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XVI

Edwin kriegt Nachhilfestunden

In den nächsten Tagen hatte man dann versucht, so rasch wie möglich ins gewohnte Geleise zu kommen. Und die Arbeit, die alle erwartete, zwang die Traurigkeit nieder.

»Bloß Jroßvata jefällt mia janich«, sagte Herr Wilhelm Lemke, »der sitzt, so ofte man bei ihn rauskommt – ejal in seenen Winkel und sprecht mit sich selba!«

»Ja, da muß ooch wat jeschehen«, sagte Frau Lemke. »Det kann man ja begreifen, nu hat er keenen Menschen mehr, mit den er reden kann!«

»Ick werd bei ihn rausjehen und ihn uffheitern –«, schlug Onkel Karl vor, aber dieser Vorschlag wurde abgelehnt.

»Mit dia ha' ick sowieso ßu sprechen«, sagte Frau Lemke drohend, »du hast mia ja wieda nette Jeschichten jemacht und mia wat Scheenet injebrockt.«

»Woso?« sagte Onkel Karl und riß die Augen auf.

»Ja – kiek man so! Man braucht hia bloß mal den Ricken ßu drehen, denn brockst du eenen ooch wat in! Wer hat dia denn jeheeßen, bei Edwins Lehra ßu jehen und da jroße Reden ßu reden? Dunnemals, woste in die Jemeendeschule jeloofen bist, ha' ick nachher for dia und deene Niedaträchtichkeeten Abbitte leisten missen, und nu rennste wieda bei den Dokta Barth und spielst dia da als Bevollmächtichta uff! Wer hat dia denn die Vollmacht jejeben?«

»Die hatt ick!« sagte Onkel Karl voll Überzeugung. »Ihr wart alle wech, und die janze Last ruhte uff meene beeden Schultern! Ick möchte ibrijens jerne wissen, wer dia det jestochen hat?«

»Den Edwin«, sagte Frau Lemke und wandte sich zu ihrem Mann, »den Edwin werden se aus't Jimnasium schmeeßen. Der hat Arrest jekricht, und den hat er nich abjesessen, und denn hat er ohne Entschuldjung drei Tare jefehlt, und denn is Karrel dajewesen und hat Radau jeschlaren – –«

»Det war schon vorher«, unterbrach Onkel Karl, »und ick hatte mia doch schon vollständich mit den Herrn Lehra jeeinicht, det Edwin Nachhilfestunden kriejen sollte!«

»Mia laßt jefällichst ßufrieden,« sagte Herr Lemke, »mia jeht det nischt an, und ick will ooch nischt von wissen. Ick bin von Anfang an jejen die hohe Schule jewesen! Wat broocht Edwin Jriechisch und Lateinisch ßu lernen, wenn er mal det Jeschäft ibanehmen soll – hat er ja janich netich!«

»Reljon is natierlich die Hauptsache«, sagte Onkel Karl, »aba fremde Sprachen sind ooch wat wert. Wenn ick beispielsweese Jriechisch jelernt hätte, denn wirde ick ...«

»Ja – ja – du wirdest –«, sagte Frau Lemke, »wat wirdest du ibahaupt nich, wenn man dia so losließe – bloß vanünftich wirste nich!«

»Nee?« fragte Onkel Karl – aber dieser Vorwurf schien ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen zu haben, denn sein Gesicht färbte sich und wurde kirschrot. »Willem«, sagte er, »is det deene Ansicht ooch, det ick so langsam vadussele?«

»Jescheiter wirste jrade nich«, sagte Herr Lemke, »macht det aba man mit eich selba ab und laßt mia jefällichst ßufrieden!« Damit steckte er die Hände in die Hosentaschen und ging in den Garten.

Auch Frau Lemke wollte gehen. »Man hat so ville ßu tun, det man nich weeß, wat man zuerst machen soll – und da muß ick nu allet stehen- und liejenlassen und ßu den Lehra loofen –«, sagte sie wütend.

»Et war ja det letztemal«, sagte Onkel Karl, »von heite ab sollste dia nich mehr ßu beklaren haben – det schwöre ick dia!«

»Ach –«, machte Frau Lemke mit einer verächtlichen Handbewegung, »deene Schwüre, die kannste dia sauakochen lassen!«

»So – also ick schwöre«, sagte Onkel Karl und salutierte wie ein Soldat mit der Hand. »Een Mann, der wie ick so lange uff See jewesen is, der aus'n Mastkorb jeschleidert wurde und sich durch Schwimmen jerettet hat – so'n Mann jeht nich so leichte unta!«

»Also erstens –«, sagte Frau Lemke, »kannste ibahaupt nich schwimmen, zweetens biste höchstens uff'n Wilmasdorfa See jewesen und drittens biste aus'n Waschkorb, aba nich aus'n Mastkorb jefallen – so, mia komm nich mit deene Abenteia!«

»Na – nu haste dia ja Luft jemacht«, sagte Onkel Karl, »die Foljen wirste ja sehen!«

»Ick wird den lieben Jott uff die Knie danken, wenn endlich mal wat Indruck uff dia machte –«, sagte Frau Lemke, »und nu halt mir jefällichst nich mehr uff mit deene Quasseleien!«

Onkel Karl sah sie einen Augenblick starr an, dann wandte er sich stumm ab und ging aus der Gaststube. Als ihm Frau Lemke nachblickte und seinen eingezogenen Kopf und die schlaff herunterhängenden Arme bemerkte, tat er ihr plötzlich leid.

»Et is ihn villeicht doch ne Lehre«, sagte sie sich, »so konnte't ja nich mehr weitajehen mit den Mann! Det Leben is so schwer und traurig, und er hat den Kopp bloß imma voll Faxen – is doch keen kleena Junge mehr wie frieha!«

Und dann ging Frau Lemke in die Schlafstube und zog sich ihr gutes Schwarzes an – es war auch die höchste Zeit, wenn sie noch rechtzeitig zur Sprechstunde des Herrn Dr. Barth kommen wollte.

*

Als sie dann heimkehrte, sagte sie zu ihrem Manne: »Na – Jott sei Dank, det hab ick ooch jlicklich ibastanden – leicht is mia't jrade nich jeworden. Also der Bengel muß Nachhilfestunden kriejen, der Lehra hat mia da eenen jungen Kandidaten empfohlen, der det besorjen wird – ick werd nachher jleich an ihn schreiben. Und von wejen den Arrest, den muß Edwin natierlich absitzen, da helft ihn keen Jott und keen Deibel nich! Aba dia jeht det allet nischt an«, sagte sie erregt, »dia is det piepe, wah? Du sitzt da in deene Ecke und siehst dia die Weltgeschichte an, wat?«

»Ach so –«, sagte Herr Lemke, »nu fangste woll mit mia an?«

»Mit wen ha' ick denn schon anjefangt?«

Herr Lemke zog die Achseln hoch. »Wa'm sprechste denn so laut – is doch janich netich nich! Ick möchte ja bloß wissen, watte noch mit Onkel Karrel vorjehabt hast?«

»Den is's woll an die Nieren jejangen?« fragte Frau Lemke höhnisch.

»Et scheint so –«, sagte Herr Lemke, und da ihn seine Frau so ansah, als erwarte sie nähere Aufklärung, setzte er hinzu: »A's du vorhin wechjingst, mußte ick mia doch um allet kimmern, die Minna is ja zu dehmlich! Und a's ick denn nachher an'n Schenktisch kam, lach det hia mitten druff!«

Herr Lemke faßte in die Hosentasche und holte einen Schlüssel und ein Stück Papier vor. »Det is Karrels Stubenschlissel, und uff det Papier stehen lauta Anfänge von Lieda –.« Herr Lemke suchte die Bleistiftkrakelei zu lesen: »Hinaus in die Ferne, Heite muß ich fort von hier, Wandern, ach wandern, Wen Gott will rechte Gunst erweisen ...«

»Det wird seen Liedavazeichnis sind«, sagte Frau Lemke.

»Det dachte ick ooch erst, aba als ick denn bei ihn jing und die Stube uffschloß, sah ick, det er alle seene Sachen zusammenjepackt und vaschwunden wa. Nu is mia ooch so, a's wenn vorhin ne Droschke vor det Lokal jehalten hat, aba ick hab nich weita druff jeachtet, wahscheinlich hat er seene Sachen mit fortjeschafft!«

»Der kommt wieda«, sagte Frau Lemke zuversichtlich, »det wäre ja nich det erstemal, det er wechjeht, det kennen wia ja nu schon von frieha her!«

»Ick jloobe, du teischt dia diesmal«, meinte Herr Lemke, »du mußt ihn wat jesacht haben, wat ihn durch Mark und Fennich jejangen is!«

»Na – sind wia froh, det wia'n los sind«, suchte Frau Lemke sich über die aufsteigende Reue hinwegzusetzen. »Ewich konnte't doch nich mit ihn jehen!«

»Det sare nich – er hat doch janz scheen jeholfen«, sagte Herr Lemke, »mia tut's leid, denn nu vakommt er. Wenn ihn nich eena an'n Wickel hat und ihn mal zoddelt, denn valiert er die Balanze!«

»Ick jloobe ja noch janich, det er ibahaupt wech is«, sagte Frau Lemke, »ick werd jetz erst ma' in seene Kamurke nachsehen jehen!«

Als sie dann aber in Onkel Karls Stube nachforschte, konnte sie sich ebenfalls der Überzeugung nicht verschließen, daß er fortgezogen war ...


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