakter. Wenig Monumentales darin, außer den Domen und einigen anderen Kirchen. Keiner dieser Städte fehlt ein Kastell. Die Landschaften gleichen einförmigen Gärten von Mandelbäumen, Oliven und Reben.

Der Redakteur der Zeitung Barlettas, La Terra, Freund Marianos, führte uns im Wagen nach Trani, wohin uns Guglielmi eingeladen hatte. Wir fanden einen gutgebauten Ort und einen der schönsten Dome Süditaliens, nahe am Hafen. Trani ist eine Stadt von 24 000 Einwohnern, hat aber kein anständiges Gasthaus. Deshalb hatte uns Guglielmi in ein Privathaus, den Palast des Marchese und Senators Cutinelli führen wollen, wo uns ein Logis bereitet war. Wir lehnten das ab, nahmen aber das Diner in diesem gastfreien Hause an. Cutinelli führte uns in die sogenannte Villa, einen öffentlichen Spaziergang mit Gartenanlagen am Hafen, die aber keineswegs der Fülle südlicher Natur entsprachen. Es gibt noch einige gotische Architekturen in Trani, wie den Palast bei Ognissanti. Eine Straße heißt noch Via Campo dei Longobardi. Man baut seit 15 Jahren ein neues Quartier, dessen Straßen nach Vittorio Emanuele, Umberto, Garibaldi und den Schlachten des Einheitskrieges benannt sind. Überhaupt ist in Süditalien seit dem Jahre 1860 ein Aufschwung in den Städten wohl bemerkbar.

Nach einer jämmerlichen Nacht in der Locanda führten uns La Terra und Guglielmi am 19. Mai nach Andria, einer großen, aber unkultivierten Stadt, von welcher ehemals die Bolzi, dann die Caraffa Herzöge gewesen sind. Ein Hotel, wo wir frühstücken wollten, gab es nicht; deshalb nahm uns Guglielmi in das Haus seines Onkels, eines Canonicus, welcher abwesend war.

Als wir durch die Stadt gingen, verfolgten uns einige Bettler. Ich gab ihnen eine Lira zur Verteilung, und alsbald wuchsen um uns her wie aus dem Boden auf Krüppel, alte Weiber, Kinder, Mädchen, alle in Lumpen gehüllt: ein entsetzlicher Anblick, wie ich solchen nirgendwo gehabt hatte. Diese Armen drangen mit Geschrei auf uns ein; sie verfolgten uns, immer sich mehrend durch viele Straßen. Wir flüchteten in eine Kirche, auf deren Kuppeldach wir stiegen, von dort aus das Panorama der Landschaft zu betrachten; jene Hunderte aber standen unten rings umher und forderten mit Geschrei Almosen. Als wir sodann zu unserem Wagen gelangen wollten, der in der Einfahrt einer Schenke auf uns wartete, verfolgte uns der Schwarm auch bis dorthin; es war ein ganzes Volk in Lumpen und ein unbeschreiblicher Tumult. Mariano hatte den Einfall, dem Wagen Luft zu machen, indem er einige Francs in Kupfer einwechseln ließ und diese dann ausstreute. So fuhren wir durch das Gewühl des schreienden, sich balgenden Bettlerhaufens auf und davon. Welch ein Bild süditalienischen Elends ward uns da enthüllt!

Am 19. Mai nach Bari. Die Landschaft ein fortgesetztes Gartenland. Die schön gebaute Handelsstadt geht einer größeren Zukunft entgegen.

Noch steht das Kastell am Hafen, ein großartiger Bau mit stumpfen Türmen. Die merkwürdigsten Denkmäler der Vergangenheit sind der Dom und S. Nicolo. Der Dom hat einen kolossalen Turm, welchen ein Strebepfeiler stützt. Die berühmte Wallfahrtskirche S. Nicolo ist ein prächtiges Gebäude halbgotischen Stils, mit bemalter Flachdecke wie in den meisten Kirchen Apuliens. Viele Könige Siziliens wurden dort gekrönt. Am Eingange steht in der Wand eine Denktafel, welche die Krönung des Normannen Roger durch Anaclet II. verzeichnet. Eine andere Tafel erinnert an das Konzil Urbans II.

Links an der Wand befindet sich das Grabdenkmal Roberts von Bari mit der alten Inschrift: » Expletis Numeris Robertus Kurihelie Hic Jacet Extremo Functus Honore Die Hic Fuit Et Regis Consultor Et Omnia Solus Et Sibi Dum Vixit Favit Uterque Polus Post Obitum Faverant Sua Sic Felicia Fata Quo Loca Possideat Hec Sibi Morte Data.« Eine andere Inschrift vom Jahre 1745 bezeichnet sein griechisches Geschlecht und nennt ihn » Robertus Baro Medunientium Comes e vetusta Chyuriliorum gente«.

Wir sahen später den Palast dieses Robert oder seiner Familie in der von derselben noch heute benannten Strada Chyuolia, ein großes Gebäude mit Portal im Renaissancestil, leider weiß übertüncht wie das gesamte Bari.

Im Chor befindet sich das schöne Grabmal der Königin Bona von Polen; ihre marmorne Gestalt kniet auf einem schwarzen Sarkophag; unten liegen die Figuren zweier schöner Frauen; rechts und links stehen zwei Bischöfe. Dann darüber in der Wand Medaillons polnischer Bischöfe und Könige, Sigismunds III., Kasimirs IV., Maria Gonzaga regina Poloniae, Anna regina Poloniae, die heilige Hedwig etc.

Die Unterkirche ruht auf Säulen, welche jetzt mit buntem Marmor bekleidet und in Pfeiler verwandelt sind. Sie gewährt einen prächtigen Anblick. Wir fanden sie von Gläubigen erfüllt, welche um den Hauptaltar knieten. Dieser ist von getriebenem Silber, aus dem 17. Jahrhundert.

Rings um S. Nicolo her viele Buden, worin Statuetten des Heiligen, Amulette, Reliquien, namentlich die mit seinem Bildnis bemalten Mannaflaschen, feilgeboten werden.

Auch S. Sabino ist eine schöne dreischiffige Kirche mit Rundbogen, aber stark modernisiert.

Überall spricht sich ein überschwenglich phantastischer Trieb zur Idolatrie aus. Dieser Heiligenkultus ist Bedürfnis der Volksnatur. Die Priester Süditaliens, indifferent gegen den Fall Roms unter die Gewalt des italienischen Staats, beherrschen noch Apulien wie zur Zeit der Normannen und der Anjou.

Wir sahen in Bari beide Häfen, den alten und den neuen, der jetzt im Bau begriffen ist. Im alten lagen viele Fahrzeuge aus Dalmatien und Griechenland, und dort fanden wir am Strande große Haufen lebender Schildkröten aufgeschichtet, was einen greulichen Anblick darbot. Den neuen Hafen baut eine Gesellschaft, deren Unternehmer sind der Ingenieur Maraini in Rom und Herr d'Atri in Bari. An diesen hatte Mariano einen Brief, in Folge dessen wir zuerst von der Dame des Hauses, einer jungen schönen Frau, freundlich aufgenommen wurden. Sie wäre das idealste Modell einer Scheherezade gewesen; da sie aus Lucera stammte, mochten ihre Vorfahren wirkliche Sarazenen gewesen sein. Herr d'Atri führte uns erst zu den Steinbrüchen, wo er das Material für den Molo brechen läßt, dann zeigte er uns diesen selbst, und wir sahen das Lastschiff die Steine herbeiführen und dann in das Meer versenken. In einigen Jahren soll dieser Hafen fertig sein.

Unser Führer sagte uns, daß eine der reichsten Wohlstandsquellen Baris die Ausführung des Öls sei, und dies verdanke die ganze Landschaft dem industriellen Genie eines Franzosen, Ravanas. Der Mann wurde erst Millionär, dann verarmte er, indem er das Land selbst reich machte. Die Stadt Bari gibt zum Dank seiner Familie die Jahresrente von 2400 Lire.

Abends schickte uns der Klub der Deutschen eine Einladung, welcher wir Folge leisteten. Es ist eine ziemlich starke Kolonie von Deutschen und Schweizern, meist Kaufleuten, welche sich hier ein Lesekabinett und Vergnügungslokal eingerichtet hat. Diese Herren klagten über die Geistesöde Baris, wo es keine anderen als materielle Bedürfnisse gibt.

Am 21. Mai fuhren wir nach Tarent. Die Landschaft wird minder reich, je weiter man sich vom Meere ins Innere entfernt. Bei Castellaneta erhebt sich das Land wieder – der große Golf von Tarent wird sichtbar, und rechts zeigen sich in der Ferne die beschneiten Gebirge Kalabriens. Der Golf hat flache Ufer, die mich an Agrigent erinnerten, und viel Olivenkultur; alles melancholisch, grau und fast öde zu nennen; doch mit weiten Blicken über Land und Meer.

Die letzte Station ist Massafra, eine orientalisch aussehende Stadt. Von dort stiegen wir schnell zum Golf hinab, und vor uns lag die Halbinsel, mit dem massenhaft aufgetürmten Tarent, dem großen Hafenkastell und vielen Schiffen und Barken.

Wir blieben in Tarent bis zum Mittag des 22. Mai, wo wir nach Bari zurückkehrten. Am 23. verließ uns Mariano in Trani, während wir nach Caserta fuhren.

Folgenden Tages gingen wir nach Neapel. Seit zehn Jahren war ich nicht mehr dort gewesen – vieles fand ich daselbst verändert, selbst den alten historischen Toledo lächerlicherweise zur Strada di Roma umgetauft. Ich fand viele Briefe bei Detken; darunter die Anzeige Cottas, daß die erste Auflage der ›Lucrezia Borgia‹ vergriffen sei. Die mir nach Rom geschickten Exemplare hatte ich noch nicht zu Gesichte bekommen, und auch Detken hatte keines mehr.

Am 28. nach Pompeji. Wir hatten das schönste Nachtlager dort im Hotel Diomede. Im Zauberlicht des Vollmonds sahen wir Pompeji.

Am 29. nach Salerno, von dort nach Amalfi. Wir blieben die Nacht in der Luna, besuchten Ravello, ließen uns nach Scaricatoio rudern und stiegen dann über das Gebirge hinweg nach Sorrento, wo wir nachmittags am 30. Mai anlangten und in der Cocomella Wohnung nahmen.

Am 31. zu Barke nach Capri.

Ich betrat die Insel nach 21 Jahren wie meine Heimat, in welche ich nach so langer Abwesenheit zurückkehrte. Pagano empfing mich, gealtert wie ich selbst, wie einen Hausgenossen. Alles ist hier auf seiner Stelle geblieben, und das caprische Wesen übte den alten Zauber auf mich aus. Nur eine andere Generation ist aufgewachsen. Auch sind mehrere Gasthäuser neu entstanden, und der Verbindungsweg nach Anacapri ist angelegt. Einige Kultur ist in diese kleine Märchenwelt eingedrungen, ohne sie zu zerstören.

Wir umfuhren die Insel, wo auch ein Leuchtturm aufgebaut ist, und ich tauchte mich wieder wie damals in der blauen Grotte in dies wonnevolle Wellenbad.

Drei Tage blieben wir bei Pagano, dann rissen wir uns am 3. Juni los; segelten in der Frühe mit dem Postboot nach Sorrent, stiegen daselbst in einen Wagen und fuhren nach Castellamare. Von hier nach Neapel.

Am 6. Juni Rückkehr nach Rom. Beim Eintritt in meine Zimmer stieg gerade die Girandola vom Kastell S. Angelo auf.

Am 16. Juni trat mein Bruder über Pisa und Genua seine Heimreise an.

De Merode starb im Vatikan am 12. Juli. Er war ein Fanatiker, aber ein tatkräftiger und auch vielen wohlwollender Mann. Vor dem Sterben sagte er dem Papst, daß einst Sartiges die Ansicht ausgesprochen habe, er, Pio Nono, werde alle seine Freunde begraben.

Die Gemeinde-Giunta Roms gab ihre Entlassung, in Folge großer Zerwürfnisse wegen des städtischen Budgets, welches durch das Bauwesen überlastet ist. Vorgestern waren die Neuwahlen auf dem Kapitol. Unter den Erwählten ist Sella und selbst der Prinz Filippo Orsini. Der Papst ist über diesen Abfall der Orsini sehr aufgebracht.

 

Rom, 14. Juli. Letzter Tag in Rom

Mein Entschluß steht fest: mit meinen Geschwistern in Deutschland mich wieder zu vereinigen. Meine Mission in Rom ist beendigt. Ich war hier ein Botschafter in bescheidenster Form, doch vielleicht in einem höheren Sinn als diplomatische Minister. Ich kann von mir sagen, was Flavius Blondus von sich gesagt hat: ich schuf, was noch nicht da war, ich klärte elf dunkle Jahrhunderte der Stadt auf und gab den Römern die Geschichte ihres Mittelalters. Das ist mein Denkmal hier. So darf ich ruhig von hinnen gehen.

Ich könnte wohl auch noch bleiben. Aber es sträubt sich ein selbstbewußtes Gefühl in mir gegen die Vorstellung, hier mich in Einsamkeit zu überleben und in Rom zu altern, wo alles neu wird und sich verwandelt und ein neues zudringliches Leben mir bald alte liebgewordene Pfade bedecken und unkenntlich machen wird.

Doch ist es ein Ungeheures, daß all dies innerste und lebendigste Leben meines Selbst jetzt zu einer Vergangenheit wird. In dieser Zeit fuhr ich oft nachts aus dem Schlaf empor, geweckt und gezogen von dem schreckenden Gedanken, daß ich Rom verlassen werde. Und niemand hier hält das für möglich. Es ist ein plötzliches Losreißen, wie Sturm einen Baum entwurzelt.

Als ich gestern vom Kapitol herabkam, war es mir, als riefen Monumente, Bildsäulen und Steine mich laut bei Namen.

Wenn ich hier aus dem Fenster meiner Wohnung in der Gregoriana, die fast meinen Namen trägt, auf das große Rom blickte, sah ich vor mir – und das durch vierzehn lange Jahre – den St. Peter, den Vatikan, die Engelsburg, das Kapitol, so viele andere Monumente. Ihre Bilder spiegelten sich gleichsam auf dem Papiere ab, wenn ich an diesem Tisch an der ›Geschichte Roms‹ schrieb; sie inspirierten und illustrierten fort und fort das allmählich entstehende Werk, und sie hauchten ihm Lokalfarbe und geschichtliche Persönlichkeit ein. Nun schwindet das alles und ist Phantom wie das Weltgebilde des Prospero in Shakespeares ›Sturm‹.

Roma vale! Haeret vox et singultus intercipiunt verba dictantis.

Gregorovius

Gregorovius 1891


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