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20. Im Schneesturm

Der ›Polarstern‹ wurde mit Petroleum versehen, das für die Fahrt zum Lager auf der anderen Landseite reichte. Dann wurde aller verfügbare Laderaum, auch ein Teil des Decks, mit Proviant beladen, unter anderem mit Fleisch, das man, wie der Doktor sagte, zum Teil dazu verwenden konnte, sich bei den Eskimos für ihre Hilfeleistungen zu revanchieren.

Die kurze Fahrt verlief ohne Zwischenfall. Man kam an einigen Walroßherden vorüber, machte aber deshalb nicht Jagd auf sie, weil man keine Möglichkeit hatte, das Fleisch zu landen. Es wäre nicht nur nutzlose Munitionsverschwendung gewesen, sondern auch ein Verstoß gegen das ungeschriebene Gesetz der Arktis.

Kapitän Pike wurde von Normanns Erzählung über den ›Erik‹ sehr erregt. »Ich habe einen Verdacht,« sagte er wütend; »ich kann ihn jetzt in der Eile nicht auseinandersetzen. Aber laßt mich nur zurückkommen, dann will ich diese Piratenbande hinter Schloß und Riegel haben, ehe ihr bis drei gezählt habt.«

Der Doktor war nicht seiner Meinung. »Ich halte Menon für viel zu gerissen, als daß er uns eine Möglichkeit lassen würde, ihn Lügen zu strafen, wenn wir zurückkommen.«

Normann schloß sich dem Doktor an. »Wir dürfen auch nicht vergessen, wie sehr er darauf bedacht ist, die Mannschaft über den wahren Stand der Dinge im dunkeln zu halten. Sie werden ihn fast einmütig stützen, weil er ihrer Ansicht nach Schiff und Mannschaft gerettet und in Sicherheit gebracht hat.«

Der Doktor lachte bitter. »Es ist die alte Geschichte, Pike: Ein Schurke wie Menon weiß sehr wohl, wenn er nur den Anschein erwecken kann, daß er zum Besten seiner Gesellschaft gehandelt hat, so ist das Schlimmste, was ihm vorgeworfen werden kann, daß er sich in der Lage geirrt hat. Immer wird er nachweisen können, daß er das Beste gewollt hat.«

Aber der Skipper war hartnäckig. »Ich lehne es ab, noch weiter darüber zu diskutieren,« sagte er schließlich. »Ich bin über einiges informiert, was Sie nicht wissen. Lassen wir einstweilen die Sache ruhen. Es hat vorläufig keinen Sinn, darüber zu reden.«

Von nun ab durfte in Gegenwart des Kapitäns von seinem Schiff nicht mehr gesprochen werden.

Dr. Barlow gab sich die größte Mühe, alle in ununterbrochener Tätigkeit zu erhalten. Nicht nur, weil man keinen Augenblick versäumen durfte, sich mit der größten Sorgfalt für den Winter vorzubereiten: er wußte, welche fürchterlichen Wirkungen Untätigkeit und trübe Gedanken in der Arktis auf den Menschen ausüben können.

Ein Beispiel von dem, was in der Zukunft bevorstand, hatte man eine Woche nach der Rückkehr vom Proviantlager. Einer der gewöhnlichen Schneestürme hatte sich im Südwesten zusammengezogen und brach mit großer Gewalt los, während alles schlief. Boggs weckte seine Gefährten mit dem Schrei: »Ich ersticke!«

Rudd fuhr hoch und war fast im gleichen Augenblick unter Massen von Schnee begraben. Trotz der geschützten Lage der Hütte war der rasend herumwirbelnde Treibschnee hereingedrungen und lag schon fast einen Fuß hoch.

»Teufel, was ist denn los?« schrie Normann und sprang mühsam auf. Auch der Skipper stieß ein Wutgeheul aus, das einem zornigen Walroß Ehre gemacht hätte.

»Alles auf!« schrie der Doktor. »Zugefaßt! Raus mit dem Zeug!«

Sie brauchten fast eine Stunde dazu, den Raum und die Decken von dem Schnee zu befreien. Aber auch dann noch blieb alles durchnäßt. Da draußen die Wut des Schneesturms immer mehr zunahm, konnte nur in der engen und finsteren Hütte gearbeitet werden. Sie war an sich schon kaum groß genug für die vier, die sie gebaut hatten. »Je größer das Haus ist, desto schwerer hat man's mit dem Heizen,« war des Doktors Losung gewesen. Aber jetzt, da einer mehr da war, Normann, und alle die Häute und Vorräte, schlug und stieß natürlich jeder den anderen, und die Folge war ein gegenseitiges Geschimpfe und Gelächter.

.

Den ganzen Tag über hielt der Sturm an. Sich mehr als ein paar Schritte von der Hütte zu entfernen war gefährlich. Der Wind blies mit solcher Heftigkeit, daß es unmöglich war, sich gegen ihn auf den Füßen zu halten. Der Treibschnee war eine Mauer aus grauer, wirbelnder Dunkelheit, die jeden blind machte.

»Wo sind denn die Eskimos?« fragte Rudd besorgt.

»Unter der Schneewehe dort um die Ecke begraben,« antwortete der Doktor. »Sie sind daran gewöhnt und können so was eine Woche lang aushalten, ohne daß es ihnen etwas ausmacht.«

Der nächste Morgen war klar und hell. Das Land hatte sich verwandelt. Die grünen Grasflecken und der Polarmohn waren verschwunden, sie lagen unter dem Schneemantel, der funkelnd und glitzernd Fels und Erde überdeckte. Die Eskimos, die während des Sturmes die längste Zeit geschlafen hatten, kamen, lachend und fröhlich wie immer, zum Vorschein. Einer von ihnen wandte sich an Kapitän Pike und sagte ihm, daß sie mit den Weißen essen wollten. Dieser Wunsch wurde selbstverständlich erfüllt. Nach der Hilfe, die sie beim Einholen des ›Polarstern‹ geleistet hatten, hatten sie sich eine Einladung zum Essen redlich verdient.

»Sie klagen, daß ihr Fleisch zu Ende ist,« sagte der Skipper, »und wollen, daß wir ihre Hunde füttern.«

Rudd konnte das nicht begreifen. »Aber sie müssen doch eine Tonne Fleisch gehabt haben, was ist denn aus dem allen geworden?«

Die braunen Jäger erklärten protestierend, daß es ganz aufgebraucht sei. Sie hatten die Hunde während des Schneesturms so viel fressen lassen müssen, als die Tiere nur wollten, obgleich sie gar nicht arbeiteten.

Der Doktor nahm ihre Partei. »So ist der Eskimo nun mal, Pike. Er legt Vorräte an der Küste an, wenn er außerstande ist, das Fleisch nach Hause zu transportieren. Aber seinen Verbrauch so einzurichten, daß er mit dem Fleisch auskommt, bis er neues beschaffen kann – das ist zu viel für ihn, so weit kann er nicht denken.«

Der Skipper war wütend. »Dann sollen diese Hornochsen eben verhungern. Erst fressen sie sich an, daß sie sich nicht rühren können, und eine Woche später müssen sie ihre Hosen zum Frühstück kochen.«

»Seien Sie nicht zu hart gegen sie, Pike, es sind doch Kinder. Denken Sie nur: keine Schule, kein Gesetz außer dem der Notwendigkeit, keiner, der ihnen etwas sagt, außer ihrem Gewissen und dem Hunger. Ist es da ein Wunder, daß sie sich ein Leben mit genauer Einteilung wie das unsere nicht einmal vorstellen können?«

Pikes Vernunftgründe machten auf die Eingeborenen nicht den geringsten Eindruck. Sie lungerten herum, bis sie eine tüchtige Portion Tee bekommen hatten, und sprangen dann verdrießlich auf ihre Schlitten, um nach Süden aufzubrechen.

Rudd sagte dem alten Burschen, der während der gemeinsamen Jagdtage sein Lehrer gewesen war, ein wenig wehmütig Lebewohl.

Der Jäger ergriff nach Art der Weißen Rudds Hand und lächelte. Dann holte er eine Robbenhautleine von seinem Schlitten und schenkte sie seinem weißen Freund. So hat es der Mann seit jeher gemacht; wenn die Sprache versagt, redet die Gabe.

Rudd sah schweigend zu, wie die Schlittenreihe den Hügel hinaufkroch. Er hatte das Gefühl, daß er diese wunderlichen Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren, nicht wiedersehen würde.


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