Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11. Rudd behält recht

Sobald sie allein waren, machte Rudd sich an den Doktor.

»Sehen Sie,« erklärte er, »ich habe Reggie von Zeit zu Zeit immer wieder in Gesellschaft dieses Menon überrascht. Wenn wirklich die Absicht bestand, das Schiff zu stehlen und uns hier oben sitzen zu lassen, so hatte Caverly dabei die Aufgabe, den Vergaserschwimmer zu stehlen und uns dadurch hier so lange festzuhalten, bis der ›Erik‹ abgedampft war.«

»Das klingt nicht plausibel,« entgegnete der Doktor. »Erstens weil es nicht wahrscheinlich ist, daß Menon uns Proviant zurückgelassen hätte, wenn er uns im Stich lassen wollte, und zweitens will mir nicht in den Kopf, daß Caverly versucht haben sollte, uns hier festzuhalten, wenn er selbst dabei mit in Gefahr gerät.«

Rudd schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Ob ich recht habe oder nicht, auf jeden Fall kann es nichts schaden, ihn auf die Probe zu stellen. Sie wissen, was es heißt, hier zu überwintern. Malen Sie das Reggie in recht lebhaften Farben aus und geben Sie ihm dann eine Gelegenheit, mit dem Boot durchzubrennen. Wenn er eine Ahnung hat, wo er den ›Erik‹ erwischen kann, wird er mit beiden Händen danach greifen.«

Beim Frühstück erörterte Dr. Barlow die Aussichten für die Zukunft. »Ich sehe, daß wir Proviant für vier Monate haben,« begann er. »Wenn wir uns auf Halbrationen setzen, können wir unsere Vorräte auf sechs, eventuell auf acht Monate strecken. Aber wir werden gut daran tun, möglichst viel Fleisch für den Winter zu erjagen.«

»Einverstanden,« rief der Skipper. »Ich hab' schon mal eine Skorbutexpedition gehabt, und will das nicht nochmal durchmachen.«

»Bärenfleisch ist fein,« mischte Boggs sich ein. »Lassen Sie mich auf Bären gehen.«

Rudd grinste. »Oder die Bären auf Sie?«

Der Doktor hob die Hand. »Laßt das jetzt, wir müssen der Zukunft ins Auge schauen. Wir sind auf einer Breite von nahezu siebzig Grad. Der Juli wird bald vorüber sein. Im August fängt die Sonne an unterzukommen. Dann dauert es nicht mehr lange, bis die Finsternis da ist und mit ihr die Winterschneestürme. Unsere einzige Möglichkeit ist, hier zu bleiben, wo wir gute Jagdaussichten haben und Häute gegen die fürchterliche Winterkälte sammeln können. Sobald im Frühsommer Fahrstraßen frei werden, können wir dann – wenn wir Glück haben – von einem Walfischfänger aufgenommen werden.«

»Dafür haben wir jetzt herzlich wenig Aussichten,« bemerkte der Skipper. »Mit der Walfischjagd steht's sehr faul, seitdem überall das billige Öl auf dem Markt ist.«

»Ganz richtig, Pike. Aber wir müssen unsere Möglichkeiten nach allen Richtungen untersuchen und die wählen, die die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolg für sich hat.«

»Und was ist mit den Vorräten?« meldete sich plötzlich Reggie.

»Wir können uns aus den Holzstücken, die wir haben, eine Art Schlitten machen und die Vorräte über die Halbinsel herüberschaffen.«

»Aber werden wir denn nicht jedes Stück Holz brauchen, um ein Haus zu bauen?« fragte Rudd.

»Keine Spur. Sowohl der Kapitän wie ich können Eskimo-Iglus bauen, sobald der Schnee hübsch fest geworden ist. Bis dahin werden wir uns bemühen, einen Steinbau aufzuführen, so ziemlich in der Art, wie er bei der Bevölkerung von Nordgrönland in Gebrauch ist.«

»Vorläufig aber« – er sah Rudd bedeutsam an – »glaube ich, müssen wir Caverly an Bord lassen. Er fühlt sich noch schwach, und dann kann er auch im Boot aufräumen.«

Nach einer guten Mahlzeit – der Doktor hatte ein Schneehuhn geschossen – brachen die vier auf. Der Plan war, die Herde ganz einzukreisen, damit sie nicht ausbrechen könnte; so hatte man die Gewähr, mindestens ein oder zwei Tiere zur Strecke zu bringen. Kapitän Pike und Boggs wandten sich nach Norden, der Doktor und Rudd nach Süden, alle mit Gewehren versehen; beim Anstieg zu dem zirka fünf Meilen entfernten Plateau, das von allen Seiten deutlich zu sehen war, wollten sie sich wieder vereinigen.

Sobald der Doktor und Rudd hinter dem ersten Hügel außer Sicht waren, blieb dieser unter dem Gipfel stehen. »Ich werde hier bleiben, wenn's Ihnen recht ist, Doktor. Und sowie ich etwas Auffälliges am Boot bemerke, signalisiere ich Ihnen.«

Dieser Plan sah im ersten Augenblick nicht sehr geistreich aus. Dr. Barlow meinte, daß Reggie, wenn er tatsächlich durchbrennen wollte, in voller Fahrt sein konnte, bevor es Rudd gelang, ihn aufzuhalten.

Rudd war aber anderer Ansicht. »Das bezweifle ich,« sagte er. »Der Anker ist schwer; bevor er ihn hoch gekriegt oder das Kabel gekappt hat, kann ich am Strand sein und ihn mit meinem Gewehr abdecken. Da er weiß, daß ich meines Schusses sicher bin, wird er sich nicht trauen, loszufahren.«

So war der Doktor schließlich einverstanden gewesen; und nun sollte Reggie die Möglichkeit gegeben werden, mit dem ›Polarstern‹ zu tun, was Menon nach Rudds Ansicht mit dem›Erik‹ gemacht hatte; ihn stehlen und seine Kameraden verlassen.

Rudd postierte sich hinter einem überhängenden Granitfelsen, wo er das Verdeck des ›Polarsterns‹ im Auge behalten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Eine endlos scheinende Stunde saß er da. Ein- oder zweimal lief er, um sich zu erwärmen, gegen die Bucht gedeckt, neben dem Hügel auf und ab. Aber er hatte Angst, die Barkasse längere Zeit aus den Augen zu lassen; seine Verantwortung war zu groß.

Er betrachtete die Polarwüste, die sich vor ihm ausbreitete. Der Nebel hatte sich gehoben, und der Ausblick auf das Land ringsumher war jetzt klar. Der düstere Himmel oben hing so tief, daß es aussah, als könne man ihn mit ausgestrecktem Arm berühren. Kleine Wolken pudrigen Schnees jagten über die ebenen Flächen. Es war ein totes Land. Schnee war sein Leichentuch, Heulen des Windes und Scharren der Eisschollen sein endloser Grabgesang.

Rudd schüttelte sich. »Teufel auch! Einen ganzen Winter so!« stöhnte er. Plötzlich richtete er sich auf den Knien auf. Am anderen Ende der Senkung, genau südlich von ihm, tauchten in einer Entfernung von etwa tausend Yards etwa zwölf dunkle Kugeln auf. Erst sahen sie vollkommen rund aus; dann entdeckte er, daß alle kurze, fast ganz in Haaren versteckte Beine hatten, und erkannte, daß es Bisamochsen waren.

»Zu weit zum Schießen,« brummte er. Es kostete ihn schwere Überwindung, nicht Jagd auf sie zu machen. Der Wind war gerade richtig, so daß er gut zu Schuß kommen konnte; und gerade vor der Fläche, auf der die Tiere weideten, waren Bodensenkungen genug, die ausgezeichnete Deckung boten. Aber Rudds Pflichtgefühl verbot ihm, seinen Posten zu verlassen.

»Wo steckt nur der Doktor?« dachte er und suchte mit dem Glas die Richtung ab, in der dieser verschwunden war. Plötzlich erblickte er ihn zu seiner Befriedigung, wie er vorsichtig aus einer fast unsichtbaren Senkung hervorkam, um sich an die Ochsen heranzupirschen.

Voller Bewunderung sah Rudd ihm zu. Der Doktor hatte schon in den Rockies gejagt, in Südafrika, in China und in Tibet und besaß eine ausgezeichnete Jagdtechnik. Als er sich bis zu ungefähr fünfundsiebzig Yards an sein Wild herangeschlichen hatte, legte er sich nieder, um den ersten Schuß auf die nichts ahnenden Tiere abzugeben. Ein kleines Rauchwölkchen zeigte Rudd, daß der Doktor geschossen hatte, einige Augenblicke später war auch die Detonation zu hören.

Sofort warfen die Bisamochsen die Schädel hoch und gingen in Formation. Rudd hatte häufig von dem hohen Karree erzählen hören, das sie bilden, wenn sie angegriffen werden. Nun sah er eines. Fünf Bullen stellten sich in einen Halbkreis, Direktion gegen die Seite, von der der Schuß gekommen war. Hinter ihnen standen die Kühe mit den Kälbern. Kein Tier machte eine Bewegung; alle warteten darauf, ob der Feind seinen Angriff erneuern würde. Eines wankte – es war getroffen worden –, brach dann in die Knie und lag schließlich ruhig im weißen Schnee. Die anderen gaben kein Zeichen von Unruhe; die einzige Bewegung bestand darin, daß die vier übrigen Bullen die Zwischenräume zwischen sich vergrößerten, um die Lücke, die das erste Opfer gelassen hatte, auszufüllen.

Rudd wartete auf den Fall des nächsten. »Warum schießt er denn nicht?« rief er ganz laut. »Auf die Distanz!«

Aber kein Schuß kam. Durch das Glas konnte Rudd sehen, daß der Doktor an seinem Gewehr arbeitete. Der Verschluß schien zu klemmen. Und während er am Schloß herumriß, standen die Bullen ruhig da und versuchten gar nicht zu entfliehen. Plötzlich, zu Rudds Entsetzen, begannen sie vorzugehen.

»Verdammt noch einmal!« fluchte er.

Er wollte einen warnenden Schrei ausstoßen und setzte auch schon dazu an, hielt ihn aber im letzten Augenblick zurück. Erstens hätte der Doktor ihn auf diese Entfernung ohnedies nicht gehört; zweitens aber würde der Schrei sicher zu Caverly dringen, und damit wäre der schöne Plan, ihn bei seiner Schurkerei zu ertappen, erledigt gewesen.

»Ich werde ihm zu Hilfe kommen müssen,« schloß Rudd seine Überlegungen. Er bemerkte jetzt, daß die Ochsen mittlerweile den Doktor gesichtet hatten. Wie viele von Natur aus friedlichen Tiere fallen auch die Bisamochsen Menschen nicht an oder ziehen sich sogar zurück; wenn sie aber angegriffen werden und in Kampfeswut kommen, werden sie zu den gefährlichsten Bestien. Schon hatte sich einer der Bullen in Trab gesetzt und schwenkte den gesenkten Schädel mit den langen, gekrümmten Hörnern herausfordernd hin und her.

Rudd beschloß, zu Hilfe zu eilen. Die Gefahr, in der der Doktor schwebte, gab ihm gewiß das Recht, seinen Wachtposten zu verlassen. Er warf einen Blick auf den ›Polarstern‹ – – – Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Der ›Polarstern‹ war in Fahrt! Während er mit dem Doktor und den Ochsen beschäftigt war, hatte Caverly ungestört den Anker lichten können. Ein leichtes, puffendes Geräusch kam zu ihm herauf. Die Maschine war in Gang.

Rudd blieb das Herz stehen. Auf der einen Seite sein Freund in der fürchterlichen Gefahr, von den rasenden Bullen zu Tode getrampelt zu werden; auf der anderen der Verlust ihrer letzten und einzigen Möglichkeit, wieder in zivilisierte Gegenden und die Heimat zu kommen.


 << zurück weiter >>