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»Ick hab et so jeschoben, det die Beerdjung uff'n Sonntachnachmittach stattfindet«, hatte Onkel Karl gesagt, »erstens is det feierlicha, und zweetens hätt ick die ›Blaue Kaffeetiete‹ sonst nich zusammengekricht. Det Dirijieren muß ick sowieso ibanehmen, denn der Herr Hahn is spurlos vaschwunden. Den haben se wahrscheinlich injespunnt wejen Bauschwindel. Aba ick hab mia ne Stimmjabel jekooft, da wird't schon jehen.«
Und in der Zeit, da Onkel Karl gerade keine Besorgungen zu erledigen hatte, hörte man, wie er sich in seiner Stube einübte; außer einigen leichteren Chorälen probierte er auch: »Wie sie so sanft ruhen«, und am Sonnabend versammelte er den Gesangverein hinten im Garten und hielt eine Probe ab. Mit dem Erfolg war er sehr zufrieden, denn die Leute blieben draußen am Gartenzaun stehen und erkundigten sich, wer denn hier gestorben sei.
Am Sonntagvormittag brachte er dann schöngeschriebene Plakate am Eingang des Bierlokals an: »Wejen Todesfall heite jeschlossen. Morjen wird wieder aufjemacht!!!« Dann – da die Familie Lemke schon nach dem Trauerhause gefahren war – gab er Minna, dem Dienstmädchen, die nötigen Instruktionen und machte sich endlich an seine Toilette.
Es war auch höchste Zeit, denn kaum daß er mit dem ungewohnten Oberhemd zustande gekommen war, trafen die Mitglieder des Gesangvereins ein. Nachdem sie sich gestärkt, rückten sie unter Führung Onkel Karls in geschlossenem Zuge ab.
Man hatte ihn schon mit großer Sehnsucht erwartet. »Bloß jut, dette da bist«, begrüßte ihn Frau Lemke in höchster Aufregung, »du hast ja keenen Menschen Bescheed jesacht – wo bleibt denn der Leichenwaren und die Kutschen?«
»Is der noch nich da? – Und ick hatte doch anjeordnet, det er mindestens ne halbe Stunde frieha vor't Haus halten soll«, sagte Onkel Karl. »Nu laß mia ma' machen und rede mia nich mang! Ibrijens, wat schimfste denn – da fahren se ja jrade vor. Wenn ick wat ibanehme, denn mach ick's prompt und sauba, det sollste nu nachjrade schon wissen!«
Und dann ging er in die gute Stube, um die Trauerversammlung zu begrüßen. Sein Benehmen war ein derartiges, daß sich alle verpflichtet fühlten, ihm besonders herzlich zu kondolieren.
»Et is een unasetzlicha Valust«, sagte Onkel Karl zu jedem, der ihm die Hand drückte, »aba man derf nich den Kopp valieren!«
»Wat haste dia denn so – et is doch janich deene Jroßmutta –«, sagte Tante Marie mißbilligend. Auch die Lemkes aus Wilmersdorf und Tempelhof sahen mit wachsendem Mißtrauen Onkel Karls Gebaren an – unzweifelhaft hielten sie ihn für einen raffinierten Erbschleicher. Er aber hatte jetzt gar keine Zeit mehr, sich um die Gesinnung der Anwesenden zu kümmern, sondern winkte dem Verein »Blaue Kaffeetiete«, dessen Mitglieder sich in dem engen Korridor drängelten und lange Hälse machten.
Aber da bahnte sich in ihrer alten energischen Weise Frau Anna Lemke einen Weg, faßte Onkel Karl, der gerade die Stimmgabel an dem Sarge anschlagen wollte, beim Ärmel und sagte drohend: »Karrel, Karrel – biste denn varickt! Det is doch keene Jeburtstagsfeier nich, det ihr eich hia produzieren werd't – uff die Stelle scherste dia raus mit deene Bande, und denn marschierste ab!«
Und bei dieser energischen Sprache, die Onkel Karl und alle Mitglieder des Gesangvereins noch aus der Zeit der »unterirdischen Tante« kannten, war an keinen Widerspruch zu denken. Onkel Karl wich kleinlaut zurück und trieb wie ein Keil seine Leute in den Korridor hinein.
»Denn det kenne ick schon«, sagte Frau Lemke, gleichsam als Entschuldigung ihres heftigen Wesens, »den Rummel kenne ick schon. Wenn die erst ma' anjefangen, hätten se den janzen Liedakranz durchjesungen – und et wird doch nu nachjerade Zeit, det die Leiche unta die Erde kommt!«
Alle gaben ihr recht, und als dann die Träger erschienen und den Sarg auf den Wagen schafften, ließ man Frau Lemke unwillkürlich den Vortritt.
Vor dem Hause war es schwarz von Menschen, und wenn Onkel Karl nicht auf die gute Idee gekommen wäre, mit dem Gesangverein Spalier zu bilden, hätten die Träger kaum den Wagen erreichen können. Beim Anblick des alten Herrn Lemke – der vor Trauer und Schmerz ganz hinfällig war und von seinem Sohn geführt werden mußte – zogen die Leute respektvoll den Hut. Da Großvater dies aber gar nicht beachtete, hielt es Onkel Karl für seine Pflicht, die Grüße durch Zylinderschwenken zu erwidern.
Und dann setzte sich der Leichenwagen in Bewegung, die Mitglieder des Gesangvereins ordneten sich zu zwei und zwei, damit der Zug etwas länger erschien, die Kutschen fuhren vor und schlossen sich an – langsam ging's die Hauptstraße hinunter, den Berg hinauf zum alten Schöneberger Kirchhof.
Vor dem Portal hatten sich all die vielen Bekannten versammelt, die die Verstorbene von ihrer Glanzzeit her noch in Erinnerung hatten, von jenen schönen Tagen, da sie, rüstig und rotbackig, in dem großen Weißbiergarten gewirtschaftet hatte. Und so mancher schloß sich dem Zuge an, wenn es auch ganz aussichtslos war, daß er noch in der kleinen Leichenhalle Platz finden werde.
Dort, in der Mitte vor dem Altar, stand der mit Blumen und Kränzen überschüttete Sarg. Aller Blicke waren darauf gerichtet – bis dann der Geistliche erschien und seine ernste, feierliche Stimme durch den Raum klang.
Onkel Karl hatte sich hinausgeschlichen und entschuldigte sich bei den vor der Halle wartenden Leichenträgern damit, daß es ihm sonst »schlecht« geworden wäre. »Ick kann nich«, sagte er gepreßt, »ick krieje bei sonne feierlichen Mommangs imma so'n Knoten in'n Hals, det ick noch mal asticken werde. Ick werde lieberst jehen und sehen, wo ick mit meen'n Vaein nachher Uffstellung nehme; wenn man det Terräng nich jenau kennt, kann man leicht 'n Fehla machen.«
Und dann verschwand er zwischen den grünen Büschen und weißen Marmorkreuzen. In dem Augenblick, da sich die Tür der Halle öffnete und der Sarg hinausgetragen wurde, tauchte Onkel Karl wieder auf und winkte seinen Vereinsbrüdern.
»Kommt, ick führ eich, wir jehen hier den Nebenjang lang, denn sind wia eha da a's die annern. Ick hab inzwischen ausjeprobt, wo die beste Akkustike is – da stellen wia uns uff, und denn los – denn singen wia – und hören nich uff, als bis wia fertich sind!«
Und da Onkel seine ganze Energie zur Durchführung dieses Vorhabens einsetzte, gelang es dem Verein »Blaue Kaffeetiete«, sich doch noch Gehör zu verschaffen. Als der Sarg an den weißen Bändern in die Erde gelassen wurde und sich die tiefe Ergriffenheit der Versammlung durch Räuspern, Schluchzen und Schnauben bemerkbar machte, hörte man plötzlich das Kommando: »Eens – zwee – drei – los!« Gleich darauf klang es feierlich und getragen über den Kirchhof hin: »Wenn ich einmal soll schei–den ...«
Und während dieses Vortrages kamen alle Anwesenden zu der Überzeugung, daß Onkel Karl seine Sache sehr gut machte.
»Et hört sich wirklich an wie in ne Kirche«, sagte Onkel August, der Fischhändler, der mit seiner Frau, der Tante Liese, etwas in den Hintergrund geraten war. »Wirklich – sehr scheen, ick hatte erst sonne Wut uff Karrel, weil er sich bei alle Jelejenheeten imma in'n Vordajrund drängelt, aba nu wird mia janz feialich!«
»Mia ooch –«, schluchzte Tante Liese, »bei meen Bejräbnis laßt ihn man freie Hand – da – soll – der Vaein – ooch kommen!«
Nun verklang auch – ein wenig zu lang gezogen – der letzte Vers des Chorals. Onkel Karl machte eine Art Verbeugung, wischte sich mit dem roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn und begann – damit sie nicht roste – sofort die Stimmgabel zu polieren.
Inzwischen war der Geistliche auf die Bretter gestiegen, die die Grube umgaben.
»Von Erde bist du – und sollst wieder zu Erde werden –«, klang es durch die Sommerluft in das Rauschen der Bäume, in das Zwitschern der Vögel hinein. Und das unabwendbare Gesetz, das die alten Worte verkündeten, machte stumm und resigniert.
Aber als dann Großvaters Gestalt auftauchte und man sah, wie er schmerzüberwältigt die drei Hände Sand in die Grube streute, hörte man jähes Aufschluchzen und lautes Weinen.