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An einem frischen Morgen gegen Ende September kamen Rudd und Dr. Barlow, begleitet von einem Bundesbeamten und einem Detektiv vom kanadischen Geheimdienst in St. Johns, Neufundland, an. Der Doktor rief sofort ein Taxi heran und nannte dem Chauffeur die Adresse: das Haus Mr. Dingers, des Seniorteilhabers der Firma Dingers Brothers, Limited.
Bullock Dinger begrüßte sie selbst an der Tür seines großen Steinhauses. Er sah wie ein Schiffsreeder aus und hatte auch Jahre lang als sein eigener Kapitän alle Meere befahren.
»Mein Freund Barlow!« rief er und streckte beide Arme aus.
»Ja,« erwiderte der Doktor etwas trocken. »Ich möchte Ihnen Mr. Winters vorstellen, ein Mitglied unserer Expedition, wie Sie sich vielleicht erinnern. Das hier,« er zeigte auf den Beamten und den Detektiv, »sind Mr. Peel und Mr. Thorpe, Freunde von mir; ich habe mir erlaubt, sie mitzubringen.«
»Natürlich, natürlich.« Mr. Dinger verbeugte sich und rieb sich die Hände. »Treten Sie ein, meine Herren. Ich bin schon sehr begierig, mehr von Ihren wunderbaren Schicksalen zu hören.«
Der Doktor riß die Augen auf. »Mehr! – Sie wollen doch nicht sagen ...«
Bevor Mr. Bullock antwortete, machte er die Tür zu seiner prachtvollen Bibliothek auf. »Doch,« sagte er. »Ich will damit sagen, daß ich schon ziemlich viel von Ihrem Heroismus weiß. Noch in derselben Stunde, in der ich Ihr Telegramm aus Montral erhielt, kam Mr. Menon. Sie hätten hören sollen, wie er Ihr Loblied gesungen hat.«
Dr. Barlow biß sich auf die Lippen. Rudd machte ein albernes Gesicht. Der Beamte und der Detektiv standen ruhig da und warteten. Sie wußten nichts, als daß man ihre Dienste vielleicht brauchen würde. Mit einer leichten Bewegung seiner Schultern fand der Doktor seine Selbstbeherrschung wieder.
»Sie sagen also,« wandte er sich wieder an Mr. Dinger, »Menon hat Ihnen alles erzählt.«
»Nicht mir, genau genommen,« war die Antwort. »Die Sache ist vielmehr so: ich hatte bis jetzt noch keine Zeit, ihn zu sehen. Mein Neffe, der junge Henry, hat mir alles berichtet.«
»So,« sagte der Doktor nachdenklich. Es fiel ihm wieder ein, daß Henry Dinger, der jüngere Teilhaber der Firma es gewesen war, der sich im letzten Moment darauf versteift hatte, dem ›Erik‹ Menon als ersten Offizier mitzugeben.
»Ja,« ich habe die Sache Henry überlassen. Menon und die Mannschaft wurden, glaube ich, von einem Walfischjäger, dem ›Southern Groß‹ aufgenommen, nachdem der ›Erik‹ verloren gegangen war.«
»So, der ›Erik‹ ging verloren!« rief der Doktor aus und stellte sich sehr überrascht.
»Ja, richtig. Sie waren ja nicht mehr dabei, wie er vom Eis hinausgetrieben wurde. Er wurde vom großen Schub gepackt und ging bei einigen hundert Faden Tiefe unter.«
Der Doktor drehte sich zu Rudd herum und sagte: »Ach. Der arme, alte Kasten!«
Rudd biß sich auf die Zunge, um nicht laut herauszulachen. Etwas zu sagen traute er sich erst gar nicht.
»Aber Caverly?«, fragte der Doktor. »Wurde er – hm – gerettet? Das heißt, ist ihm etwas passiert?«
Mr. Dinger fixierte Rudd. »Wenn ich mich recht erinnere,« sagte er langsam, »ist Reginald Caverly fast ums Leben gekommen, dank Ihrem Freund Winters hier. Winters konnte ihn nicht leiden, nicht wahr – und hat dann tatsächlich auf ihn geschossen.«
Rudds Gesicht wurde flammend rot. Aber bevor er protestieren konnte, fing Dr. Barlow schnell zu sprechen an. »Ja, ich glaube, sie haben irgendwas miteinander gehabt. Aber, mein Gott, Dinger, Sie wissen ja, wie die jungen Leute sind.«
Der Reeder knurrte etwas zwischen den Zähnen und ging zu seinem Schreibtisch. »Da Sie hier sind, können wir ja gleich über die Chartepartie sprechen. Menon erzählte, daß Pike bereit war, mit Ihnen durch die Nordwestpassage zu gehen. Glauben Sie, daß das ein richtiges Vorgehen für einen Skipper ist?«
»Vielleicht. Was hat Menon sonst noch erzählt?«
Mr. Dinger sah den Doktor wütend an. »Noch einiges, Barlow. Und so ungern ich es auch ausspreche, ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen. Trotz allem, was Menon zu Ihrem Lob gesagt hat, ich kann es nicht sehr lobenswert finden, daß Sie den ›Erik‹ so ohne weiteres im Stich gelassen haben.«
Dr. Barlow ging schnell auf den Tisch zu, hinter dem Mr. Dinger stand. Seine Augen zogen sich zusammen und seine Stimme wurde hart.
»Dinger,« sagte er, mit Mühe an sich haltend, »erzählen Sie, was Sie zu erzählen haben und lassen Sie dann mich reden.«
Mr. Dinger war einen Augenblick lang verblüfft. »Soll das heißen, daß Sie was anderes zu erzählen haben? Also, Henrys Bericht war bestimmt eine ganz genaue Wiederholung von Menons Aufzeichnungen. Er sagt, Sie und Pike hätten in der Nähe von Boothia das Schiff auf der Barkasse verlassen und hätten Caverly mit der Botschaft zurückgeschickt, daß Sie weiter nach Westen vordringen wollen. Menon tat alles, um das Schiff zu retten, und manöverierte mit der größten Geschicklichkeit, bis es unter Kap Chidley vom Eis eingeschlossen wurde. Dem Glück und seinem Mut ist es zu verdanken, daß alle Mann vom ›Southern Groß‹ gerettet werden konnten.«
»Alle Mann?« fragte der Doktor.
»Ja, alle außer den Leuten, die mit Ihnen waren. Ach, ja, richtig, und dem zweiten Offizier Normann. Der arme Bursche, er verlor sozusagen den Verstand, als das Schiff ins Eis geriet, und versuchte, mit dem Motorboot zu entfliehen. Er wurde nie wieder gesehen. Da er weder Nahrung noch Brennstoff auf dem Boot hatte, ist er sicher verhungert und erfroren.«
Dr. Barlow blickte nachdenklich auf den Kamin. Dann schaute er zur Karte, die über dem Schreibtisch hing und fragte: »Sie sagen, der ›Erik‹ ist bei Kap Chidley untergegangen?«
»Unter Kap Chidley,« verbesserte Mr. Dinger, »Breite 59 Grad, 40 Minuten.«
»Also war es nichts mit der Versicherung.«
Mr. Dinger lächelte und rieb sich die dicken Hände. »Doch glücklicherweise ja. Wir haben den ›Erik‹ mit einer Police über fünfundsiebzigtausend Dollars gedeckt, und eine Zusatzbestimmung erweiterte die Haftung der Versicherungsgesellschaft bis zu 6o Grad nördlicher Breite.«
Jetzt war das Rätsel gelöst.
»Fünfundsiebzigtausend Dollars!« rief Rudd aus. »Das haben Sie für den Verlust des Schiffes bekommen?«
»Ja – das heißt, nicht die Firma, sondern mein Neffe Henry. Ich hatte ihm zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag den künftigen Ertrag des ›Erik‹ geschenkt. Durch einen Schicksalsschlag hat die Firma das Schiff verloren, während Henry ein Vermögen gewonnen hat.«
»Sehr hübsch,« nickte der Doktor freundlich. »Sagen Sie, wäre es Ihnen recht, wenn wir hier noch heute vormittag mit Ihrem Neffen und Menon zusammenkämen?«
Das zufriedene Lächeln Mr. Dingers verschwand. »Offen gestanden, nein, Barlow. Vielleicht später im Bureau? – und wozu eigentlich?«
Der Doktor warf dem Beamten und dem Detektiv einen bedeutsamen Blick zu und sagte: »Ach, nichts Besonderes – nur, dieser Gauner Menon hat eine der tollsten Sachen seit Dr. Cook gedreht.«
»Gauner!« Mr. Dinger sprang wütend hinter dem Tisch hervor. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß er mit meinem Neffen eng befreundet ist!«
»Zweifellos,« sagte der Doktor achselzuckend.
Mr. Dinger lief im Zimmer auf und ab, wie ein wildes Tier in seinem Käfig. Vor dem Doktor blieb er stehen und hielt ihm einen seiner dicken Finger unter die Nase. »Für diese Unverschämtheit werden Sie noch zahlen, Barlow. Ich werde die zwei jetzt hierher bitten.« Er griff nach dem Telephon.
Der Doktor lächelte. »Wird mich freuen. Wollen Sie mir jetzt noch einen Gefallen tun?«
»Was?« schnaubte Mr. Dinger wütend.
»Lassen Sie mich dort hinter der Tür stehen, wenn Menon kommt. Sagen Sie ihm, Sie hätten von mir gehört, daß er an Bord des ›Erik‹ Meuterei erregt und das Schiff gestohlen hat; und daß es auch nicht unterhalb von 60 Grad gesunken ist!«
Mr. Dinger ballte die Fäuste und öffnete den Mund, um diese weitere Beleidigung gegen den Freund seines Neffen zurückzuweisen. Dann schien er sich eines Besseren zu besinnen und sagte nur: »Meinetwegen, Barlow, Sie sollen Ihren Willen haben.«