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27. Endlich Wahrheit!

Während der nächsten halben Stunde lenkte Dr. Barlow, um nicht viel von dem, was er wußte, zu verraten, die Unterhaltung in andere Bahnen.

In einem entfernten Teil des Hauses schrillte eine Klingel.

»Da sind sie!« rief Mr. Dinger. Schnell führte er den Beamten und den Detektiv hinter eine spanische Wand in der Nähe der Flügeltür. Rudd und den Doktor versteckte er hinter den schweren Fenstervorhängen.

Es klopfte. »Henry?« rief der Hausherr.

Die Tür öffnete sich, und ein geschmeidiger, junger Mensch von spanischem Typus kam herein. Er grüßte »Guten Morgen, Onkel Bullock,« und sah sich verstohlen im Zimmer um, als fürchtete er, daß noch andere da wären.

»Guten Morgen, Henry. Wo ist Menon?«

In diesem Augenblick erschien der erste Offizier. Sein dunkler Anzug verschwamm mit dem Schatten des Korridors hinter ihm, und im Rahmen der Tür hob sich sein widerwärtiges Gesicht mit unbeschreiblicher Häßlichkeit ab. Die Strapazen hatten die Linien unter seiner scharfen Nase vertieft, seine hinterlistigen Augen waren entzündet. Ein erzwungenes Lächeln glitt über seine dünnen, farblosen Lippen.

Mit einer feierlichen Verbeugung kam er herein. »Guten Morgen, mein lieber Mr. Dinger.«

Der alte Seemann erwiderte den Gruß mit einem steifen Nicken.

»Onkel Bullock,« fing der Neffe an, »wir hatten vor, später zu dir ins Bureau zu kommen; Mr. Menon wollte sich verabschieden.«

»Das geht hier genau so gut,« antwortete Mr. Dinger kurz. Dann wandte er sich an Menon. »Also, Menon, was ist mit dem ›Erik‹?«

»Hat Ihr Neffe Ihnen nicht die Geschichte erzählt?«

»Doch. Aber nicht so ganz genau. An welchem Punkt ist das Schiff verschwunden?«

»Genau unter Kap Horn; zirka 59 Grad nördlicher. Wenn Sie mich's auf der Karte ...«

»Woher wußten Sie, wo Sie waren? Haben Sie vermessen?«

»War nicht nötig. Wir haben das Kap erkannt. Der Chef wird Ihnen das gleiche sagen – und jeder von der Mannschaft.«

»Die Mannschaft – hat es – hm – irgendwelche Schwierigkeiten mit ihr gegeben?«

»Tatsächlich, Mr. Dinger, ich sage es nicht gerne, aber ihre Ergebenheit mir gegenüber war eine der größten Freuden in meinem Leben. Nur wenige Offiziere können sich einer solchen Beliebtheit unter ihren Leuten rühmen.«

»Was war mit dem Mann, den Sie verloren haben? Normann – so hieß er doch – nicht?«

Der erste Offizier schüttelte den Kopf. »Der arme Kerl – der arme, irregeleitete, junge Mensch! Ich habe ihm mit aller Kraft zugeredet; ich habe ihm alle möglichen Erleichterungen geboten, nur damit er das Rechte einsieht. Alles war vergeblich. Er stahl die Barkasse – er war nicht ganz bei sich, zweifellos, als er es tat. Jetzt liegt er vermutlich irgendwo tief unten auf dem Grunde.«

»Sind Sie sicher?«

Menon stutzte und warf dem Fragesteller einen mißtrauischen Blick zu. »Sicher? Was meinen Sie?«

Mr. Dinger machte eine ungeduldige Bewegung. »Über alles. Über die Breite, über das Verhalten der Mannschaft, über Normanns Schicksal?«

»Natürlich bin ich sicher. Nächstes Jahr werden Kapitän Pike und die anderen geholt. Dann werden Sie ja hören. Wirklich, ich würde gerne mit hinauf, um meinen lieben Freund Dr. Barlow zu holen, aber ich habe ein glänzendes Angebot von Australien und muß sofort abreisen.«

»Ja, Menon, ich freue mich, daß Sie in der Lage sind, Ihre Behauptungen zu beweisen, denn ich habe sehr unerfreuliche Nachrichten von Dr. Barlow selbst, die das Gegenteil davon besagen.«

»Was!« fuhr Menon los. »Er ist doch nicht schon aus dem Schlamassel heraus?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, daß er mir Nachrichten über die Expedition geschickt hat. Er behauptet, daß der ›Erik‹ nicht an der Stelle, die Sie nennen, untergegangen ist, und daß Sie Stunk unter der Mannschaft gemacht haben.«

»So,« – Menons Stimme hatte einen erleichterten Klang – »er glaubt also, das Schiff ist weiter nördlich gesunken, nicht wahr? Ja, er war doch nicht dabei – woher will er's wissen?«

»Ich muß gestehen, daß er nicht erklärt hat, woher er es weiß. Aber was hat das mit der Mannschaft zu bedeuten?«

Menon rieb seine knochigen Hände aneinander und lächelte, bis sein schwarzer Schnurrbart sich verzog. »Ah! Ich verstehe jetzt. Er denkt, ich wäre wegen Caverlys Verhalten mit dem ›Polarstern‹ zu tadeln. Wenn ich nur den Doktor sehen und ihm erklären könnte! Er ist ein so tüchtiger und mutiger Kerl. Das Organisationstalent, das er bewiesen hat! Er macht der Regierung alle Ehre. Ich bin versucht, meine Abreise nach Australien zu verschieben, bis er zurückkommt.«

Dr. Barlow kam hinter dem Vorhang hervor und sagte ruhig: »Bemühen Sie sich nicht, Menon, ich bin schon da.«

Der erste Offizier sprang vor Überraschung einen Schritt zurück. Sein Gesicht, schon von Natur aus bleich, wurde grau. Seine krallenartigen Finger umklammerten eine Stuhllehne. »Sie!« rief er heiser. »Sie!«

Der Doktor lächelte. »Ja, ich bin's. Fassen Sie mich an und überzeugen Sie sich!«

Menons unverhohlene Aufregung war nicht unbemerkt geblieben. Henry Dinger entfernte sich von ihm, so als ob er zu spät sähe, was für ein Fehler es war, mit einem solchen Mann Freundschaft zu schließen. Sein Onkel schlug die Arme übereinander und stand da, ohne sich zu rühren.

Plötzlich änderte sich Menons ganzer Ausdruck. Seine Augen glommen auf, und sein fleischloses Kinn stieß in die Luft. Jeder Muskel an ihm straffte sich. »Sie haben mich reinlegen wollen,« schrie er und zeigte mit zitterndem Finger auf Mr. Dinger. »Sie haben gedacht, ich lüge Sie an, und haben diesen Mann versteckt, damit er hört, was ich sage. Fragen Sie Ihren Neffen, er wird Ihnen bestätigen, daß ich ihm Wort für Wort dasselbe erzählt habe.« Wie ein in die Enge getriebener Tiger sprang er auf Barlow los. »Beweisen Sie es! Beweisen Sie Ihr Garn über die Meuterei und den ›Erik‹ und – und –« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Haben Sie ihn untergehen gesehen?« schrillte er in den höchsten Tönen.

Dr. Barlow schüttelte gelassen den Kopf. »Nein, das kann ich nicht behaupten.«

Mr. Dinger, den Menons Ausbruch auf das höchste verwirrt hatte, wollte die Ruhe wieder herstellen. »Aber meine Herren, Sie sind in meinem Hause!«

»In Ihrem Hause!« höhnte Menon. »Ja, und ich bin Ihr Gast! Ist das bei Ihnen das Benehmen gegen Gäste?«

Plötzlich erinnerte sich Mr. Dinger Rudds und sagte mit nervösem Lachen zu Menon: »Ach ja, es ist noch einer da.«

Die Finger des ersten Offiziers bohrten sich in die Lehne seines Sessels, daß das Leder knirschte. »Wo?« fragte er.

Mr. Dinger rief: »Kommen Sie raus, Winters!« Rudd trat vor und nickte Menon zu. Dessen einzige Antwort bestand in einem häßlichen Blick, der aus Haß und Erleichterung zusammengesetzt war.

»Wollen Sie auch etwas ›beweisen‹?« fragte er höhnisch. Rudd biß sich auf die Lippen. Zu dumm, daß kein Augenzeuge da war. Jetzt kam es darauf an, den Gauner mit List und Vorsicht zu fassen.

Henry Dinger erhob sich auffallend hastig und sagte: »Ja, Onkel, ich glaube, wir gehen besser. Mr. Menon fährt mittags nach Hallifax, dort hat er Anschluß nach San Franzisko und –«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Eine Klingel schrillte. Gleichzeitig war Lärm vor der Eingangstür zu hören. Ärgerliche Worte von einem Hausmeister, darauf Schritte in der Halle. Und dann erschien zur größten Überraschung aller, keuchend und rot vor Eile, kein anderer als Normann.

»Normann!« rief Rudd. »Gott sei Dank!«

»Uff. Ich war den ganzen Weg dicht hinter euch. Bin mit dem nächsten Flugzeug gefahren, dem nächsten Zug, dem nächsten Schiff.«

In diesem Augenblick machte Menon, der sich bei dem Tisch zusammengekauert hatte, einen Satz der Tür zu. Dr. Barlow stieß einen scharfen Pfiff aus. Der Beamte und der Detektiv sprangen aus ihrem Versteck hervor. Bevor der Verbrecher ins Vestibül gekommen war, hatten sie ihn überwältigt und gefesselt.

Sprachlos stand Mr. Dinger in der Tür. Seinem Neffen schlotterten die Knie.

»Einen Augenblick, Mr. Dinger!« rief Barlow herüber, »ich muß erst sehen, ob unser Freund auch sorgfältig genug verpackt wird,« und er lief zur Tür und sah mit Aufmerksamkeit zu, wie der Gefangene in ein Auto befördert und zusammen mit zwei herbeigepfiffenen Polizisten und den Kriminalbeamten endlich abfuhr. Das letzte, was er von Mr. Menon sah, war ein aschgraues, wutentstelltes Gesicht, in dessen Augen deutlich das Gefühl zu lesen war: »Ausgespielt!«

Normann, Rudd und Barlow atmeten alle drei gleichzeitig tief auf, als der Wagen um die Ecke bog.

»Das hätten wir geschafft!« sagte Barlow. Die beiden anderen ließen sich schwer in die Stühle fallen. Es war ihnen, als dürften sie sich nach Wochen zum erstenmal ausruhen. Und während das Gesicht von Mister Dinger sich immer strahlender aufhellte und das seines Neffen immer gelber und länger wurde, erzählten die drei Männer, was hoch oben in der Arktis erlebt und erlitten war; beim Erzählen aber lichtete sich auch für sie selbst immer einfacher und logischer das ganze Gewebe des Gauners Menon, bis es auch für den ungläubigsten Zuhörer klar zutage lag, das »Geheimnis des ›Erik‹«.

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