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II. Beim Zahnarzt

Frau Lemke hatte in der Nacht wieder entsetzliche Zahnschmerzen gehabt, und in dieser Nacht war sie zu der Überzeugung gekommen, daß die ganze Hausapotheke mit all ihren Mitteln »man bloß Schund« sei.

»Et fangt schon wieda an, Willem«, hatte sie gesagt, kaum daß Herr Lemke ihr den Senfspiritus oder die spanische Fliege aus dem Medizinkästchen geholt.

»Et is een rechtet Unjlick mit dia,« sagte ihr Mann, »du hattest doch sonne scheenen Zehne, als ick dia kennen lernte. Aba ick jlobe, du hast zu ville Sißigkeeten jejessen, oda et kommt ooch von die sauren Jurken!«

Er war so müde, daß ihm die Augen zufielen, aber wenn er sich wieder legen wollte, begann seine Frau so zu jammern, daß er auf der Bettkante sitzen blieb, um sofort wieder hilfsbereit zu sein.

»Stöhne doch nicht so, Anna« – sagte er schließlich ganz verzweifelt, »det hilft ja doch nischt. Nimm lieba meen Taschenmesser oder die Schere und stekere mal den Zahn mit, vielleicht kriejt er denn 'n Schreck und hört uff!«

»Ick hab' det Biest ja schon mit 'ne Haarnadel jepolkt, aba det hat janischt jenutzt«, wimmerte Frau Lemke.

»Denn weeß ick nua noch een Mittel« – sagte Herr Lemke – »ick werd' dia aus't Kichenspinde 'n ollen Brotkanten holen, den hälste uff den hohlen Zahn und denn beißte mal tichtij druff!«

Und ohne ihre Antwort abzuwarten, tappte er sich in der Dunkelheit durch den Korridor und kam nach langem Rumoren draußen in der Küche mit einem Stück steinharten Brotes zurück.

»So – nu wird's jleich uffhören«, sagte er tröstend. Und dann beobachtete er, wie Frau Lemke mühsam den geschwollenen Mund öffnete, den Kanten hineinklemmte und entschlossen zubiß.

Der Effekt war ziemlich überraschend. Herr Lemke erinnerte sich am andern Morgen, daß seine Frau im nächsten Augenblick in der entgegengesetzten Ecke der Schlafstube den Versuch machte, am Ofen hochzuklettern und daß sie gleich darauf mit Gewalt den Kopf unter ihr Bett zwängte.

»Anna – Anna –« sagte er entsetzt, »wat wiste denn da unten, du wirst dia akälten.« Als er sich aber näherte, telegraphierte sie ihm durch heftiges Schwenken ihres Beines, daß es nicht ratsam für ihn sei, auch nur einen Schritt weiterzukommen.

»Jott und Vata« – sagte Herr Lemke kummervoll, »is det hia schon eene vaflixte Zucht bei uns! An'nere Leite schlafen jetz ruhij und friedlich, und wia missen hia son Theata machen. Und det is nu seit vierzehn Tajen jede Nacht so!«

Er bekam keine Antwort – hörte auch kein Stöhnen. Bis dann plötzlich Frau Lemke mit einem Ruck wieder im Bett saß und sich mit der Faust an die Backe schlug.

»Feste – feste,« ermuntere Herr Lemke, »hau det Biest, bis et wacklij is! Soll ick dia villeicht 'ne Strippe dranbinden und mal ziehen?«

»Wej – jeh wej –« schrie ihn seine Frau mit so furchtbarer Stimme an und machte dabei so haßerfüllte Augen, daß Herr Lemke ganz entsetzt zurückwich.

»Denn jeh ick raus und setz mia lieba in die Kiche« – sagte er beleidigt. »Ick kann den Rummel hia nich mehr mit ansehen, sonst steck ick mia an und krieje ooch Zahnschmerzen.«

Frau Lemke weinte. »Ick wer' ja noch varickt, ick komme ja um vor Schmerzen, wenn't doch man bloß erst Taj wär', det ick bein Dokta jehen könnte!«

Und dann schwur sie – es war ein feierliches Gelübde – Herrn Lemke wurde ganz sonderbar dabei ums Herz: »Morjen fackle ick nu nich länga und wenn er mia ooch sämtliche Zähne rausreißt, Amen!«

Es war, als habe der Zahn nur auf dieses Gelübde gewartet. Frau Lemkes Wimmern verstummte allmählich, sie streckte sich und begann leise zu schnarchen.

Herr Lemke aber schrieb diesen wunderbaren Erfolg dem Brotkanten zu und beschloß, das Mittel allen Zahnschmerzlern zu empfehlen. »Zuerst wird's ja 'n bisken dolla, aba denn härt's uff« – sagte er und kroch befriedigt unters Deckbett. – – – – – – – – –

Am andern Morgen erinnerte sich Frau Lemke nur noch mühsam ihres nächtlichen Schwurs. Sie befühlte den kranken Zahn vorsichtig mit der Zunge und sagte: »Weh tut er eejentlich nich mehr, aba er is 'n janz Sticke jrößer als die an'nern Zehne!«

Nachher aber, als sie beim Kaffe saß und eben die eingeweichte Semmel in den Mund gesteckt hatte, sprang sie, wie von der Tarantel gestochen, plötzlich auf. »Ick hab' ma wieda druffjebissen – ojottojottodoch!«

»Det schadt ja nischt – denn hört's ja jleich wieda uff –« beschwichtigte Herr Lemke, »hab' man bloß 'n bisken Jeduld!«

Aber Frau Lemke wußte, daß diese Schmerzen jetzt die Strafe für ihren vergessenen Schwur waren, und daß sie von ihrer Qual nur befreit werden könnte, wenn sie ihr Gelübde erfüllte.

Mit einem Gemisch von Bewunderung und Grauen beobachtete dann Herr Lemke aus dem Hintergrund, wie es seine Gattin plötzlich sehr eilig hatte, sich den Zangen des Zahnarztes auszuliefern. Man hätte darüber im Zweifel sein können, ob sie eigentlich schon frisiert gewesen war – jetzt machte sie diesen Zweifeln ein Ende, setzte sich – als wäre es der gut passende Deckel zu einem Topf – den Hut auf, nahm ihre Mantille – gleich den spanischen Stierkämpfern – nur auf eine Schulter und verließ, noch die gestickten, bunten Hausschuhe an den Füßen, ohne Adieu die Wohnung.

Im Sturmschritt sahen sie dann die Leute aus der Nachbarschaft bis zur nächsten Straßenecke marschieren und in dem Hause dort verschwinden. Auf der Treppe bemühte sie sich, etwas ruhiger zu werden, und ehe sie bei Dr. Beck klingelte, parlamentierte sie zum letztenmal mit dem Zahn.

»Wiste jetz uffhören – freiwillig – oda nich?«

Nein, er wollte nicht, gut, so sollte er sterben. In dem Augenblick aber, da sie das Wartezimmer betrat, wurde der Zahn schmerzlos – er verstellte sich und tat, als wäre er kerngesund, obwohl sie ihn mit einem Streichhölzchen malträtierte und reizte. Wenn sie gewußt, wie sie mit Anstand wieder aus dem Wartezimmer hätte kommen können, wäre sie jetzt sofort wieder nach Hause gegangen, aber da saßen ringsum auf den Stühlen andere Leidtragende, die in Albums und Zeitschriften blätterten und so behaglich und zufrieden taten, als säßen sie in einer Konditorei. Nun betrachteten sie plötzlich alle Frau Lemke und lächelten schmerzlich.

»Schafsköppe!« dachte sie – ging gelassen auf das Polsterrondell mitten in der Stube zu, nahm – sozusagen – den Ehrenplatz ein und drapierte den Rock über den Morgenschuhen, die ihr nun selbst ein bißchen zu bunt vorkamen.

Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich allmählich wieder der Tür des Nebenzimmers zu. Wer dort herauskam, zeigte ein eignes Dulderlächeln oder preßte das Taschentuch vor den Mund. In seinen Mienen suchten dann alle ihr eignes Schicksal zu lesen, aber der Patient tat nun ebenso geheimnisvoll wie der elegante Herr Doktor Beck, der jedesmal verbindlich lächelnd, eine Kollektion Musterzähne entblößte. Und hinter ihm – durch die Türspalte konnte man ihn sehen – stand jener Stuhl, auf dem man »erlöst« wurde.

Frau Lemke verfiel allmählich in eine Art Dämmerungszustand – sie wunderte sich, daß die Reihe plötzlich schon an ihr war, daß sie jetzt in dem Nebenzimmer stand und ihre Leidensgeschichte erzählte. Aber auf alles, was sie da sagte, machte der elegante Herr Doktor nur immer einladende Handbewegungen nach dem Stuhl.

»Ja, ick setz' mia ja schon uff det kleene Schaffot, lassen Se mia doch aba mal erst azehlen, sonst reißen Se mia nachher 'n falschen raus –« sagte sie entmutigt. »Et is villeicht bloß nötij, det Se den Nerv töten oda 'ne Plombe rinmachen, et brauch ja nich imma jleich jehauen und jestochen zu sind!«

Doch da saß sie schon auf dem Stuhl, sah die Kollektion blendender Musterzähne plötzlich dicht vor sich, fühlte eine kräftige Hand an ihrem Hinterkopf und wurde zugleich dringend ersucht, den Mund nicht immerfort auf- und zu-, sondern nur aufzumachen.

Etwas Grausames, Hartes, Kaltes umklammerte plötzlich den Quälgeist – und dann war's geschehen!

Verstört blickte Frau Lemke auf den eleganten Herrn Doktor, der lächelnd ein blutiges Knöchlein auf die Marmorplatte des Tischchens legte.

»Wo kann ick 'n 'mal ausspucken?« brachte Frau Lemke mühsam hervor, als aber der Doktor auf das hübsche, blaue Glasgefäß neben dem Stuhl zeigte, gab sie ihm pantomimisch zu verstehen, daß ihr dieses zum Ausspucken doch zu schade sei.

Da sie der Doktor jedoch in liebenswürdigster Weise ermutigte, ließ sie sich nicht länger nötigen, »wenn schon – denn schon«, sagte sie innehaltend, »uff die Rechnung kommt's ja doch!«

Und dann ging sie nach dem Tischchen und nahm das blutige Knöchlein an sich. »Sehste, da biste,« sagte sie, »nu seh ick dia ma' endlich – du vaflixtes Biest du! Und so'n Dreck kann een jahrelang pisacken und die Nachtruhe stören, soll man det for möjlich halten?«

Sie nahm ihr Taschentuch vor und knüpfte den Zahn hinein. »Den laß ick mia in'n Ring fassen zum ewijen Anjedenken!«

»Es werden noch mehr dazukommen«, sagte Herr Doktor Beck.

»Woso?« fragte sie erschrocken und stocherte mit der Zunge im Mund, der ihr »janz an'ners« vorkam.

»Es wäre sehr gut, wenn Sie den ganzen Mund in Ordnung bringen ließen, die Zähne sind in einem sehr vernachlässigten Zustand, und über kurz oder lang wird sogar ein künstliches Gebiß notwendig sein!«

»Hach, du lieba Jott und Vata –« sagte Frau Lemke, »det sind ja nette Aussichten – und ick dachte, ick bin die janze Schohse nu for imma los!«


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