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Nach dem Abzug der Eskimos wurde Kriegsrat über die Verwendung des ›Polarstern‹ abgehalten. Zwei Ausflüge waren zum Proviantlager gemacht worden, und man hatte jetzt soviel Vorräte in der Hütte, daß man den größten Teil des Winters auskommen konnte.
Der Doktor entwickelte seine Ansicht. »Die Gefahr liegt in folgendem: wenn eine Hälfte unserer Vorräte hier und die andere fünfzig Meilen von hier weg ist, müssen wir ständig in Unruhe sein, ob der Teil dort auch sicher ist. Bären können noch einmal kommen und noch mehr Schaden anrichten. Es ist möglich, daß Eis auf den Strand getrieben wird und die Kisten weiterschiebt. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß es im August zu tauen anfängt und das Lager überschwemmt wird. Alles Mögliche kann es notwendig machen, daß wir die Vorräte bei uns haben.«
Der Skipper schüttelte den Kopf und widersprach. »Das ist mir alles egal: wir müssen Brennstoff sparen, zum Kochen einerseits, und dann, damit wir in der nächsten Sommersaison uns mit dem ›Polarstern‹ auf den Weg machen können.«
Normann wies darauf hin, daß man, auch wenn man die Tour unter Segel machen wollte, Maschinenkraft verfügbar haben müsse, falls man ins Eis gerate. »Außerdem,« führte er noch an, »wenn wir dann unterwegs sind, ist es von größter Bedeutung, genug Petroleum zum Kochen zu haben, damit wir jederzeit warmes Essen machen können.«
Schließlich ging der Vorschlag durch, den Boggs machte. Er hielt es für möglich, daß man sowohl die Hin- wie die Rückfahrt unter Segel machen und gleichzeitig noch Walrosse jagen könnte.
»Also gut,« stimmte der Doktor schließlich zu. »Rudd und Normann sollen mit Boggs losfahren, und der Skipper und ich werden inzwischen das Lager hier weiter in Ordnung bringen.«
»Nein, nein,« brummte der Skipper. »Ich habe jetzt für eine Zeitlang genug von dem Im-Lager-Hocken. Ich muß mich mal umsehen. Außerdem,« er sah zu Normann hinüber, »glaube ich nach dem, was der junge Herr da erzählt hat, daß das Schiff irgendwo hier in der Nähe steckt.«
Normann war ganz erstaunt. »Ich kann nicht einsehen, wieso, Kapitän. Der ›Erik‹ war in Fahrt und hatte Kurs nach Süden – ich habe es gesehen.«
»Oh, all right – all right! Aber trotzdem will ich mal selber Ausschau halten, und deshalb fahre ich.«
»Ich glaube, ich auch,« lachte der Doktor. »Ich will nichts versäumen.«
So kam es, daß der ›Polarstern‹, als er unter seinem gebrechlichen Segel ausfuhr, die ganze Gesellschaft an Bord hatte. Und eine fröhliche Gesellschaft war es. Alle waren entschlossen, aus dem, was das Schicksal über sie verhängt hatte, alles Gute herauszuholen. Und wenn ihnen auch ein harter Winter bevorstand, sie waren überzeugt, daß sie am Leben bleiben würden, um noch davon erzählen zu können.
Gegenwinde machten die Fahrt länger, als man vorausgesehen hatte. Auch wurden an zwei Punkten Walrosse erlegt, und das Landen und Unterbringen des Fleisches nahm fast drei Tage in Anspruch. Infolgedessen war nicht viel weniger als eine Woche verstrichen, als man den ›Erik‹-Hafen erreichte.
»An die Arbeit, Jungens,« sagte der Doktor, als sie an dem wohlbekannten Strand landeten. »Wir müssen schnell alles an Bord bringen. Mit jedem Tag, den wir hier bleiben, vergrößert sich die Gefahr, daß wir auf der Rückfahrt Schwierigkeiten haben. Die Eisverhältnisse ändern sich über Nacht. Ich glaube nicht, daß der Skipper den Weg zu Land machen will.«
»Das stimmt schon,« erwiderte der Skipper, »aber trotzdem muß ich jetzt gleich einen kleinen Weg für mich selber machen.« Er drehte sich um und marschierte auf den Hügel, von dem der ganze Golf zu übersehen war.
Als Pike außer Hörweite war, sagte der Doktor teilnahmsvoll: »Der arme, alte Bursche! Der Verlust seines Schiffes geht ihm viel näher, als er sich merken läßt.«
»Das will ich meinen,« rief Normann, »nachdem diese Gaunerbande es ihm direkt unter der Nase weggestohlen hat.«
Plötzlich drang ein schwaches Hallo zu den Redenden herunter.
»Der Skipper ruft uns an,« sagte Dr. Barlow. »Seht zu, ob ihr ihn verstehen könnt.«
Wieder erscholl der lange, kehlige Ruf des alten Seemanns.
»Er zeigt auf irgend was, Sir,« sagte Boggs.
»Auf was denn?« fragte Rudd und lief zur nächsten Anhöhe. Sein Herz schlug schneller, und eine seltsame, würgende Erregung saß ihm in der Kehle. Aber nicht um alles in der Welt hätte er erklären können, warum.
Der Skipper kam sehr erschöpft herangetrabt.
»Schöne Aussicht von da oben,« sagte er gelassen.
Der Doktor packte ihn an den Schultern. »Hören Sie auf, Pike. Was haben Sie gesehen?«
»Nur den ›Erik‹!« riefen alle vier einstimmig.
Im nächsten Augenblick rannten Rudd und Normann wie verrückt zum Hügel. Sie mußten sich selbst davon überzeugen, daß das Schiff in Sicht war. Und ihre Herzen klopften bei der Aussicht, daß sie nun doch nach Hause kommen sollten, ohne im Norden überwintern zu müssen.
»Er ist's!« rief Rudd, als er einen Blick durch sein Glas geworfen hatte. »Ich kann die Masten sehen, die Brücke und den Schornstein. Er ist dort hinter dem großen Eisberg.«
»Jawohl!« schrie jetzt auch Normann, der es bis zum letzten Augenblick nicht hatte glauben können. Aber seine Freude verschwand ebenso schnell wie sie gekommen war. »Aber was hilft uns das, wenn diese verdammten Schufte an Bord sind?«
Als die zwei ins Lager zurückkehrten, waren die anderen auch schon zu derselben Anschauung gekommen. Dr. Barlow war der Meinung, man sollte an Ort und Stelle bleiben, bis man wüßte, was das Schiff hier suchte.
»Wenn es unterwegs ist, können wir's unmöglich einholen. Und wenn es uns holen will, wird es ja ohnedies herkommen.«
»Wir dürfen nicht warten,« jammerte Boggs. »Ich will zurück und den Tabak holen, den ich in meiner Koje gelassen habe. Wahrscheinlich hat ihn schon irgendein Lump geklaut.«
Der Doktor wies darauf hin, daß es Menon nicht schwer fallen würde, sie vom Schiff fern zu halten, wenn er sie nicht an Bord haben wollte.
»Unsere Ankunft könnte ihn höchstens dazu treiben, die verzweifeltsten Mittel anzuwenden, um uns los zu werden.«
Der Skipper gab ihm recht. »Wenn sie den Mut hatten, zu meutern und das Schiff zu stehlen, werden sie auch nicht davor zurückschrecken, den ›Polarstern‹ in die Luft zu sprengen, wenn wir versuchen, an Bord zu kommen, und sie uns nicht haben wollen.«
Der Doktor hob die Hand auf. »Also keine Überstürzung! Das Schiff ist noch so weit, daß wir Zeit genug zum Überlegen haben. Wenn es herkommt, können wir uns noch immer hinter den Hügel verstecken.«
Es wurde also zunächst nichts unternommen. Man bereitete in aller Ruhe das Abendessen: Walroßfleisch, Zwieback und Tee. Während das Fleisch sott, schafften Normann und Rudd Petroleum an Bord des ›Polarstern‹ und füllten seine Tanks bis zum Rande.
»Die Sache ist ein bißchen aufregend – was?« meinte Rudd.
»Freilich,« sagte Normann. »Ich komme mir vor, als gehörte ich zu einer Seeräubergeschichte, in der der Feind immer mit meinem Schiff und meinem Geld abhaut und ich mich aus allen verzwickten Situationen an meinen Stiefelstrippen herausziehe.«
Die Unterhaltung während des Essens war stockend. Alle starrten auf die Stelle des eisblinkenden Horizonts, wo der ›Erik‹ lag. Manchmal waren seine Masten schwach zu sehen, und oft verschwand er hinter einem großen Eisberg.
»Der Teufel soll mich holen, wenn Sie nicht recht haben,« rief plötzlich der Doktor. »Wenn wir nicht bald was von Bewegung an ihm sehen, glaube ich, fahren wir zu ihm raus.«
»Es ist vielleicht besser, bis später zu warten,« schlug Normann vor. »Wir könnten uns dann an sie heranschleichen und sie überraschen.«
»Das bezweifle ich,« widersprach Dr. Barlow. »Die Leute würden wach werden und die Reling besetzen, lange bevor wir einen Angriff machen könnten. Vergessen Sie nicht, daß wir in der Arktis sind und auch um Mitternacht bei vollem Tageslicht angreifen müßten.«
Während die Sonne in den langen Abendstunden tiefer und tiefer sank, beobachtete die kleine Gesellschaft aufgeregt das Schiff. Um elf Uhr stand die Sonne nur zehn oder fünfzehn Grad über dem Nordhorizont. Ein zarter rosiger Schimmer färbte Hügel und Eis. Der Wind hatte sich gelegt. Das Schweigen des Sommers lag über dem friedlichen Bild.
Plötzlich sprang der Doktor von der Zwiebackkiste, auf der er sich eine halbe Stunde lang gekrümmt und gewunden hatte. »Ich kann das nicht länger aushalten! Versuchen wir unser Glück und fahren wir los!«
Sein Vorschlag wurde mit Freuden angenommen. Fünf Minuten später waren sie an Bord des ›Polarstern‹ und unterwegs zum ›Erik‹.